Oktober 2023 – Kinderwelt

Neben mir im Ikea Restaurant, zwei Schülerinnen, ca. 15. Eine bekommt eine Nachricht aufs Hand. Von der Schule. Sie soll nicht kommen, Amokalarm, ein verdächtiger Schüler lief auf dem Gelände herum, die nächsten zwei Tage ist keine Schule. „Klassenarbeit fällt aus!“ jubelt sie. Die Freundin ihr gegenüber: „Fick dich.“ 

Sie erzählt, was man machen muss, bei Amok, in den Räumen bleiben, auf den Boden legen, in der Schule gibt es drei Stockwerke, einen Keller, da und dort sind die Notausgänge. Sie kennt sich aus. Es gab ein Training. Bombenalarm und Amok hatten wir schon, sagt sie. Bombe einmal in der Grundschule. 

Ein Anruf. Wieder die Schule. Sie muss in eine andere Schule für die nächsten Tage, irgendwo in Neukölln. Bummer! Die Freundin futtert ihr Hühnchen-Gericht. Sie hat die Arme schwer zerschnitten, eine Schneiderin, tiefe Narben im Unterarm. 

Kinder, was für eine Kinderwelt. 

Oktober 2023 – Buch

Sie streicht, ohne den Blick von den Buchstaben zu lassen, mit dem Daumen am unteren Rand des aufgeschlagenen Buches entlang, um zu spüren,

wieviel sie schon gelesen hat,

und wieviel noch kommt.

Ist das Buch mühsam oder ist es toll zu lesen? 

Wackel September 2023 

Okay, diesmal: 

Eine Krähe frisst die Eingeweide einer toten Ratte. Mein Würgreflex macht sich bemerkbar.  

Oktober 2023 – Wespe

Eine Wespe setzt sich auf U.s hellgraue Jacke, die auf dem Tisch im Café liegt. Ich beobachte sie, wie ich diesen Sommer oft Wespen beobachtet habe. Kürzlich hat sich eine bei mir auf den Unterarm gesetzt. Sie hat einen Tropfen Wasser entdeckt, der dort vom Baden noch lag. Sie ist darauf zu gekrabbelt und hat ihn getrunken. Das war wunderschön. Ich hab mir vorgestellt, wie er aus ihrer Perspektive ausgesehen haben muss.

Die Wespe auf Us Jacke sieht wie alle Wespen seltsam aus, diese superdünne Sollbruchstelle in der Mitte, gruselig. Plötzlich reckt sie sich seltsam, die Bewegung kommt mir bekannt vor, tausend Mal hab ich sie gesehen, bei Mensch und Tier, so ein breitbeinig spreizige Bewegung, so ein Aufrichten des Rumpfes, und plötzlich fällt aus dem spitzen Ende ihres Körpers ein hellbraun-graues Kügelchen auf die Jacke. Ich bin verblüfft. Wespenkacke! Sowas hab ich noch nicht gesehen. Die Wespe entfernt sich umgehend. Das Krümelchen bleibt. Es ist winzig und unauffällig, aber eben doch ein sichtbares Krümelchen, dass ich mich frage, wie oft ich schon Wespen-Shit auf dem T-Shirt, in den Haaren und im Essen hatte, ohne es zu bemerken. Aber klar, auch ne Wespe verdaut. 

September 2023 – GenX vs Boomer

Ich schnappe einen Fernseh-Schnipsel auf. Talkshow. Eine ältere Frau (besetzt für die Rolle des Boomers) und eine junge Frau (besetzt für die Rolle der GenX) sitzen in ihren Sesseln an den äußeren Rändern der Sitzreihe. Die Boomerin faucht rüber:

Mädchen, ohne mich würdest du gar nicht hier sitzen! 

Sie hat so recht.

Aber so gehts natürlich auch nicht. 

September 2023 – die Geräusche

Sie werden in unseren Ruinen nisten

und auf unseren Balkonen schlafen

Gras wird über uns gewachsen sein

das sie grasen werden

Sie werden unsere Dächer besiedeln, 

unsere Wohnungen, Straßen und Läden. 

Die Höhlen, die wir geschlagen haben

werden ihre sein.

Wir werden verbrannt sein verdurstet überflutet erlegen 

wir werden ihr Leib werden, ihre Fäkalie

von ihren Kämpfen werden wir 

keine Ahnung haben. 

Die Geräusche

werden andere sein.

September 2023 – dissoziiert

Kürzlich folgende Situation: Ich will zu einem Treffen, viele Leute werden dort sein, ich hab Lust darauf, ich hab anderen davon erzählt, ich bin aufgeregt, ich kenn noch niemanden dort, ich stelle mir vor, wie ich jemanden kennen lerne, den ich nett finde, mit dem ich sprechen kann, es wird gut tun, nicht so viel allein zu sein, alles wird gut, dort sind Menschen, die die gleichen Themen haben in ihrem Job, es ist wichtig, sozial zu sein, sich da hin zu bringen, zu diesem Treffen, auch wenn man Angst hat. 

Ich mache mich auf den Weg. Ich komme am verabredeten Ort an, ich suche die Gruppe. Ich sehe eine Gruppe von Leuten draußen vor der Kneipe und frage mich, ob sie das sind. Ich gehe rein, in die Kneipe, vielleicht sind die ja drinnen, ich hatte es so verstanden, aber drinnen ist es sehr eng und klein, da ist niemand. Dann müssen die das wohl sein, aber es gibt noch andere Gruppen, die da drüben? Ich checke die Leute, eher nicht, also doch die, ich laufe in Richtung der Gruppe, ich überlege mir im Kopf, was ich sage, scanne die Gruppe, wen spreche ich an, diese Frau, den Mann, die Gruppe ist kleiner als gedacht, die Leute sitzen um eine Bierbank herum, sie sprechen miteinander, bei wem bleibe ich stehen, ein paar Leute sehen mich an, ich laufe hier schon zum zweiten Mal vorbei, schaue mich suchend um, ich geh da jetzt hin, ich gehe da jetzt hin, ich spreche die jetzt an

– ich gehe an der Gruppe vorbei.

Ich gehe weiter, schneller, ich bin weg. Ich bin gegangen. In mir Aufruhr. Das gabs noch nie. In diesem Ausmaß. Ich habe Gruppen ganz sicher schon oft gemieden, vermieden, bin auf dem Absatz umgedreht, weil Besser nicht, ich schaffs nicht gewonnen hat, ich bin auch schon in Gruppen gesessen und offensichtlich verhaltensauffällig verstummt, habe nichts gegessen, mich aufgelöst. Aber diese Menschen haben mich gesehen, wie soll ich ihnen beim nächsten Mal unter die Augen treten, und es wird nächste Male geben, zumindest mit einzelnen von ihnen, was soll ich sagen, wenn sie mich wiedererkennen, wie kann ich das Wegflunkern, wie big müsste diese Ausrede sein? Ich habe mir vor diesen Menschen die Augen zugehalten und wie ein Kleinkind gesagt: Ich bin nicht da.

Ich mache mir Sorgen um mich. 

G. sagt, das ist nicht so schlimm. 

Ich glaube schon. 

August 2023 – Coworking in Brandenburg 

RE7 Richtung Dessau. Unter der Woche, erstaunlich voll. Erstmal blute ich ab Höhe Wannsee den Zug voll: Nase. War die letzten Tage erkältet. Handy, Geldbeutel, Hände, Armreif, Buch, Tisch, Armlehne, alles voll mit roten Tropfen plus splashs drumherum. Eine Freude für jeden Ballistiker. Die Laptop-Frau mir gegenüber tut, als sehe sie nichts. Ich bin ihr dankbar. 

Ich krame nach einem Taschentuch, dafür muss ich die Nase loslassen, jetzt ist auch noch die frisch angezogene Hose voll. Ich drücke und versuche mit kühlem Wasser, das ich am Bahnhof gekauft habe, die Blutung zu stoppen. Klemme und klettere mich durch bis aufs Klo, die Leute stehen und sitzen im Gang rum. Die Zugführerin fragt netterweise, ob ich Unterstützung brauche, eine Frau mit etwa 5jähriger Tochter gibt mir ein Taschentuch und sagt, manchmal hilft es, das unter die Zunge zu legen. (Diesen Tipp hab ich von allen echt noch nicht gehört, probier ich aber erst das nächste Mal.) Das erste Klo ist besetzt, im zweiten geht das Wasser nicht. Dafür gibts Papier. 

Es hört ewig nicht auf, an Lesen ist nicht mehr zu denken, ich bin mit Papier auf die Nase drücken und hoffen, dass ich bald da bin, beschäftigt. 

Bus 555. Ich bin die einzige Mitfahrerin, talke ein bisschen mit dem Bussifahrer, Bussi indeed, er ist 70, wie er mir stolz verrät, der Bus wird von einem Verein betrieben, sie sind alle Rentner, im Moment elf, das reicht gerade so, aber sie suchen wieder – ich mach mir wie immer bei offenen Stellen gleich mal ein bookmark hinter die Ohren. Bussifahrerin in Brandenburg, falls es mit dem Schreiben nicht klappt.

Weil sie auch Rufbus machen, frage ich ihn, wie das funktioniert, ob ihn da die Zentrale anruft oder so. Krieg ich alles hier drauf, er zeigt auf das Display vor sich, hier ist der ganze Plan. Cool. Er wirkt happy. Der Bus ist aber auch echt cute, acht großzügige Plätze. Ich frage, wie viele sie haben, das versteht er erst gar nicht. Na, einen! Die sind teuer! Wir fahren Bad Belzig Krankenhaus, Bad Belzig Marktplatz, wirkt alles recht pretty, kann man mal ins Eiscafé. Dann raus: Landstraße. Felder links rechts, Ortsschild Klein Glien. Das Haus da vorne ist es, sagt er, wenn sie dahin wollen? Will ich. 

Arbeiten im Garten. 

Grashüpfer. Fällt mich plötzlich von rechts an. Sitzt auf meiner Schulter. Bemerkt, erschrocken wie ich, den Irrtum, hüpft auf den Stuhl neben mir. Verarbeitet kurz. Von da aus weiter. Schmeißfliege. Sehr strange, fett, mit gelbem Kopf, noch nie gesehen, setzt sich auf nackten Oberarm. Weiter. 

Wie sie alle mal vorbeikommen. 

Rechts drei Falter, mausgrau vor weißer Hauswand, die sich allerliebst umtanzen, ein Schelm, wer nicht an Disney denkt.   

August 2023 – Schöne Frauen

Schöne Frauen lösen Sehnsucht in mir aus. 

Schöne Frauen sind nicht schön. Eher apart oder besonders oder gut gekleidet. Gut gekleidet spielt überhaupt eine wichtige Rolle bei schönen Frauen. Schöne Frauen sind jung oder alt. Die Sehnsucht nach ihnen ist leise und unbestimmt. Ein melancholisches Ziehen. Was ist das? 

Es ist nicht so, dass ich die Strecke bis da drüben, bis dorthin, wo die schöne Frau sitzt, steht oder lehnt, zuhört oder gestikuliert, gerne überbrücken würde. Dann wär das Ziehen weg. Dort, wo sie sitzt oder steht, sitzt oder steht sie gut. 

Ich wäre ihr nur gern nah. Ich wäre nur gerne wie sie. Ich wäre gerne eine schöne Frau, alles wäre leichter. Es ist mir nicht gegeben. So zu sein wie sie. Das ist es, wonach ich mich sehne. Die schöne Frau ist eine Möglichkeit, eine der vielen Möglichkeiten. Zu sein. Wie sie. 

Ich sehe sie und sehne mich. Ich sehe sie, wie ein Mann sie sieht, ich sehe, wie ein Mann sie sieht, ich sehe, wie ein Mann sie sehen könnte. So wie ich. Ich betrachte die schöne Frau. Ich schau nach ihr, immer wieder. Heimlich. Verstohlen, hole ich mir etwas von ihr, ihrer Idee. 

Wenn ich nur bei ihr wäre, in ihrer Nähe, ihr nah. Dann wäre ich gesünder, es ginge mir besser, man hätte es leicht mit mir, so schön wäre ich, so leicht. Ich wäre aufgehoben. Im Club der schönen Frauen. Ein Club, der da ist, auch wenn er sich nicht trifft. Die schönen Frauen sind allein. Sie brauchen niemanden. Sie sind mit anderen, aber sie brauchen niemanden. Ich sehne mich nach ihrer Ruhe, ihren Gedanken, ihrem Wissen, ihrer Balance, ihrer Autarkie. Ich sehne mich nach ihnen wie nach einem anderen Ich. Nach einer Freundin. Einer Mutter. Meine Sehnsucht ist die nach einer Mutter. Einer schönen, klugen, starken, selbständigen Frauen-Mutter. Eine Sehnsucht nach einem Bild vor mir, einem Vor Bild. Nach einer Mutter als Ort. Eine Mutter, die dort drüben steht und lehnt und gestikuliert. Eine Mutter, die frei ist und verbunden. Mit mir, mit anderen. Es ist diese Sehnsucht, die tief in mir vergraben ist, die sich über eine Leerstelle beugt, wie eine Brücke über einen tief unten liegenden See.

August 2023 – Schlägerei im Freibad

Super annoying wie der Rassismus-Trick es mal wieder schafft, dass es nicht um das geht, worum es geht. Fakt ist doch, da macht jemand öffentliche Räume kaputt, Gemeingut, Allmende. Räume, die für alle da sind, die wir uns teilen, die eine Form von Kultur und Bildung und Lebensqualität ermöglichen, die aus Steuern bezahlt wurden, Geld also, das wir ausgegeben haben, damit diese Räume da sein können. Bibliotheken, Bushaltestellen, Sitzbänke, Spielplätze, Parks! Räume, die ständig bedroht sind, weil noch jede Partei an der Macht es geschafft hat, sie kaputt zu sparen, sie so lange verfallen, verfaulen, verschimmeln, vertrocknen zu lassen, sie zu desorganisieren, mit Verachtung zu strafen, sie im Stich zu lassen, sie als Spielball für ihre politischen Zwecke zu nutzen, um sie dann zu verteuern, zu schließen oder – all time classic – an einen Investor zu verkaufen. Weil der Bürger ja die FREIHEIT haben soll, ins 25-Euro-Spaßbad zu gehen. Wo ist die Linke, wo sind die Grünen, wo von mir aus die doofe SPD, hat denn keiner die Eier einfach mal zu sagen, das geht nicht, dass jemand diese Räume angreift. Muss das dem CDU-Typ, dem Pächter und Wächter der Ressentimens überlassen werden, der das im Gestus des Big Aufräumers macht, des Law-and Order-Mackers, des Werte-Vertreters. Sorry, warum macht ihr das nicht? Einfach mal sagen, mit Schlägereien Angst und Schrecken verbreiten, Kinder und Erwachsene einer ausschließenden, gewaltvollen Atmosphäre aussetzen, sogar einer Gefahr, das Freibad in Verruf bringen, sodass sich keiner mehr hintraut, das geht gar nicht, das ist nicht gemeinschaftlich, nicht sozial, nicht solidarisch gedacht, und das ist ein Wert, den wir vertreten und den lassen wir uns nicht von den Ressentiment-Geiern wegnehmen, verdrehen, umschreiben? Und ja, uiuiui, wer wagts zu sagen, klar muss das bestraft werden. Schwimmbad is dann eben nich mehr diesen Sommer, hast du dir verkackt, oder mach ma dreimal Eispapier-Aufsammeln oder Rasen mähen oder Becken säubern, dann kannst du wieder rein. Und überhaupt, wieso macht keiner mal eine Bemerkung über Steuern, wieso kann man das nicht links stark machen, anders besetzen  – das ist Geld für die Gemeinschaft, das ist Geld für Gehwege und Zebrastreifen und Kitas und Brunnen und Mülleimer und Parks, das ist Geld, das für uns da ist, für die Gemeinschaft in der wir leben und deshalb kann man auch Respekt und Rücksicht dafür einfordern, von der Politik und von allen. Schietegal übrigens, ob man diese Einrichtungen nutzt oder nicht (noch so ein Nerv-Argument, ich geh nie ins Freibad, ich fahr immer an den See … Was heißt das, Freibad schließen is mir egal?). Immer rennt man hinterher, wenn einem die Gegenseite den Rassismus-Knochen hinwirft, sodass man sich dann im Abgrenzungsmodus daran abarbeitet, statt das Freibad-Thema selbst zu besetzen?

August 2023 – Die Löwin

 Die Löwin ist ein Wildschwein. Ich bin, wie alle, enttäuscht. So herrlich wärs gewesen. Tagelang noch nämlich, hätte die Löwin die Polizei an der Nase herumgeführt. Sich hinter Mülltonnen, in Parks und auf Bäumen versteckt. Ihre Spuren hinterlassen in Hauseingängen, vor Spätis, in Gartenkolonien. Hier sieht man deutlich, hat sie sich gekratzt, hier hat sie geschlafen, nach Löwinnenart. Bestimmt wäre sie bis Neukölln oder Kreuzberg gekommen. Auf dem Weg hätte sie einen Hund gefressen, einen Dackel. Oder einen Chihuahua. Bestimmt hätte sie ein Kind angefallen oder einen Rentner oder wäre zumindest sehr nahe an einem Spielplatz vorbeigekommen oder direkt vor einem Seniorenheim von einer Bewohnerin mit dem iphone gefilmt worden. Und ganz sicher  hätte sie am Ende einem Clan-Chef gehört. Der die ganze Zeit nicht die Eier gehabt hat, den Ausbruch der illegalen Löwin aus seiner dekadenten Luxusvilla der Polizei zu melden. Einer Villa, wie wir gesehen hätten, voller weißer Kunstledersofa-Landschaften und mannshoher Porzellan-Löwinnen und Frauen mit Lippen und Fingernägeln vollgestopft war. Ein Clan-Chef, der endlich in den Knast gekommen wäre, nun absurderweise wegen unangemeldeter und nicht artgerechter Löwinnen-Haltung, nachdem ihm wegen Drogen, Immobilien und Zwangsprostitution jahrelang keiner was anhaben konnte. Bestimmt hätte ein Polizeibeamter am Ende das Feuer auf die Löwin eröffnet und sie erschossen, der Spacko! Intern hätte er dafür eine Urkunde und einen neuen Computer bekommen, aber erstmal hätte er vorübergehend untertauchen müssen. Um Shitstorm und Morddrohungen zu entgehen, weil er das edle Wildtier erledigt hat. Statt den Jäger, plötzlich als Tierversteher erkannt und gefeiert, ranzulassen, der der Raubkatze eine sanfte Betäubungsspritze in den Hintern verpasst hätte, wenn auch nicht aus Johanniskraut-Extrakt wie von anderen Tierverstehern empfohlen. Um die Löwin dann schonend in den Zoo zu transportieren, wo sie glücklich und von den Berlinern in all ihrer schnauzigen Herzlichkeit geliebt, und nach einem Namensvorschlags—Wettbewerb der Morgenpost Leonie genannt, im Eigenuringestank des Löwengeheges bis an ihr Lebensende gelebt hätte und darüber hinaus als Präparat im Naturkundemuseum. 

Oder: Es wäre klar geworden, dass die Löwin aufgrund des Klimawandels ihre Heimat verlassen hat und auf der verzweifelten Suche nach Nahrung und einem sicheren Ort, um ihr Kind zu gebären (neues Video enthüllt: Löwin schwanger!), bis nach Deutschland gewandert ist und es sein kann, dass wir uns darauf einstellen müssten, dass sie nicht die letzte gewesen sein wird. Und überhaupt auch möglicherweise der Vater des Kindes noch irgendwo rumläuft! 

Egal was, alles wäre besser gewesen als: Ein Wildschwein. 

Vor allem für den RBB, der endlich mal alles hätte vergessen können, was ihn in letzter Zeit so belastet hat, der, nicht wie jetzt nur in Ansätzen, sondern Twentyfourseven zu seiner eigentlichen Aufgabe hätte zurückfinden können, der Vor-Ort-Berichterstattung. Im bewährten Konzept von Information als Redundanz, wenn es keine Information gibt, ist das die Information, wenn es keine Geschichte gibt, hätte es eine geben können oder wird es möglicherweise noch eine geben (Wir stehen hier vor dem Baum, auf dem die Löwin zuletzt gesehen worden sein soll.) Wir hätten erleben können, wie Unser-Reporter-vor-Ort, ein junger Mann oder eine junge Frau, bisher beim Sender nicht groß in Erscheinung getreten, nun non stop und live vor der Kamera an den Herausforderungen der erforderlichen Spontaneität wächst, aufblüht geradezu, sympathisch wird in der persönlichen Verausgabung der auch noch nachts und in den frühen Morgenstunden vorgetragenen Berichterstattung, während andere Leute in seinem Alter im Club sind. Der an Orten steht, vor Hintergründen, aus denen jederzeit die Löwin hervorspringen könnte, um den talentierten, sich für uns ins Risiko begebenden Jung-Reporter vor unser aller Augen anzufallen, und der, nach Abklingen der Löwinnen-Geschichte von einem Privatsender zunächst für die Morning-Show, dann für die Kriegsberichterstattung aus einem abendfüllenden Krisengebiet abgeworben werden wird, wie also obendrein noch der Bewährungsprobe eines jungen Menschen und dem Beginn einer wundervollen Karriere beigewohnt haben. Aber nein. Eine schnöde Wildsau musste es sein. Dennoch: Es bleiben Fragen. Warum dauert eine Bildanalyse bei der Berliner Polizei eigentlich so lange? Warum eine Haaranalyse noch länger? CSI, Berlin, hallo! Also wenn die immer so lange brauchen, wenn was wichtig ist, dann gute Nacht. Typisch B. Da macht man doch auch mal  Überstunden im Haaranalyse-Raum, wenn was Priorität hat, das kann man ja wohl erwarten, dass sich da mal jemand die Nacht um die Ohren schlägt, sowas ist doch  Chefsache!

Ach, seufz. 

Und was ist jetzt eigentlich mit dem Wildschwein? Um das kümmert sich natürlich mal wieder keiner. Denn dass das normal ist, kann einem doch auch keiner erzählen, dass die Wildschweine jetzt aussehen wie Löwen. 

Na gut. 

Dann eben wieder Ukraine und Ampel. 

August 2023 – wie Weihnachten

Der Sommer fühlt sich an wie Weihnachten. Alle sind weg, das Wetter ist mies und mein Plan zuhause zu bleiben und Berlin zu genießen, fühlt sich an wie eine selbst gebaute Depressionsfalle ohne challenge-Charakter, idiotisch,

abgehängt, ausgebremst, selber Schuld.

August 2023 – Regen, non stop

Wenn noch einmal jemand sagt, aber für die Pflanzen ists ja gut, fang ich an zu schreien. Ich bin auch ne Pflanze, ich brauch Sonne! Das ist doch gleich schon wieder alles zu Ende, dann muss ich wieder Monate lang aushalten, bis die Wärme kommt!

August 2023 – Medis

Es kann doch nicht sein, dass es kein Medikament gibt, das mich aus der Depression rausholt, irgend so eine happy pill, von der man ständig liest, wie es sie in den USA gibt. Typisch, dass die Deutschen sowas nicht verschreiben, evangelische Arschklemmer. Die Psychiater bei Doctolib sehen aus wie Kinderschänder und sind nur auf Privatzahlbasis. 

Juli 2023 – Barbie

Die heimliche Hauptfigur in Barbie ist Ken. Er ist die eigentlich interessante Figur in dieser Geschichte. Zusammen mit den anderen Kens, diesem sich selbst kommentierenden griechischen Chor, seiner GANG, der gesamten MANNSCHAFT, bringt er die Geschichte in den Film, die wir noch nicht kennen, die in die Zukunft weist, die Fragen aufmacht. Die andere Geschichte, die um Barbie, kennen wir – nicht zu Genüge, beileibe nicht, dazu sind noch immer zu viele überrascht oder wollen sie einfach partout nicht hören. Barbie erzählt vom klassischen Dilemma des Frauseins in a mans mans world und dem Versuch, sich in ihr zu emanzipieren – manchmal etwas zu sehr auf die Zwölf durchverbalisiert von der von America Ferrara gespielten Figur Gloria, manchmal etwas zu hollywoodig verkitscht und Matell getönt in der Mutter-Tochter-Beziehung in Barbies Begegnung mit ihrer Schöpferin. Vor allem aber erzählt der Film herrlich trocken und doch warm, mit großem Spaß an Popkultur, in der er sich verspielt und unbekümmert bewegt. In ADHsartiger Geschwindigkeit feuert Barbie Ideen, Gags und Punchlines ab, lässt Szenenbild und Kostüm Feste feiern und verliert trotz aller Blockbuster-Qualität nie den Indie-Ton mit Mumble-Core-Bezügen (Alter, was hier gequatscht wird!), wie man es von Greta Gerwig und Noah Baumbach erwartet hat. 

Auch der Plot bleibt Anti. Zwischendurch, wenn man dem Drehbuch bei der Arbeit zuschaut, stellt sich klassisch die Frage, wie kommen sie denn da wieder raus? Jedoch nicht, weil sie in einer Höhle stecken und das Wasser steigt, sondern weil das Buch einen argumentativen Punkt macht und dem Thema als nächstes einen weiteren Aspekt hinzufügen oder einen Vorschlag machen wird, wie dieses ganze gender-Dilemma denn nun zu sehen oder gar zu lösen sein könnte. Barbie bleibt komplex. 

Also zu Ken. Ken ist lost. Ken weiß nicht, was er soll, er weiß nicht, wozu er da ist. Niemand weiß es und Barbie nun ganz sicher nicht. Die ist ganz bei sich und in ihrer professionellen sisterhood zuhause. Ken ist der Mann in der Krise. Er definiert sich über eine Frau, für die er keine Rolle spielt, die ihn nicht braucht. Ken weiß nichts über sich, er hat keine Idee davon, wie er sein könnte, nicht, wie er sein möchte. Ryan Gosling spielt ihn in seiner ganzen anrührenden Bandbreite, wütend und verspielt, hilflos und depressiv, trotzig und gekränkt, selbstüberhöhend und größenwahnsinnig. Ken verliert sich in seinen Jungs-Wettbewerben, wird der Boss seiner Mannen, baut das dickste Haus am Platze und ist am Ende für Barbie, die längst alles ist und alles sein kann, doch immer nur: Just Ken. Aber Ken ist nicht einfach nur Ken, wie der Claim auf den Plakaten lautet, er hat ein größeres Problem. Ken ist die neue Frau. Er muss raus aus der Fremdbestimmung, er muss aufhören, sich über die Frau zu definieren, die ist längst über alle Berge. Er muss sich von den Zuschreibungen emanzipieren, die man ihm, die er sich auferlegt hat. 

Ken ist eine Leerstelle. Er ist eine Frage, die sich stellt. Eine Frage, die der Film zu seinem Ende hin stellt, aktuell und weitsichtig, an alle Kens da draußen. Wer seid ihr, wer seid ihr wirklich, tief in euerm Inneren, welche Idee habt ihr von euch, wie wollt ihr sein? Fangt an, über euch nachzudenken, konzentriert euch auf euch, bildet Musicalgruppen und macht euer Ding. Wie das geht, könnt bei uns abgucken, wir machen das seit Jahrhunderten. 

Juli 2023 – Twitter heißt jetzt X

Heute morgen guck ich auf mein Handy, da ist es passiert. Twitter heißt jetzt X. 

Das X sieht aus wie ne Mischung aus dem russischen Z und nem Hakenkreuz, weiß, auf schwarzem Grund. 

Ich glaub, der Musk hat Großes mit uns vor. 

Juli 2023 – gleichgültig

Alles ist gleich gültig. 

Alles ist gleich ungültig. 

Alles ist gleich. Nicht gleich hoch, nicht gleich tief,

gleich. 

Alles zieht gleich an mir vorüber. Menschen, Tiere, Sensationen. Alles gleich bekannt. 

Ich bin gleich da. 

Vielleicht gleich nicht mehr.  

Es ist mir gleich. 

Ist es das?

Juli 2023 – Fuchs

Ein Fuchs isst Pommes vor meiner Haustür. 

J. entdeckt ihn, euphorisch. Ich seltsam abgebrüht. Früher hätte er mir den Atem geraubt. Was ist nur los. 

Juli 2023 – unsichtbar

Auf die Frage, welchen Superskill ich bevorzugen würde, fliegen können oder unsichtbar sein, antworte ich, natürlich, mit unsichtbar sein. Meine Liebe zum Beobachten von Situationen einerseits und meine soziale Angst andererseits, legen diesen Wunsch nahe.

Als ich ein Kind war, hat einmal ein Erwachsener in Anwesenheit meines Vaters über mich gesagt, ich sei ja sehr schüchtern. Ja, hat mein Vater gesagt, aber wer schüchtern ist, träumt eigentlich davon, im Mittelpunkt zu stehen. Das war ein erstaunlicher Moment für mich. Ein Moment von Erkenntnis. Zum einen der Erkenntnis, dass mein Vater mich gesehen hatte, dass er etwas von mir verstanden hatte, und zum anderen, dass sich hinter der, mit unangenehmen, ja, quälenden Gefühlen verbundenen Schüchternheit etwas anderes verbergen könnte. Diese Art von Erkenntnis löst die Schüchternheit nicht auf, sie bringt nur ein wenig Licht ins System. 

Ich habe die Situation auch als schamvoll in Erinnerung. Sowohl in der äußeren Bemerkung, als auch in der Bemerkung meines Vaters, schwingt Kritik mit. Schüchtern sein ist in beiden Bemerkungen als defizitär markiert, als Verhalten, das den Erwartungen und Wünschen nicht so recht entspricht, an dem gearbeitet werden muss und, in der Bemerkung meines Vaters, zusätzlich als etwas Unehrenhaftes, als Versuch, die Wahrheit, nämlich einen narzisstischen Wunsch (im Mittelpunkt zu stehen), zu verschleiern, zu verbergen, und damit ihn, aber auch mich selbst zu betrügen. Ich habe mich gesehen (geschmeichelt) und entblößt (beschämt) gefühlt gleichermaßen. 

Ich bin tatsächlich oft unsichtbar. Man übersieht mich. Ich glaube, es gibt dabei eine starke körperliche Komponente, ich bin klein, zierlich, weiß, habe ein unauffälliges Gesicht, unauffällige Haare, meine Stimme ist eher hell, manchmal leise, so leise, dass man mich leicht überhören kann. Ich bewege mich Situationen angepasst, bin eher ruhig, sage bitte und danke und weiß mich zu benehmen. Ich nehme nicht viel Raum ein. An Tischen, auf Stühlen, in Regalen. Ich gehe unter. In der Menge, der Masse. Ich steche nicht heraus. Ich bin eine von vielen, von Tausenden, von Millionen, manchmal werde ich verwechselt, weil es so einen Typus wie mich öfter mal gibt, Anke?, ach entschuldige, ich dachte, du wärst… Wenn ich auf einer Party herumstehe, gehöre ich nicht zu denen, die man im Raum entdeckt, deren Nähe man sucht, mit denen man ins Gespräch kommen möchte, ich werde selten angesprochen, man kommt nicht auf mich zu. Auf der Straße stolpert man über mich, man streift mich im Gedränge, am Tresen sieht man mich nicht. Mit Blicken hakt man sich an denen fest, die größer, kraftvoller, klarer sind, in ihren Umrissen, ihnen gewährt man Abstand, über mich sieht man hinweg. Am ehesten noch bin ich der Typ, den man nach dem Weg fragt. Ich laufe also mit einem Geheimnis durch die Welt. Das Geheimnis bin ich. 

Ich mache mich nur selten oder auf verschlungenen Wegen sichtbar, nur wenige bekommen mich zu Gesicht. Ich verstecke mich. Im Schutz meiner Unsichtbarkeit fühle ich mich sicher, entlastet. Ich erzeuge sie. Durch Fragen an meine Mitmenschen, durch formelhaftes Sprechen, durchs Ausschweigen über mich selbst, bis hin zur Verstocktheit, zum pathologischen Verstummen, ja stumm sein. Ich bin also: Invisible Girl.

Wie bei allen Superhelden weiß nur ich, wissen nur wenige, dass ich eine Superkraft besitze, und wie alle Superhelden leide ich unter ihr. Sie schützt und sie quält mich, sie macht mich möglich, sie definiert mich, und sie verhindert mich, schadet mir. Ich bewege mich in ihrer Freiheit, unter ihrem Schutzschild, gleichzeitig ist sie mein schlimmstes Gefängnis, mein größter Feind. Classic double twist.

Unsichtbarkeit ist ein feministischer Klassiker. Die Unsichtbarkeit (und in ihren Verlängerungen Schüchternheit und Scham) ist eine weibliche Tugend – die Sichtbarkeit als attraktive Frau eine Pflicht. Auch hier liegt das Dilemma schön doppelt schizophren und damit unlösbar vor. Frauen im mittleren Lebensalter beschreiben häufig das Gefühl, unsichtbar geworden zu sein. Unsichtbar „als Frau“. Irgendwann mal also, waren sie sichtbar, nun sind sie es nicht mehr, sie verschwinden von der Bildfläche, lösen sich auf.

Dieser Eindruck referiert auf den männlichen Blick (der strukturell ist, also auch von Frauen geworfen wird), der nicht mehr stattfindet oder als abweisender, abwertender, gleichgültiger Blick zugeteilt wird. Der Superskill Unsichtbarkeit ist eine Möglichkeit, sich dem männlichen Blick zu entziehen, außerhalb seiner Sphäre zu agieren, sich auf die Seite des Beobachters begeben zu können. 

Wer unsichtbar ist, ist draußen. 

Im Draußen liegt immer beides, Schmerz und Freiheit. 

Ich bin mir nicht sicher, ob die Person, die damals in Anwesenheit meines Vaters die Bemerkung über meine Schüchternheit gemacht hat, eine Frau oder ein Mann war. Ich meine, eine ältere Frau. Was ich sicher weiß, ist, dass mein Vater ein Mann ist. Wollte er mir Mut machen, nicht so schüchtern, nicht so „weiblich“ zu sein, ein empowernder Akt also? Wollte er durch die Aufdeckung meines Narzissmus, meiner bis zur Unkenntlichkeit vergrabenen inneren Idee, eigentlich  grandios und etwas Besonderes zu sein – eine Idee, eine Sehnsucht, die jedes Kind, jeder Mensch von sich hat und die mir dennoch bis heute die Schamesröte ins Gesicht treibt, wenn ich sie nur aufschreibe – eben diese Idee auflösen? Beides ist möglich. Beides ist vielleicht irgendwie passiert. Ich habe aus beidem etwas und nichts gemacht. 

Warum ich diese Fähigkeit wählen würde, wo ich doch bereits unsichtbar, ein Invisible Girl bin, ist im Grunde also rätselhaft. Müsste der ersehnte Superskill nicht die Sichtbarkeit sein? Oder grundlegender, die Fähigkeit keine soziale Angst zu haben, sich in der Gesellschaft und dem eigenen Ich sicherer und freier bewegen zu können. Sich das zu wünschen ist, als wünsche man sich, neu geboren zu werden und jemand anderes zu sein. Ich weiß heute, dass ich ein großes Bedürfnis danach habe, sichtbar zu sein und endlich nicht mehr unsichtbar. Ich kämpfe also gegen mich an. Ich versuche, mich aus der Unsichtbarkeit herauszuholen. Meine Enttäuschung darüber, dass es trotz großer Anstrengung nicht klappt, ist groß. Aber wie soll das auch gehen, ich habe einen starken Gegner.

In der Strategie der Unsichtbarkeit liegt eine gewisse Fuchsschläue, und auch etwas Überhebliches. Wer unsichtbar ist, kann dabei sein, ohne teilzunehmen, kann Wissen und Erfahrung sammeln, ohne je etwas beitragen oder am eigenen Leibe erfahren zu müssen. Die Unsichtbarkeit ist eine einfache Lösung, die Sichtbarkeit ein ständiges Risiko. Die Sichtbarkeit bedeutet Konfrontation, Gefahr, sie bedeutet, dem Ich als Fehler unmittelbar ausgesetzt zu sein. Die Unsichtbarkeit vermeidet das Leben. Sie quält ihre Besitzerin, weil sie sie zur Randexistenz erklärt und sie dem Ohnmachtsgefühl aussetzt, nicht oder nicht genug am Leben zu sein und niemals sein zu können. In der Unsichtbarkeit liegt eine Kraft, eine Möglichkeit, eine indirektes, beobachtendes, beschreibendes, eher analytisches Verhältnis zur Welt herzustellen. 

Vielleicht ist es genau das, womit ich gerne sichtbar wäre.

Juli 2023 – Akteur

Plötzlich, sehr plötzlich ein Sturm. Der Wind peitscht die Bäume, bis an die Grenze ihrer Biegsamkeit, wirft das Wasser in Böen, Strömen, nein, Strudeln, durch die Luft an mein Fenster, wild, denke ich und zücke das Handy, filme aus dem Fenster, doch ich sehe nichts mehr: das Wasser jetzt so dicht, so laut an meiner Scheibe, dass mein Blick abprallt, wie an einem Autofenster in der Waschanlage, es gibt kein Dahinter mehr. Unwillkürlich weiche ich zurück, der Druck des Wassers so stark, dass ich nicht mehr sicher bin, ob das Fenster halten wird, lasse die Kamera sein, als die ersten Schläge hörbar werden, dem Rauschen des Wassers ein Prasseln und Knallen hinzufügen, Hagelkörner. Für einen Moment steigen Tränen in mir hoch. Die Erde ist wütend, denke ich. Sie schleudert sich mir entgegen. Der Planet ein Subjekt. Oder wie Latour sagen würde, ein Akteur. 

Und ich kann ihn fühlen. 

Juli 2023 – Unbekanntes Terrain

Die Stellen am Körper, die man nicht sieht. Nur der andere. Der einem nah ist. Kleine Flecken, Dellen und Beulen in Großaufnahme, rote Stellen, Bläuliches, Falten, Gruben und Hügelchen, in Ecken, Winkeln und Beugen. Die mir nicht einsichtig sind. Aber dem anderen. Ich bin mir nicht zugänglich. Ich habe keine Ahnung von mir. Aber der andere. Es gibt Orte an mir, die ich noch nie gesehen habe, nicht so, wie der andere sie sieht, an Hals und Rücken, in der Kniekehle, an Ohr, Hinterkopf, zwischen den Beinen. Ich kann mich nicht sichten, nicht so wie der andere begreifen, erfassen, ertasten, befühlen. Ich weiß nicht, was der andere sieht, ich weiß nicht, was der andere fühlt. Rauhheit, Zartheit, Weite, Enge, ich weiß es nicht. Aber der andere. Auch ich bin der andere. Beim anderen. Ich sehe viel. 

Juli 2023 – Praktikind

Ich sitze im Buchladen, trinke Kaffee und lese Zeitung. Kann man da. Ein etwa 14jähriges Kind, Mädchen oder Junge ist nicht klar, wird auch nicht klar werden, ist es ein statement, eine Transformation, eine sexuelle Orientierung?, you never know, ein echtes wokes gender-Kid jedenfalls, den Pony lang über den Augen, als Versteck fürs Gesicht, den mageren Körper irgendwo unterm überdimensionalem Shirt und den Hosen, rührt mich sofort. Es steht neben der Buchhändlerin und schaut mit ihr in die Auslage. Die Buchhändlerin bespricht eine Aufgabe – Schülerpraktikum. In der Auslage liegen Schulbücher, Sprachbücher und anderes zum baldigen Schuljahresbeginn, high season für Buchläden.

Die Buchhändlerin bittet das Kind, die Bücher alle auszuräumen, Fläche und Bücher abzustauben und dann wieder einzuräumen wie es ihm gefällt. Das Kind setzt sich auf den Boden und macht sich an die Arbeit. Buch für Buch nimmt es heraus, betrachtet jedes einzelne, dreht es um, wenn es ihm interessant erscheint, studiert den Buchrücken, staubt jedes Buch ab, vorne und hinten, mit einem Staubwedel, den man ihm gegeben hat. Sorgsam, interessiert, mit einer Ruhe und Kontinuität, die mich erstaunt. Nicht einmal blickt es hilfesuchend oder unsicher hinter seinem Pony hervor, ich sehe nur seinen knochigen Körper, seine unaufgeregte Konzentration auf die Aufgabe. Mir kommen die Tränen. Was kann dieses Kind von sich sehen? Ich weiß es nicht. Aber ich finde es wundervoll. Wie muss es sein, ein solches Kind zu haben, was für ein schmerzhaftes Ziehen muss das sein.

Am Ende hat es alle Bücher wieder ausgelegt. Es nimmt noch kleine Veränderungen vor, legt das lieber zu dem, die beiden ein bisschen weiter weg, ich weiß nicht, nach welchem System. Es geht nach draußen, das Kind, um die neue Auslage nochmal von außen zu kontrollieren. Es kommt zurück und schubst ein Buch noch ein bisschen gerade. Dann geht es zur Buchhändlerin. Die geht mit ihm raus und nickt die Auslage ab. 

Ich wende mich wieder konzentriert der Zeitung zu und verliere das Kind aus den Augen. Es wird schon werden. 

Juli 2023 – depressiv

Alles was ich schreibe ist schlecht. Es ist ungeschickt, holprig, sitzt nicht. 

Meine Träume sind lächerlich. 

Meine Träume sind eine ständige Belastung. 

Ich denke an Rasierklingen, an Bestrafung, an den Tod. 

Ich kämpfe gegen die Gedanken, aber was bleibt dann. 

Ich bin eine Depressive, die in der Lage ist, sich beim depressiv sein zuzuschauen. 

Ich sehe mich selbst und sehe nichts, Nichts, ein elendes Nichts. 

Das Scheitern lässt sich nicht aufhalten. 

Die Fragen bleiben ohne Antwort. 

ich verbiete mir, mich zu sehen. 

Ich verbiete mir, mich so zu sehen. 

Ich weiß nicht, wie ich mich sonst sehen soll. 

Alle sind schneller, alle sind in der Lage

Ich bin nicht in der Lage

die Zeit läuft davon 

die Zeit läuft nicht mehr davon

sie ist abgelaufen

und morgen schon 

könnte es passieren und dann 

ist nichts passiert

nichts

Nichts

schöne Grüße

Juli 2023 – Am See

Es ist heiß. Alle haben praktisch nichts an. Ein Teenie-Mädchen in Hose und Shirt allein auf einer weitläufigen Deckenlandschaft, um sie herum Kram, der auf andere Menschen hinweist, auf Eltern, Geschwister. Doch die sind nicht da. Bestimmt Baden. Standup Paddeln und so weiter. Sie liest. Ein dickes Paperback. Ich erhasche einen Blick auf den Titel: 

How to kill your family. 

Juni 2023 – Noch wach?

Am besten gefallen mir die Wörter in Versalien, rausgehoben aus den Sätzen, laut – wie die Headlines der Bild-Zeitung. Aufgeregt, wie Stichworte „zur Debatte“, in Talk-Shows, auf social media. Reihte man die Wörter auf Post-its aneinander, hätte man das Buch, ein Gedicht zum Skandal. Ein Mann hat die Geschichte aufgeschrieben, das war ein kritisches Thema in den Rezensionen. Ein berühmter Mann, der ja doch nur wieder einen Haufen Ego-Geld damit machen wird, der sich einfach nur einreihen kann, in den noise des Skandals, in die Selbstreferenzialität der Medien, zu denen er gehört, und seinen Ruhm vergrößert. Stimmt. Diese Ebene kriegt man nicht raus. Trotzdem bin ich froh, dass ein Mann die Geschichte aufgeschrieben hat, Frauen werden es auf ihre Weise tun. Der Mann dieser Geschichte stellt an keiner Stelle auch nur ansatzweise in Frage, dass da etwas passiert ist, was nicht geht. Im Gegenteil, er kapiert das sofort und die ganze Zeit. Er gewährt uns formal-inhaltlich brillant einen Einblick in Sprache und Struktur dieser abfälligen, misogynen Welt des Konzerns und seiner Macher. Hier ist keiner je über Mad Men rausgekommen, das Denken und Agieren wurde nur deutlich verfeinert. Die Bild-Zeitung/Julian Reichelt hat Frauen gefördert, Punkt. Der Kern dieser lässig, flüssig und  mitreißend geschriebenen Geschichte ist, dass der Mann, der sie erlebt und aufschreibt, der Stuckrad-Barresche Ich-Erzähler, seine Freundschaft, oder genauer: seine Bromance zu dem aufkündigt, der die Sache immer weiter am Laufen hält: Döpfner. Nachdem er sehr lange neugierig, professionell, verständnisvoll, großzügig und unterm Strich dem Freund, dem Bro gegenüber loyal geblieben ist, findet er irgendwann endlich den Punkt ab dem es keinen Grund mehr gibt, mit der Beziehung weiterzumachen. Ist es nicht das, was wir brauchen? Männer, die anderen Männern sagen, ich kündige dir die Freundschaft? Es reicht, ich will nichts mit dir zu tun haben, nein, wir sind nicht gleich, nein, wir sind keine Bros, denn du bist kein Bro, sondern ein dummes Arschloch, ich muss dich nicht schonen, ich muss dir gegenüber nicht loyal sein, denn: I loathe you. 

Der Ich-Erzähler gibt sich keine Mühe, sympathisch zu wirken. Er ist immer so dabei,  kommt immer so mit, nimmt immer so mit, was geht:  Pools in Promi-Hotels, Veranstaltungen mit Promi-Treff, Dinner in Promi-Restaurants. Er hält ganz betont nix von Moral, das haben ihm seine Christen-Eltern deutlich ausgetrieben, seine Aufgabe sieht er eben gerade darin, dabei zu sein. Gekauft zu sein, um viermal im Jahr zu schreiben, was er will. Das Privileg des Hofnarren, die Kohle stimmt. Er ist glücklicherweise auch nicht entsetzt, ihm wird auch nicht wirklich etwas klar im Sinne eines Entwicklungsromans. Das finde ich besonders angenehm. Nichts schlimmer als entsetzte und sich läuternde Figuren. 

Auch die weibliche Hauptfigur, die ihn über die Praktiken im Hause Reichelt ins Vertrauen zieht, zeichnet er nicht als nette, sympathische Person. Er bildet ihren struggle ab, ihre Fragen, ihre Verunsicherung, ihre Wut. Aber niemand muss hier nett sein, um für uns Opfer werden zu können oder der Täterschaft zu entkommen. 

Ein kühles Buch, im Grunde. Das einen spannenden Prozess erzählt, und die Grundlagen durchschaut. Letzteres gerät ironisch 90er manchmal etwas selbstgefällig.

Schön auch, dass er uns daran erinnert, dass die Bildzeitung Tod und Trauma produziert (Spielerfrau. Katharina Blum) und uns von der Fatzkenhaftigkeit erzählt, die ihr Vorstands-Personal an den Tag legt beim Bau von Gebäuden und Hand-Shakes mit Elon Musk. Da hat einer verstanden, wohin das Begehren geht. 

Diese Zeitung ist brandgefährlich, das war sie schon immer. 

Zur Ergänzung empfehle ich den Podcast Boys Club. Der ist von zwei Frauen. 

Juni 2023 – Blueberry Man

Ich sitze bei McDonalds. Passiert. Blick aus der Höhe. Auf Busse, Menschen, Autos am Zoo. Die Fensterfront wie die eines Raumschiffs, Star-Trek-Architektur, McDonalds als Kantine, irgendwo im All. Ich sitze an einem der Zweier, träume aus dem Fenster. 

Vor mir ein alter Mann, klein, hager, sehnig, ein Käppi auf, die Haare an den Seiten schütter. Er trägt ein Holzfäller-Hemd, reingesteckt, in die Blue Jeans, einen breiten Ledergürtel. Fehlen nur noch die Cowboy-Stiefel. Vor ihm ein Blaubeer-Muffin in seinem Förmchen aus Papier. Kein Tablett, nichts, nur dieser Muffin vor ihm auf dem Tisch, unberührt. Er guckt ihn an, zufrieden, als wär ne Kerze drauf und heute sein Geburtstag. Er nimmt einen Löffel, aus Holz sind die jetzt, drückt ihn mit der Seite in den Muffin. Er löffelt den Muffin. Muss ein bisschen nachhelfen, mit dem Finger manchmal, ein bisschen mit der Löffelspitze säbeln, aber es geht. Wir fliegen in unserer Kantine durchs All, ich und der Muffin-Mann, nicht viel trennt mich von ihm.

Als er aufgegessen hat, bleibt er noch ein bisschen sitzen. Schaut, wie ich, nach draußen, durch die Star- Trek-Fenster auf die unwirkliche Welt. Schaut, wie ich, auf den Jungen, der einen Tisch weiter mit der Nase am Fenster nach draußen sieht, auf Busse, Menschen, Autos am Zoo, auf die Symphonie der Großstadt, das Kästner-Kind. Plötzlich dreht der Mann sich auf seinem Stuhl zu mir um, den Arm auf der Lehne, die Augen wach. Er ist jetzt, wo er alles getan hat, gegessen, rum geguckt, auf der Suche nach ein paar Worten. Ich erschrecke, senke den Blick, mein Tablett voller leer gegessener Papiere, Cellulose und beschichtet, und kaue schnell auf irgendwas letztem, was sich daraus noch hervor scharren lässt.

Er steht auf, verschwindet hinter einer der Trennwände, vom Szenograph entworfen und ausgesägt, und spricht mit einer der Mitarbeiterinnen, die dort mit hüfthohem Besen und Kehrblech den Boden sichtbar macht, eine Latina. Er spricht, lacht, ich höre seine Stimme, ihre. Kommt er öfter hier her? Hat er sich nach ihr umgeschaut? Kommt er jeden Tag? Jeden Samstag? Isst seinen Blaubeer-Muffin. Nie etwas anderes. So wie andere ihren Kuchen in der Konditorei. Wechselt ein paar Worte, dann geht er.

Ich sehe ihm nach.

Was, wenn er wirklich Geburtstag hat. 

Juni 2023 – Nice shoes

Ich muss zu einer Veranstaltung mit einem Promi. Ich jammere bei Freunden herum, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll. Noch dazu ist er englischsprachig. Die verstehen das nicht, es gibt doch immer was, was man sagen kann! Was denn? Wetter. Und Essen. Genauer: Was man grade gegessen hat. Das haben sie bei einem anderen Promi beobachtet, der jedes Mal wenn er auf eine Bühne kommt, erstmal erzählt, was er grade gegessen hat und wie das so war. Kann man sich abgucken. N. schlägt vor, sag doch einfach: Nice shoes. Nice shoes?! Ich bin begeistert. Das ist brilliant. Alle meine small-talk-Probleme scheinen mit einem Schlag gelöst. Nice shoes, das geht auf jeder Party, nice shoes hat alles, was man braucht. Es ist einfach, überraschend, aber nicht zu weird, es ist freundlich, wahrnehmend und drauf zu, es fällt auf und ist dennoch sozial total akzeptabel. 

Als ich den Promi sehe, und meine Chance gekommen ist, für den großen Auftritt, trägt er leider alles andere als nice shoes. Genauer gesagt, trägt er ugly shoes, really ugly shoes. Ich bringe es nicht übers Herz, nice shoes zu sagen. Es wäre zu hart gelogen. 

Egal. Nice shoes will save my life! Jetzt und immerdar. 

Juni 2023 – Jott Ha

Ich lese Judith Hermann,

alles fließt, die Dinge beginnen zu tanzen

vor meinen Augen 

die Menschen und ihre Bezüge. 

An einer Stelle erzählt sie, wie sie / ihre Protagonistin das Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter liest.

Ich habe Angst,

steht auf einer Seite. Sie schlägt das Heft zu, als habe sie sich verbrannt. 

Das ist toll. Aus verschiedenen Gründen. 

Mich bringt es zu zwei Fragen. 

Wer wird sich je so für mich interessieren, dass er liest, was ich geschrieben habe. Der bereit ist auszuhalten, wer ich war, der mich so mag (liebt, etwas anderes wird nicht reichen), dass er das Interesse, das Begehren, den Mut aufbringt, mir zu folgen, durch meine Gedanken, meine Dummheit, meinen Irrsinn, meine Eitelkeit. Und warum ist das wichtig? 

Zum anderen denke ich: Was hätte auf der Tagebuchseite meiner Mutter gestanden? Ich weiß es nicht. Das erste, was mir in den Sinn kommt, ist ein Tagesablauf, vielleicht die Beschreibung eines Familienfestes, im Grunde ohne Emotion erzählt. Das löst zum einen das übliche abfällige, verächtliche Gefühl aus, ich finde sie flach, passiv, brav, feige, einfältig,

und dennoch rührt sie mich.

Hinter der Abfälligkeit liegt die Sehnsucht.

Zum anderen aber auch wird die Gewissheit spürbar, dass ich sie nicht kenne, nicht gekannt habe und niemals kennen werde. Habe ich mich nicht genug für sie als Mensch interessiert. Sicher. Sie hat sich mir nicht als Mensch offenbart. Ganz sicher. Oder hat sie es versucht und ich habe es abgelehnt? Weil sie sich nicht für mich interessiert hat. Habe ich ihr eine Chance gegeben dazu? Immer hab ich sie geschont vor mir, aus Angst. Davor, dass sie noch fremder wird, noch blasser, dass sie mich fallen lässt, aussetzt, aussteigt. Dabei war sie das längst, ausgestiegen.  

Ich weiß nichts von ihr. Nichts von ihren Ängsten, ihren Gedanken, ihren Ideen, ihrer Enttäuschung, ihrer Wut. Ich kann sie ahnen, aber nicht wissen. Sie hat sich mir nicht vermittelt. 

Wie oft sie etwas Abfälliges, Abwertendes mir gegenüber hatte, wie spät ich das begriffen habe. Worüber war sie enttäuscht, worauf war sie wütend? Dass ich von Anfang an nicht das war, was sie sich gewünscht hatte. Dass ich eine Fremde war, geblieben bin, bleiben wollte. Dass ich ihr nicht verzeihen konnte, wollte, war es eine Reaktion darauf? Oder war es genau anders herum? Wollte sie die Fremde bleiben? Dass ich in Abgrenzung zu ihr entstanden bin und ihr doch niemals entkommen werde. 

Was hätte ich darum gegeben so einen Tagebucheintrag von ihr zu finden. 

Wie Judith Hermanns Protagonistin hätte ich das Heft rasch zugeschlagen. 

Oder?

Juni 2023 – noch immer

Ich sehe, im Vorübergehen: 

Eine Frau im Sommerkleid, vielleicht Anfang dreißig, das Kleid mädchenhaft geblümt, dazu DocMartens. Sie beugt sich, die Motorhaube offen, über die Innereien ihres alten Autos und pult fachmännisch an irgendeinem Kabel herum. Für eine Sekunde bleibe ich an dem Anblick hängen. Noch immer, bis heute, habe ich das Gefühl, etwas Besonderes zu sehen. Ah, guck mal, eine Frau, die ein Auto repariert.

Juni 2023 – in Frage gestellt

Manchmal werde ich wütend auf ihn. Wenn er etwas für mich ganz Selbstverständliches nicht versteht, ich werde wütend, dass ich überhaupt darüber reden muss, dass ich erklären, mühselig vermitteln, übersetzen muss, was ich meine, ich kann nicht fassen, dass er das nicht weiß, nicht begreift, wo es doch so klar ist, so selbstverständlich. Ich bin wütend, weil er nicht T. ist, ich bin wütend, weil T. nicht mehr hier ist, ich bin wütend, weil ich mich zufrieden geben muss, mit mir, die übrig geblieben ist, weil ich leben muss, mit jemand, der anders ist. Oder: weil ich unsicher bin, ob das für mich Selbstverständliche nicht so selbstverständlich ist, wie ich dachte. Ich bin wütend, weil ich mir nicht mehr sicher bin. 

Juni 2023 – Beef

Bei McDonalds will ich das, was ich immer will, mein persönliches Schlechtgeh-Menü, kleine Pommes mit Mayo, Cheeseburger, kleine Cola mit Eis. Aber dann nehmen sie doch das Cheeseburger-Menü, sagt die Frau am Bestell-Tresen, bisschen älter als ich, asiatischer Background, Akzent, schätze Indien oder Pakistan, das ist doch viel günstiger. Und was ist da drin? frage ich. Pommes, kleine Cola und zwei Cheeseburger, sie deutet auf die Anzeige-Tafel hinter ihr. Aber zwei Cheeseburger, das ist mir zu viel, sage ich, das schaff ich nicht. Aber schaun sie, sagt die Frau, so sind sie bei 7 Euro 49, und das Menü: nur 5! 

Ja, überlege ich, aber was mach ich dann mit dem zweiten Cheeseburger? Ich kann ihn doch nicht wegwerfen, nur weil’s billiger ist. Essen sie später! schlägt sie vor. Dann ist er kalt, sage ich. Ja, aber so viel teurer! sagt sie und schüttelt bekümmert den Kopf. Oder, sage ich, ich gebe den zweiten Cheeseburger Ihnen. Nein, sagt sie, ich esse kein Beef. 

Ich lache. Sie macht mich glücklich.

Ich nehme die drei Sachen einzeln und zahle gut zwei Euro mehr.

Juni 2023 – contemporary

Was tun im Alter?

Ich lese was über eine Tanzensemble älterer Menschen, contemporary dance. 

Ich will eine Schule gründen für alte Leute, Kunst kann man hier studieren, es gibt Ateliers.

Eine WG will ich gründen.

Ein Café will ich eröffnen, kleiner Raum, hell, hübsch, schnell, einfach, Zeitungen, Filterkaffee und Stulle, mal ein Kuchen, günstig. Vielleicht nur so wie das Fenster Cafe in Wien.

Aber keiner macht mit.

Juni 2023 – Paranoid

Kürzlich fragt mich eine Freundin, ob ich eigentlich manchmal paranoid sei. Sie fragt nicht, weil sie annimmt oder findet, dass ich paranoid sei, sondern aus ehrlichem Interesse und weil sie selbst manchmal solche Tendenzen an sich erlebt. Zu meinem eigenen Erstaunen antworte ich mit Ja. Ja, ich bin es geworden. In den letzten Jahren. Nicht auf diese Art paranoid, wie man das landläufig versteht, also eine Verschwörung vermutend, davon ausgehend, dass im Geheimen systemisch-personelle Vorgänge im Hintergrund der Gesellschaft vor sich gehen, die man auch noch als einer der wenigen Wissenden zu durchschauen glaubt und womöglich vorausschauend darauf reagiert, Alu-Hut. Nein, so nicht. Einfach nur paranoid meinen Mitmenschen gegenüber. 

Früher war ich nicht paranoid. Natürlich habe ich mich manchmal gefragt, was hinter meinem Rücken vor sich geht, ich habe geahnt oder gewusst, dass die Menschen in meiner Umgebung manchmal schlecht über mich reden, dass sie nicht immer ehrlich zu mir sind, dass sie Dinge tun, die sie mir lieber verschweigen. Aber ich habe darin nie so etwas wie eine böse Absicht oder ein strategisches Vorgehen gewittert, das dazu da ist, mir zu schaden. Ich habe das eher als Teil von sozialer Interaktion begriffen, als Aspekt von Beziehung, als Versuch, Komplexität zu reduzieren, wenn Kommunikation, Gefühlslagen, Bedürfnisse zu fordernd sind, um sie transparent zu machen. Doch in den letzten Jahren habe ich Situationen erlebt, in denen die Menschen in meiner Umgebung Dinge getan haben, die sich mit den Umständen in denen sie stecken, nicht entschuldigen oder erklären lassen. Handlungen, die nichts anderes sein konnten als strategisch angelegte Aktionen zur Erreichung eines persönlichen Ziels oder Vorteils durch die absichtsvoll herbeigeführte Verschlechterung der Situation einer anderen Person. Meiner Person. 

Auch wenn ein Kern von Verständnis immer bleibt, hat das eine andere Qualität. Es ist das Erlebnis eines Betrugs. Es führt dazu, dass etwas entsteht, was man den Verlust von Vertrauen nennen kann. Der andere ist potentiell ein Feind, er ist gefährlich. Er ist in der Lage, Dinge zu tun, die man sich SO nicht hätte vorstellen können, Dinge, von denen man nicht gedacht hätte, dass DIESE Person sie JEMALS tun würde. Väter, Lebensgefährten, Freundinnen, Kolleginnen zum Beispiel. Menschen aus dem nahen Umfeld also, dem Umfeld, in dem man gar nicht existieren und agieren kann, ohne zu vertrauen. 

Man könnte jetzt sagen, muss man das gleich Paranoia nennen, ist das nicht eher sowas wie gesundes Misstrauen. Das paranoide Gefühl kommt aber anders als das Misstrauen als Überfall daher, es ist ein Schock, ein Erlebnis, eine plötzliche Erkenntnis, dass alles ganz anders ist, als man immer angenommen hat, es erfasst einen als Angst. Davor, dass es tatsächlich so ist, wie man gerade begreift oder noch schlimmer: dass die ganze Angelegenheit eine Dimension haben könnte, die man auch jetzt, in diesem Moment, nicht mal ansatzweise erfasst hat. Ein Wissen, das sich in aller Plötzlichkeit einstellt, eine bittere Wahrheit. Der Eindruck der Bodenlosigkeit ist die Folge. Einmal erlebt, kann sich das paranoide Gefühl in anderen Zusammenhängen genauso überfallsartig wie von selbst wieder einstellen und dadurch Angst machen. Es hat das Potential schwelend zu werden, wenn du nicht das Glück hast, es zu vergessen, oder die Stärke, es aktiv beiseite zu schieben, dich dagegen zu entscheiden. Hier ist sie, die Schnittstelle zum Wahnsinn oder korrekter zum Pathologischen.

Die Schwester der Paranoia ist also die Einsamkeit. Das paranoide Gefühl trennt einen ab von allen anderen. Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Auf dem stehen die anderen, alle anderen, aber nicht mehr man selbst. Vertrauen kann ab hier nur noch temporär vergeben und mit längerem Anlauf eingegangen werden. Sie macht einen selbst zu einem absichtsvoll agierenden Wesen. Das Vertrauen, das man hat, das man großzügig und ohne Hintergedanken zu geben bereit ist, weil man es für richtig, ja, für einen Wert hält, diesen Vorsprung zu geben, fällt plötzlich auf die Seite der Naivität, der Dummheit. Was hast duu denn gedacht? Sieht man doch in jeder Serie. 

Das paranoide Gefühl, dem nahen Umfeld entsprungen, geht eine unglückliche, sich gegenseitig verstärkende Verbindung ein mit den Unsicherheits- und Einsamkeits-Erfahrungen der letzten Jahre, die auf anderen Ebenen erlebt wurden. Nicht nur von mir, sondern von der Menschheit. Dazu gehört die Pandemie mit ihrem Kern einer apokalyptischen Erfahrung, der Trumpismus als Chiffre für einen bis ins Innere von Demokratien reichenden Politikwandel, der ebendiese als Vorschlag behandelt, der erlebbar werdende Klimawandel, der die Liste möglicher Todesursachen um Sturm, Hitze, Wasser erweitert und konkrete Vorstellungen über ein Leben in der Zukunft aufruft sowie der Ukraine-Krieg mit seinen Auswirkungen auf die seit Generationen gewohnte geopolitische Weltaufteilung und die in ihm enthaltene Möglichkeit eines Dritten WK oder eines atomaren Supergaus, welcher Art auch immer. 

Mai 2023 – Marseille en Mai – Möwe

Eine Möwe hackt mit ihrem riesigen Schnabel auf eine tote Taube ein. Da wo früher der Kopf der Taube war, ist nur noch ein blutender, offener Strunk. Der Kopf ist weg, keine Ahnung, wo. Liegt nicht rum, oder so. Immer wieder hackt die Möwe in den blutigen Strunk, holt Fetzen heraus, ungeduldig schleudert sie den toten Körper herum, zerfetzt und reißt ihn.

Lovely. 

Mai 2023 – Marseille en Mai – Elle

1

Im Airbnb Apartment fische ich eine französische Elle vom Zeitschriftenstapel. Gleich vorne auf der ersten Seite bleibe ich hängen. Das Editorial der Chefredakteurin beginnt mit einem Zitat aus Ray Bradburys Buch Fahrenheit 451, einem Science-Fiction-Roman, in dem es um Bücherverbrennung geht. Von dort zieht sie den Bogen weiter zur der Verbannung von Büchern in Bibliotheken und Schulen in einigen Bundesstaaten der USA (darunter Toni Robinson, Mark Twain und Art Spiegelman), und endet bei den Änderungen, die in Großbritannien von Verlagen an Büchern von Roald Dahl über Agatha Christie bis Ian Flaming vorgenommen werden, um beispielsweise antisemitische oder dickenfeindliche Sätze zu entfernen oder zu ersetzen. 

Die Autorin bezieht dazu eine klare Haltung: Sie ist entsetzt. Sie sieht die Freiheit des Lesens in Gefahr. Sie zitiert Bret Easton Ellis, und findet wie er, dass es bei Literatur nicht darum geht, sich der eigenen Komfortzone etablierter Moral zu vergewissern, sondern um die Beunruhigung, die sie heraufbeschwören kann. Darin, so die Redakteurin, liegt die subversive Kraft der Literatur und sie spricht sich dafür aus, Leserinnen und Lesern nicht um das Vertrauen und die Möglichkeiten ihres kritischen Geistes zu bringen. Sie plädiert für Kontextualisierung. Also für Fußnoten, Vorbemerkungen und andere Formen der historisch-kulturellen Einordnung. 

Ich bin verblüfft. Ich kann mich nicht erinnern, je in einer deutschen Frauenzeitschrift im Editorial einen Text mit politischem Inhalt gelesen zu haben. Schon gar nicht einen, der sich mitten rein traut, ins Wespennest. Beindruckend, die Franzosen, oder besser: die Französinnen. 

Der argumentative Bogen, den sie spannt, legt ihre Sorge um den umgekehrten Verlauf frei: Mit den Veränderungen in den Büchern fängt es an, mit Bücherverbrennungen hört es auf. Sie sieht also von woke links bis scharf rechts die gleichen Mechanismen am Werk, trotz der unterschiedlichen Motivationen, die beiden zugrunde liegen. Während die linken oder sagen wir besser, identitäts- und repräsentationspolitischen Strömungen mit dem Schutz von fragilen und fortlaufend Diskriminierung ausgesetzten Personen argumentiert, und die permanente Wiederholung von abwertenden Festschreibungen durchbrechen will, argumentiert die autokratische Rechte – ja, womit eigentlich?, mit dem Schutz von Eltern und Kindern vor Büchern, die schlicht als „gefährlich“ eingestuft werden. Was an Autorinnen wie Morrison, Spiegelman und Twain gefährlich ist, bzw. was an ihrer Verbannung für eine rechte politische Klasse so attraktiv ist, kann sich jeder zusammenreimen. 

2

Wie immer ist natürlich alles kompliziert. Die Lindgren-Bücher sind viel diskutiert worden und auch mir, die ich die oben wiedergegebene Position bei Erwachsenen-Literatur zu praktisch hundert Prozent teile, leuchtet es nicht ein, warum irgendjemand heute noch in einem Pipi Langstrumpf-Roman das N-Wort lesen sollte. Wobei man sich klarmachen muss, dass Lektorinnen, Übersetzerinnen und Erben ständig Worte, Sätze, Ausdrücke in Büchern verändern, gerade bei Übersetzungen und Neuausgaben ist das ein zentrales Thema. Dennoch finde ich es eine geradezu vertane Chance, wenn man der jungen Leserin, dem Leser eines Pipi-Romans nicht  mit ein paar kindgerechten Worten die vorgenommene Änderung und den Prozess dorthin transparent machen würde: An dieser Stelle stand früher mal ein anderes Wort. Um zu begreifen, dass wir alle historisch zu verstehen sind und im Horizont unserer Zeit denken, dass gute und interessante Bücher nicht automatisch von nur netten oder in allen Lebensbereichen klugen Leuten geschrieben werden, dass wir in einer diskriminierenden Gesellschaft leben, dass Worte Macht haben, und Literatur über all das reflektiert, wäre diese Kontextualisierung hilfreich. 

Erwachsene jedoch, die sollte man nicht für dumm verkaufen. Man darf nicht aufhören, von ihnen (und den Schulen, die sie besucht haben), zu erwarten, dass sie wissen, wie man Literatur liest und dass Texte in einem historischen, kulturellen, biografischen Kontext entstehen und in einem anderen gelesen werden. Wirklich hilflos und gefährlich unterkomplex wird es, wenn Texte schlicht abgescannt werden, auf Z-Wörter, N-Wörter, ohne dass noch jemand versteht, dass sie beispielsweise in einem Figurendialog der erzählten Zeit verwendet werden oder dass die Autorin genau damit Rassismus thematisieren möchte oder dass Antisemitismus sich gerne mal zwischen den Zeilen befindet oder Sexismus in den Inhalten, ohne dass auch nur ein einziges offen diskriminierendes Wort gefallen wäre, das man löschen kann. Und auch die ausgegrenzten Gruppen selbst benutzen ja häufig den ursprünglich abwertenden Begriff, um ihn sich in einer Geste der Selbstermächtigung anzuheften, was in der Sprache einer Figur eine entsprechende Bedeutung haben kann. Die Idee der Empfindlichkeit, der Fragilität der Lesenden, auf die Literatur Rücksicht nehmen muss, ist mir als Motivation für Streichung und Änderung nicht geheuer. Wer schwingt sich auf, zu wissen, was für wen verletzend oder beleidigend (offensive) sein könnte, wer errichtet auf welcher Grundlage den Katalog dafür, der dann abgearbeitet wird? Und wenn wir alle Wörter mit den besten Absichten ausmerzen, bedeutet das nicht, dass es Rassismus, Homophobie, Sexismus usw. usf. nicht gibt. Möglicherweise verstellen wir nur den Blick darauf, tun so, als wär da nichts weiter Schlimmes, wo vorher was verdammt Schlimmes war. Was für eine Rolle schreibt man der Literatur zu, welche Idee von Autorschaft pflegt man? 

Dass es in Frankreich möglich ist, den aktuellen Umgang mit Literatur zu kritisieren und in Beziehung zu setzen mit den Bücherverboten in Bildungseinrichtungen der USA, scheint mir aus der deutschen Perspektive erstaunlich. Hier haben die Rechten den Hass aus den USA auf alles, was „woke“ ist, importiert und unter dem Stichwort Cancel Culture den Diskurs gekapert. Die Antwort von links bis zur bürgerlichen Mitte muss dementsprechend die Verteidigung von beidem sein. Eine andere Antwort kann es nicht geben, eine andere Ecke, eine eigene Haltung wird nicht entwickelt.

Für Olivia de Lamberterie bedeutet Lesen, sich zu konfrontieren. Mit sich, mit der Welt, mit anderen. Mit dem Anderen. Ihren Artikel hat sie mit dem Titel À lire vrai überschrieben. Wenn mein Französisch und DeepL mich nicht täuschen, bedeutet das so viel wie Aufs wahre Lesen oder wahr lesen. In diesem Sinne. Öfter mal zu französischen Frauenzeitschriften greifen. 

Mai 2023 – Marseille en Mai – L’eau est bonne! 

Wir gehen ein kleines, verstecktes Hafenbecken unter einer hohen Bogenbrücke entlang. Einfache, kantige Arbeiterhäuschen, die hellen Boote im Wasser wie überall hier dicht an dicht,  ihre dünnen Masten gegen den blauen Himmel wie Spießchen an einer üppigen Tapas-Bar: para picar. Das Becken führt unter der Brücke weiter, öffnet sich nach links, ein großer Felsen auf der anderen Seite wird sichtbar. Darauf, schon von weitem hörbar, sitzen Jugendliche. Wie Vögel sitzen sie, dunkle Flecken in den Kuhlen und auf den Spitzen des Felsens, und schauen aufs Wasser, in die Weite, bewegen sich, zueinander, auseinander, richten sich auf und kauern sich nieder, gruppieren sich und vereinzeln sich wieder. 

Das Becken grenzt das Meerwasser hier zu einem Pool ab, der Felsen als Längsseite eines Spaßbads. Das Wasser türkis und durchsichtig, Adria-Style, die Sonne brennt, die Jugendlichen lachen, flachsen, ich betrachte sie, im Gehen. Ein Junge, vielleicht 14, 15, klettert ins Becken, seine dicken Sneakers an, der Seeigel wegen, ein Mädchen kommt ihm nach, sie tauchen unter, tauchen auf, die Haare dunkel und glatt, schwimmen ein paar Züge, ihr Lachen ist zu hören, ihre Rufe, ihr Atem. Als sie aus dem Wasser kommen, gehen sie mit ihren Sachen auf der uns gegenüberliegenden Seite das Beckens entlang, der Junge vorne weg. „Madame!“, ruft er strahlend herüber und meint mich: 

„L’eau est bonne!“ 

Eine Verkündigung ist das,

und ein Versprechen,

ein Bedürfnis,

das Glück zu teilen, es mitzuteilen, es mit mir zu teilen,

eine Versicherung,

ein Versuch, Zuversicht zu verbreiten, Trost,

eine Antwort

auf eine sich grundsätzlich stellende Frage,

eine Aussage, über das Wasser,

das Leben.

Ich versuche, mir den Satz zu merken als wär’s ein Tattoo in meinem Hirn.  

Mai 2023 – Marseille en Mai – So geht das

Ich lese Schlachthof 5. Auf meiner Liste seit ich im zweiten Airbnb-Apartment in Wien (Mai 2022) mehrere englische Vonnegut-Bücher im Regal gesehen habe, ein in den USA offenbar sehr, in Deutschland mehr oder weniger und mir gar nicht bekannter Autor. Obwohl er doch so unbekümmert Ausflüge ins Sci-Fi-Genre gemacht hat. Die junge Besitzerin der Wohnung jedenfalls, eine Amerikanerin in Wien, hatte offensichtlich ein Faible für ihn. 

Schlachthof 5 also. ’69 geschrieben, als WK II, von dem Kurt Vonneguts alter ego Billy Pilgrim uns erzählt, schon länger vorbei ist, das Buch den Nerv des Diskurses über den Vietnamkrieg trifft und als Antikriegsbuch in die Literaturgeschichte eingeht. Billy Pilgrim berichtet, wie der Krieg, den er als amerikanischer Soldat und Gefangener in Deutschland erlebt hat, so war und was er aus ihm gemacht hat. Einen kaputten, unter den Eindrücken und Erlebnissen leidenden, belasteten und davon auf alle Zeit geprägten Billy Pilgrim nämlich. Kein Wunder also, dass Billy ein Zeitreisender ist, der uns mitnimmt in seine Vergangenheit, seine Zukunft und immer wieder zurück in seine Gegenwart. Denn überall dort hat der Krieg und alles, was Billy darin gesehen hat und erlitten hat, seine Spuren hinterlassen. Die Bilder, Gedanken und Erinnerungen aus der nicht enden wollenden Hölle, in der es, gerade wenn man denkt, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, immer noch schlimmer kommt, tragen ihn von einer Zeitebene in die andere. In lakonischem Ton beschreibt er, was passiert, sich selbst und seine Zustände. Er ist so geworfen in die Grausamkeiten und Absurditäten des Krieges, dass er darin nicht mehr als Handelnder erscheint, sondern manchmal beinahe drollig und tölpelhaft erscheint. Auch auf den Planeten Tralfamadore nimmt Billy uns mit, wohin er entführt wird, weil die Tralfamadorianer sich für die Spezies Mensch respektive ihren Vertreter Billy interessieren, ihn und die krieführende Menschheit aber mit technokratisch achselzuckendem Fatalismus betrachten, sodass auch diese an ein Delirium oder einen Morphiumtrip erinnernde Parallelwelt ebenfalls nicht wirklich als Entlastungsfantasie für Billy funktioniert. 

Hinter der sich selbst nicht besonders ernst nehmenden Figur und dem Irrsinn der Ereignisse sind Billys Schmerz und Verzweiflung die ganze Zeit spürbar, genau wie der Wahnsinn, der Billy angesichts der Erlebnisse zu befallen droht, in den er sich flüchtet oder in den die Morphiumspritze ihn entlässt. 

Ein einzelner kurzer Satz zieht sich wie ein Refrain, eine Interpunktion, ein grausames Mantra oder eine Lebensweisheit durch das Buch: So geht das. So it goes im Original. Jedesmal, wenn Billy, so zumindest mein Eindruck, schildert, wie und dass jemand gestorben ist, setzt er am Ende diesen Satz: So geht das.

Nachdem ich das Buch einmal komplett durchgelesen habe, merke ich erst, dass es mich erschüttert hat, vielleicht weil es auf diese seltsam leichte lakonisch-warme Weise die Verzweiflung eines Menschen beschreibt. Ich beginne noch einmal von vorn, um alle So geht das zu zählen. Ungewohnt nerdig für mich, aber es ist mir ein Bedürfnis, das zu tun, keine Ahnung warum. Vielleicht nur, um zu sehen, ob ich recht habe, mit meiner Vermutung, dass jedesmal jemand stirbt und die literarische Technik genauer zu untersuchen, vielleicht, weil ich es als Respekt vor den Toten empfinde, als Respekt auch vor Billy Pilgrim und seinem Autor Kurt Vonnegut, der all diese Totengeschichten gehört und erlebt hat. Ich komme auf 87 So geht das

87mal kommt in diesem Buch jemand zu Tode. In 10 Kapiteln, auf 200 Seiten. Meistens ist es eine konkrete Person, einige Male sind es abstrakte Mengen wie Bevölkerungen von Städten, zweimal sind es Tiere, einmal ist es Billy selbst, der den „Zustand des Totseins“ dann aber wieder verlässt und überlebt. Einmal ist es Champagner, der nicht mehr blubbert und einmal Wasser, dessen Blasen es nicht mehr an die Oberfläche schaffen. Als an einer Stelle Läuse, Bakterien und Viren sterben, bekommen die kein So geht das. Sein, ja, wie soll man ihn nennen, Kamerad ist so ein fürchterliches Wort, sein Kriegsgefährte auf Zeit, Edward Derby, bekommt gleich 4 So geht das, sein Tod wird im Buch also mehrfach erwähnt. Zu Beginn spricht Billy davon, dass Derbys Tod der Höhepunkt des Buches sein wird, was dann aber nicht der Fall ist, Derby stirbt literarisch genauso brutal lapidar wie tatsächlich, doch die mehrfachen, mit So geht das geadelten Erwähnungen an unterschiedlichen Stellen des Buches verstärken den Eindruck, dass sein Tod für Billy ein ganz besonders schmerzvolles weil so widersinniges Ereignis kurz vor Kriegsende war, in dem der ganze absurde verschwenderische Wahnsinn des massenweisen Sterbens kulminiert.

In der neuen Übersetzung lautet der Satz übrigens: Wie das so geht. 

Beim zweiten Lesen begreife ich noch mehr, wie Vonnegut seine Motive benutzt, um Billys unruhige Reise durch seine inneren Zeiten zu erzählen. 

Interessant ist, dass ich noch nie davon gehört habe, dass die Deutschen amerikanische und englische Kriegsgefangene hatten. Bin ich die einzige? Ich frage ein bisschen herum, niemand hat davon gehört. Bemerkenswert. 

Außerdem interessiert mich die Rezeption des Buches in Deutschland, immerhin geht es um den Bombenangriff auf Dresden, ein hier immer wieder und vor ein paar Jahren nochmal heftig hochgekochtes Thema, ein umstrittener Punkt von links bis extrem rechts, deutscher Opferdiskurs, Wiederaufbau der Frauenkirche, Diskussionen wie das Endes des Krieges zu interpretieren ist, bis heute veranstalten nationalsozialistische Gruppen sogenannten Trauermärsche, in der DDR gab es am Jahrestag kirchlich orientierte Friedensdemonstrationen. In der amerikanischen Lesart ist das Buch 1969 vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs ja eher als Frage an die USA gerichtet, die ihre jungen Männer in einen Krieg geschickt, und ein Massaker angerichtet hat. Auch interessant ist, dass Vonnegut und die Welt damals davon ausgingen, dazu gibt es eine verlegerische Vorbemerkung im Buch, dass in Dresden 135.000 Menschen starben. Heute weiß man, es waren zwischen 22.700 und 25.000.  Die hohe sechsstellige Zahl kam nach der Bombardierung durch nationalsozialistische Propaganda in Umlauf. 

Mai 2023 – Marseille en Mai – Ringeltaube

Wir setzen uns mit was zu essen auf ein niedriges, schmales Mäuerchen auf einem Platz. Das Mäuerchen bildet ein rechteckiges Becken, groß genug für den Baum, der darin wachsen darf. Eine Ringeltaube, schlank, in hellem Grau, mit schwarzem Kragen, durchforstet den Boden, Blätter, Sand, Staub, Kippen, Müll, sie zerrt mit ihrem Schnabel an einem Zweiglein, holt es heraus. Nimmt es vorne, pickt es hinten, ziept und kämpft ein bisschen mit seiner Länge und Sperrigkeit – lässt es fallen. Ruckelt weiter, nimmt ein weiteres Zweiglein auf, diesmal kleiner, nicht so struppig an den Seiten – lässt es fallen. Onkelt weiter, scharrt sich zum nächsten Ästchen durch, dunkler, biegsamer dieses – nein, auch das ist es nicht. Weg damit. 

Was will sie? Ein Nest bauen, wie wärs mit einem Blatt, nein, die interessieren sie nicht, nur die Zweiglein, Ästlein, Stöcklein sind es, die es ihr angetan haben. Ruckedigu, sie sucht, pickt, hebt auf, lässt fallen. Was ist es, was sie sieht, besser: erfasst, mit Schnabel, Augen, Fuß, sind es Länge, Gewicht, Farbe, Beschaffenheit, Konsistenz, was sind die Kriterien der Auswahl? 

Sie durchwalkt den ganzen Baumarkt, nichts findet ihren Gefallen, all die unterschiedlichen Ästchen, die sie nun schon mit dem Schnabel aufgehoben und untersucht hat, keins davon ist das Richtige, was braucht sie?, muss sie ein Loch stopfen in ihrem Nest, muss sie ihr Nest verstärken, sichern, vervollständigen? Ein sehr spezifisches Teil jedenfalls muss es sein, was da gebraucht wird und das sie offenbar vor ihrem inneren Auge hat. Wir wissen es nicht, wir werden es nie begreifen. Die Taube zieht weiter, schmal und hübsch, zum nächsten Baum-Becken, gleich nebenan. Nein, hier ist nur Schrott, das sieht sie schon im Anflug. Nur kurz setzt sie ab, auf dem kröseligen Boden, guckt, dann fliegt sie fort. Weg hier. Vielleicht doch mal zu dem größeren Obi, raus ins Gewerbegebiet. 

Marseille en Mai – Redlich

Ich versuche wirklich, glücklich zu sein. Aber es fällt mir so schwer. 

Paranoid

Kürzlich fragt mich eine Freundin, ob ich eigentlich manchmal paranoid sei. Sie fragt nicht, weil sie annimmt oder findet, dass ich paranoid sei, sondern aus ehrlichem Interesse und weil sie selbst manchmal solche Tendenzen an sich erlebt. Zu meinem eigenen Erstaunen antworte ich mit Ja. Ja, ich bin es geworden. In den letzten Jahren. Nicht auf diese Art paranoid, wie man das landläufig versteht, also eine Verschwörung vermutend, davon ausgehend, dass im Geheimen systemisch-personelle Vorgänge im Hintergrund der Gesellschaft vor sich gehen, die man auch noch als einer der wenigen Wissenden zu durchschauen glaubt und womöglich vorausschauend darauf reagiert, Alu-Hut. Nein, so nicht. Einfach nur paranoid meinen Mitmenschen gegenüber. 

Früher war ich nicht paranoid. Natürlich habe ich mich manchmal gefragt, was hinter meinem Rücken vor sich geht, ich habe geahnt oder gewusst, dass die Menschen in meiner Umgebung manchmal schlecht über mich reden, dass sie nicht immer ehrlich zu mir sind, dass sie Dinge tun, die sie mir lieber verschweigen. Aber ich habe darin nie so etwas wie eine böse Absicht oder ein strategisches Vorgehen gewittert, das dazu da ist, mir zu schaden. Ich habe das eher als Teil von sozialer Interaktion begriffen, als Aspekt von Beziehung, als Versuch, Komplexität zu reduzieren, wenn Kommunikation, Gefühlslagen, Bedürfnisse zu fordernd sind, um sie transparent zu machen. Doch in den letzten Jahren habe ich Situationen erlebt, in denen die Menschen in meiner Umgebung Dinge getan haben, die sich mit den Umständen in denen sie stecken, nicht entschuldigen oder erklären lassen. Handlungen, die nichts anderes sein konnten als strategisch angelegte Aktionen zur Erreichung eines persönlichen Ziels oder Vorteils durch die absichtsvoll herbeigeführte Verschlechterung der Situation einer anderen Person. Meiner Person. 

Auch wenn ein Kern von Verständnis immer bleibt, hat das eine andere Qualität. Es ist das Erlebnis eines Betrugs. Es führt dazu, dass etwas entsteht, was man den Verlust von Vertrauen nennen kann. Der andere ist potentiell ein Feind, er ist gefährlich. Er ist in der Lage, Dinge zu tun, die man sich SO nicht hätte vorstellen können, Dinge, von denen man nicht gedacht hätte, dass DIESE Person sie JEMALS tun würde. Väter, Lebensgefährten, Freundinnen, Kolleginnen zum Beispiel. Menschen aus dem nahen Umfeld also, dem Umfeld, in dem man gar nicht existieren und agieren kann, ohne zu vertrauen. 

Man könnte jetzt sagen, muss man das gleich Paranoia nennen, ist das nicht eher sowas wie gesundes Misstrauen. Das paranoide Gefühl kommt aber anders als das Misstrauen als Überfall daher, es ist ein Schock, ein Erlebnis, eine plötzliche Erkenntnis, dass alles ganz anders ist, als man immer angenommen hat, es erfasst einen als Angst. Davor, dass es tatsächlich so ist, wie man gerade begreift oder noch schlimmer: dass die ganze Angelegenheit eine Dimension haben könnte, die man auch jetzt, in diesem Moment, nicht mal ansatzweise erfasst hat. Ein Wissen, das sich in aller Plötzlichkeit einstellt, eine bittere Wahrheit. Der Eindruck der Bodenlosigkeit ist die Folge. Einmal erlebt, kann sich das paranoide Gefühl in anderen Zusammenhängen genauso überfallsartig wie von selbst wieder einstellen und dadurch Angst machen. Es hat das Potential schwelend zu werden, wenn du nicht das Glück hast, es zu vergessen, oder die Stärke, es aktiv beiseite zu schieben, dich dagegen zu entscheiden. Hier ist sie, die Schnittstelle zum Wahnsinn oder korrekter zum Pathologischen.

Die Schwester der Paranoia ist also die Einsamkeit. Das paranoide Gefühl trennt einen ab von allen anderen. Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Auf dem stehen die anderen, alle anderen, aber nicht mehr man selbst. Vertrauen kann ab hier nur noch temporär vergeben und mit längerem Anlauf eingegangen werden. Sie macht einen selbst zu einem absichtsvoll agierenden Wesen. Das Vertrauen, das man hat, das man großzügig und ohne Hintergedanken zu geben bereit ist, weil man es für richtig, ja, für einen Wert hält, diesen Vorsprung zu geben, fällt plötzlich auf die Seite der Naivität, der Dummheit. Was hast duu denn gedacht? Sieht man doch in jeder Serie. 

Das paranoide Gefühl, dem nahen Umfeld entsprungen, geht eine unglückliche, sich gegenseitig verstärkende Verbindung ein mit den Unsicherheits- und Einsamkeits-Erfahrungen der letzten Jahre, die auf anderen Ebenen erlebt wurden. Nicht nur von mir, sondern von der Menschheit. Dazu gehört die Pandemie mit ihrem Kern einer apokalyptischen Erfahrung, der Trumpismus als Chiffre für einen bis ins Innere von Demokratien reichenden Politikwandel, der ebendiese als Vorschlag behandelt, der erlebbar werdende Klimawandel, der die Liste möglicher Todesursachen um Sturm, Hitze, Wasser erweitert und konkrete Vorstellungen über ein Leben in der Zukunft aufruft sowie der Ukraine-Krieg mit seinen Auswirkungen auf die seit Generationen gewohnte geopolitische Weltaufteilung und die in ihm enthaltene Möglichkeit eines Dritten WK oder eines atomaren Supergaus, welcher Art auch immer. 

Marseille en Mai – L’eau est bonne! 

Wir gehen ein kleines, verstecktes Hafenbecken unter einer hohen Bogenbrücke entlang. Einfache, kantige Arbeiterhäuschen, die hellen Boote im Wasser wie überall hier dicht an dicht,  ihre dünnen Masten gegen den blauen Himmel wie Spießchen an einer üppigen Tapas-Bar: para picar. Das Becken führt unter der Brücke weiter, öffnet sich nach links, ein großer Felsen auf der anderen Seite wird sichtbar. Darauf, schon von weitem hörbar, sitzen Jugendliche. Wie Vögel sitzen sie, dunkle Flecken in den Kuhlen und auf den Spitzen des Felsens, und schauen aufs Wasser, in die Weite, bewegen sich, zueinander, auseinander, richten sich auf und kauern sich nieder, gruppieren sich und vereinzeln sich wieder. 

Das Becken grenzt das Meerwasser hier zu einem Pool ab, der Felsen als Längsseite eines Spaßbads. Das Wasser türkis und durchsichtig, Adria-Style, die Sonne brennt, die Jugendlichen lachen, flachsen, ich betrachte sie, im Gehen. Ein Junge, vielleicht 14, 15, klettert ins Becken, seine dicken Sneakers an, der Seeigel wegen, ein Mädchen kommt ihm nach, sie tauchen unter, tauchen auf, die Haare dunkel und glatt, schwimmen ein paar Züge, ihr Lachen ist zu hören, ihre Rufe, ihr Atem. Als sie aus dem Wasser kommen, gehen sie mit ihren Sachen auf der uns gegenüberliegenden Seite das Beckens entlang, der Junge vorne weg. „Madame!“, ruft er strahlend herüber und meint mich: 

„L’eau est bonne!“ 

Eine Verkündung, ein Versprechen, ein Bedürfnis, das Glück zu teilen, es mit zu teilen, eine Versprechen, eine Versicherung, eine Antwort auf eine sich grundsätzlich stellende Frage, ein Versuch, Zuversicht zu verbreiten, eine Aussage, über das Wasser, das Leben.

Ich versuche, mir den Satz zu merken als wäre er ein Tattoo in meinem Hirn.  

Marseille en Mai – How to be old? 

Die Frage ist falsch. How to be ugly, how to be fat, how to be in constant pain, how to be sick, how to be immobile, how to be without body functions concerning sex, digesting, thinking, seeing, hearing, walking? How to be tired, how to be slow, how to be dumb? So muss die Frage lauten. Wie, wie, wie soll man das aushalten? Und warum? Wo sich doch hinter jeder Frage eine weitere Einschränkung des Lebens verbirgt. Als wär das nicht schon eingeschränkt genug. 

How also: not to be depressed? 

Marseille en Mai – So geht das

Ich lese Schlachthof 5. Auf meiner Liste seit ich im zweiten Airbnb-Apartment in Wien (Mai 2022) mehrere englische Vonnegut-Bücher im Regal gesehen habe, ein in den USA offenbar sehr, in Deutschland mehr oder weniger und mir gar nicht bekannter Autor. Obwohl er doch so unbekümmert Ausflüge ins Sci-Fi-Genre gemacht hat. Die junge Besitzerin der Wohnung jedenfalls, eine Amerikanerin in Wien, hatte offensichtlich ein Faible für ihn. 

Schlachthof 5 also. ’69 geschrieben, als WK II, von dem Kurt Vonneguts alter ego Billy Pilgrim uns erzählt, schon länger vorbei ist, das Buch den Nerv des Diskurses über den Vietnamkrieg trifft und als Antikriegsbuch in die Literaturgeschichte eingeht. Billy Pilgrim berichtet, wie der Krieg, den er als amerikanischer Soldat und Gefangener in Deutschland erlebt hat, so war und was er aus ihm gemacht hat. Einen kaputten, unter den Eindrücken und Erlebnissen leidenden, belasteten und davon auf alle Zeit geprägten Billy Pilgrim nämlich. Kein Wunder also, dass Billy ein Zeitreisender ist, der uns mitnimmt in seine Vergangenheit, seine Zukunft und immer wieder zurück in seine Gegenwart. Denn überall dort hat der Krieg und alles, was Billy darin gesehen hat und erlitten hat, seine Spuren hinterlassen. Die Bilder, Gedanken und Erinnerungen aus der nicht enden wollenden Hölle, in der es, gerade wenn man denkt, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, immer noch schlimmer kommt, tragen ihn von einer Zeitebene in die andere. In lakonischem Ton beschreibt er, was passiert, sich selbst und seine Zustände. Er ist so geworfen in die Grausamkeiten und Absurditäten des Krieges, dass er darin nicht mehr als Handelnder erscheint, sondern manchmal beinahe drollig und tölpelhaft erscheint. Auch auf den Planeten Tralfamadore nimmt Billy uns mit, wohin er entführt wird, weil die Tralfamadorianer sich für die Spezies Mensch respektive ihren Vertreter Billy interessieren, ihn und die krieführende Menschheit aber mit technokratisch achselzuckendem Fatalismus betrachten, sodass auch diese an ein Delirium oder einen Morphiumtrip erinnernde Parallelwelt ebenfalls nicht wirklich als Entlastungsfantasie für Billy funktioniert. 

Hinter der sich selbst nicht besonders ernst nehmenden Figur und dem Irrsinn der Ereignisse sind Billys Schmerz und Verzweiflung die ganze Zeit spürbar, genau wie der Wahnsinn, der Billy angesichts der Erlebnisse zu befallen droht, in den er sich flüchtet oder in den die Morphiumspritze ihn entlässt. 

Ein einzelner kurzer Satz zieht sich wie ein Refrain, eine Interpunktion, ein grausames Mantra oder eine Lebensweisheit durch das Buch: So geht das. So it goes im Original. Jedesmal, wenn Billy, so zumindest mein Eindruck, schildert, wie und dass jemand gestorben ist, setzt er am Ende diesen Satz: So geht das.

Nachdem ich das Buch einmal komplett durchgelesen habe, merke ich erst, dass es mich erschüttert hat, vielleicht weil es auf diese seltsam leichte lakonisch-warme Weise die Verzweiflung eines Menschen beschreibt. Ich beginne noch einmal von vorn, um alle So geht das zu zählen. Ungewohnt nerdig für mich, aber es ist mir ein Bedürfnis, das zu tun, keine Ahnung warum. Vielleicht nur, um zu sehen, ob ich recht habe, mit meiner Vermutung, dass jedesmal jemand stirbt und die literarische Technik genauer zu untersuchen, vielleicht, weil ich es als Respekt vor den Toten empfinde, als Respekt auch vor Billy Pilgrim und seinem Autor Kurt Vonnegut, der all diese Totengeschichten gehört und erlebt hat. Ich komme auf 87 So geht das

87mal kommt in diesem Buch jemand zu Tode. In 10 Kapiteln, auf 200 Seiten. Meistens ist es eine konkrete Person, einige Male sind es abstrakte Mengen wie Bevölkerungen von Städten, zweimal sind es Tiere, einmal ist es Billy selbst, der den „Zustand des Totseins“ dann aber wieder verlässt und überlebt. Einmal ist es Champagner, der nicht mehr blubbert und einmal Wasser, dessen Blasen es nicht mehr an die Oberfläche schaffen. Als an einer Stelle Läuse, Bakterien und Viren sterben, bekommen die kein So geht das. Sein, ja, wie soll man ihn nennen, Kamerad ist so ein fürchterliches Wort, sein Kriegsgefährte auf Zeit, Edward Derby, bekommt gleich 4 So geht das, sein Tod wird im Buch also mehrfach erwähnt. Zu Beginn spricht Billy davon, dass Derbys Tod der Höhepunkt des Buches sein wird, was dann aber nicht der Fall ist, Derby stirbt literarisch genauso brutal lapidar wie tatsächlich, doch die mehrfachen, mit So geht das geadelten Erwähnungen an unterschiedlichen Stellen des Buches verstärken den Eindruck, dass sein Tod für Billy ein ganz besonders schmerzvolles weil so widersinniges Ereignis kurz vor Kriegsende war, in dem der ganze absurde verschwenderische Wahnsinn des massenweisen Sterbens kulminiert.

In der neuen Übersetzung lautet der Satz übrigens: Wie das so geht. 

Beim zweiten Lesen begreife ich noch mehr, wie Vonnegut seine Motive benutzt, um Billys unruhige Reise durch seine inneren Zeiten zu erzählen. 

Interessant ist, dass ich noch nie davon gehört habe, dass die Deutschen amerikanische und englische Kriegsgefangene hatten. Bin ich die einzige? Ich frage ein bisschen herum, niemand hat davon gehört. Bemerkenswert. 

Außerdem interessiert mich die Rezeption des Buches in Deutschland, immerhin geht es um den Bombenangriff auf Dresden, ein hier immer wieder und vor ein paar Jahren nochmal heftig hochgekochtes Thema, ein umstrittener Punkt von links bis extrem rechts, deutscher Opferdiskurs, Wiederaufbau der Frauenkirche, Diskussionen wie das Endes des Krieges zu interpretieren ist, bis heute veranstalten nationalsozialistische Gruppen sogenannten Trauermärsche, in der DDR gab es am Jahrestag kirchlich orientierte Friedensdemonstrationen. In der amerikanischen Lesart ist das Buch 1969 vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs ja eher als Frage an die USA gerichtet, die ihre jungen Männer in einen Krieg geschickt, und ein Massaker angerichtet hat. Auch interessant ist, dass Vonnegut und die Welt damals davon ausgingen, dazu gibt es eine verlegerische Vorbemerkung im Buch, dass in Dresden 135.000 Menschen starben. Heute weiß man, es waren zwischen 22.700 und 25.000.  Die hohe sechsstellige Zahl kam nach der Bombardierung durch nationalsozialistische Propaganda in Umlauf. 

 vor allem rechts.  und so weiterdarum, dass die Deutschen amerikanische Kriegsgefangene genommen haben, der durch die Zeit reist, in seine Vergangenheit, seine Zukunft und immer wieder zurück in die Gegenwart, und

und welche Spuren er in ihm für seinen GEgenwart hinterlassen haben und in seiner Zukunft hinterlassen haben werden. er immer wieder weiltm er sich vielleicht im Delirium des Krankseins, durch Morphiumgabe ein Bis ins Delirium folgen wir ihm, entstanden durch schwere Krankheit, Morphiumgabe, 

den Rand des Wahnsinns an den er sich getrieben sieht, 

bis auf den die ihm widerfahren, dass er darin nicht als Handelnder die , lakonisch, im Modus der manchmal gerade zu drollig wirkenden Feststellung die Grausamkeit, im Modus der Feststellung des Absurden, , der Lakonie geschrieben, teilweise als Delirium oder Trip erzählt (eine Reise auf den Planeten Tralfamadore

Marseille en Mai 2023 – Stucki

Niemand wird diesem Buch gerecht, ist mein Eindruck. Hauptvorwurf: Es ist von einem Mann geschrieben, nicht von einer Frau. Es geht um eine bromance. Well … Es verfügt och wach Es geht um einen freund, der sich von einem Freund verabschiedet, mit dem ihn lange viel verbunden hat, bei allen unterschieden, bei aller Netzwerkartigkeitsaspekten, die die Beziehung hatte, jemand der dsagt, auch wenn ich dankbar dafür sein kann, dass du mich gemocht, eingeführt, ausgeführt und mir einen lukrativen Job mit allen kreativen Freieheiten gegeben. hast, bin ich jetzt, an dieser Stelle nicht mehr bereit, mich dir geenbüer loayl zu verhalten und kündige dir die bromance auf. 

Die Großbuchstaben Headlines wie bei der Bildzeitung. Die zentrale frauenfigur mit einer rotzigen ansageartigen Sprache ausgestattet, dass es eine Freude ist und die Person weder schwach, noch sympathsich, noch außerhalb des Spiels zeichnet und trotzdem sagt, Recht hat sie. Sich zu wehren. Recht hben sie allesamt.

Der Boebachter ein bisschen zu gut weg, aber leicht macht er sichs auch nicht, außen vor ist er und doch mittendrin in der Spracheund dem sein , bemührt sich mit seinem 90er Zynismus im Status des Boebachters im sAttel zu halten. 

Mai 2023 – Marseille en Mai – How to be old? 

Die Frage ist falsch. How to be ugly, how to be fat, how to be in pain, how to be sick, how to be immobile, how to be without body functions concerning sex, digesting, thinking, seeing, hearing, walking? How to be tired, how to be slow, how to be dumb? So muss die Frage lauten. Wie, wie, wie soll man das aushalten? Und warum? Wo sich doch hinter jeder Frage eine weitere Einschränkung des Lebens verbirgt. Als wär das nicht schon eingeschränkt genug. 

How also: not to be depressed? 

Mai 2023 – Marseille en Mai – Gefährdet

Das Belohnungsprinzip trifft ins Mark, fällt wie kühler Regen auf ein erhitztes, durstiges Feld, endlich mal Anerkennung, endlich mal jemand, der STERNCHEN, HERZCHEN, SCHMETTERLINGE abfeuert im Überfluss, einfach nur weil du DA bist, der Punkte an dich verschleudert, noch einen Bonus obendrauf legt, weil du was NEXT-LEVEL! gut gemacht hast. Wann hat es das jemals gegeben? Mama, Papa, Arbeitgeber?

How not to get addicted. 

Mai 2023 – M.

Ich hab meine Mutter nicht gekannt. Sie hatte einen Körper. In dem ich lag, in dem ich mich bewegt habe, der roch und feucht war. Dessen Enge mir nicht wie ein Gefängnis vorkam, erst am Schluss. 

Ich erinnere mich an einen Rock, in dem ich sie mochte. 

Es muss Liebe gegeben haben, bei aller Fremdheit, bei aller Enttäuschung, bei aller Irritation. 

Das Wesen: Meine Mutter. Molluskenartig. Ihre Blässe, ihre Schüchternheit, ihre Scheu.

Mai 2023 – Wackelka

W. wackelt wieder. Ich rutsche in eine Depression und weiß nicht, was ich dagegen tun soll. 

Wieso hat keiner Medis dagegen? Die man einfach mal einnimmt, ein paar Tage, Wochen, ein paar Better-Feeler, Light-Upper, gleich bei den ersten Anzeichen. Einwerfen, und wenns wieder geruckelt ist, Schluss damit. Die Reste aufgehoben im Schränkchen, fürs nächste Mal. Vielleicht bin ich deshalb heute hier, bin ich immer nur dann hier und deshalb? Gehts nicht mal ohne, Wackelka ohne Wackeln, nicht möglich? Anscheinend nicht. 

April 2023 – writers block – 2

Ich bin so voll, so voller

ich bin so geladen

aufgeladen

Man müsste nur eine App an mich dranhängen, 

die mit Bluetooth übertragen bekommt, was in mir drin ist und alles verschriftlicht. 

Feine Drähte gingen auch, aber die tun vielleicht weh. Bluetooth ist moderner. 

Doch solange es das nicht gibt,

bleibt alles in mir drin, 

und ich platze,

weil ich nicht weiß, wie es heißt, wo es hingehört, wohin es getragen werden muss, 

weil ich es weder sehen, noch hören, noch sprechen kann,

weil ich es verdammt nochmal

nicht schreiben kann!

Februar 2023 – so eine Frau

Ich gehe zur Wahl (Wiederholung!). Diesmal muss ich in die Kita, die in der Parallelstraße zu meiner liegt. Als ich durch den Hof gehe, in den ich von meiner Wohnung aus schaue, sehe ich das Haus, in dem ich wohne zum ersten Mal von dieser Seite. Ich bleibe stehen, suche für einen Moment die Stockwerke ab, bis ich sie habe, meine Wohnung. Den Balkon. Das Schlafzimmerfenster.

Da wohnt so eine Frau, denke ich. In diesem Kästchen. Neben anderen Kästchen. Manchmal sieht man sie im Sommer auf dem Balkon, die spärlichen Pflanzen gießen. Manchmal im Schlafzimmer, weil sie die Vorhänge zuzieht. Oder auf. 

x-beliebig. Eine soziologische Einheit. 

Heute mal angeschrieben vom Amt. 

Februar 2023 – Wackelbeine

Männer, die mit Beinen wackeln. Sitzen in der U-Bahn, im Café, im Wartezimmer und 

wackeln, wackeln, wackeln 

mit dem Bein. 

Rechts oder links, immer nur eins. Vornehmlich jung, die Männer. Schauen beim Wackeln gern aufs Handy. Handy auf der Nicht-Wackel-Seite. Logisch, sonst Wackel-Handy. 

Wackel-Technik: Den Fußballen aufstellen, so dass die Ferse frei hängt, das Bein über die Knieachse rauf und runter bewegen, hohe Geschwindigkeit, kurzer Weg. Stundenlang. 

Alter, was ist das?

Zu viel Energie, die raus muss? Stürme im Körper, im Geist, die übertragen werden ins Bein, um Ruhe herzustellen, im schwer umtobten Innern? 

Unsicherheit? Der junge Männerkörper immer so da, so groß, so ungelenk, so wichtig. Wohin mit ihm?, ins Bein. Wohin mit seiner äußeren Betrachtung, wegwackeln ins Verschwommene, ins nicht genau Sichtbare, abgelenkt den Blick, fokussiert aufs Wackel-Bein? Wackeln aus Nervosität, Wackeln gegen das Unbehagen, den ständigen inneren Konflikt, externalisiert in eine nicht enden wollende Übersprungshandlung? Warum genau dorthin? Warum bei so vielen? Auf genau diese Art und Weise? Ist das Wackeln angenehm in der Bewegungs-Übertragung Richtung Leiste, Penis, schaukeln diese Männer sich also eigentlich die Eier, wenn sie mir gegenüber, neben mir sitzen, frage ich mich.  Was geht da vor sich? Ist das ein kultureller Code, heißt wackeln, ich bin ein lockerer Typ, voll locker in der Hüfte?

Wenn du neben ihnen sitzt, Sitze, Stühle, Bänke mit ihnen teilst, wackelst du mit. Sie nehmen dich mit, auf ihre Wackelreise, mit rein, in ihre Wackeldynamik. Wenn sie merken, dass sie dich mitwackeln, hören sie auf. Kurz. Dann machen sie weiter, sie können nicht anders. Sie müssen wackeln, sie werden gewackelt. Sie wackeln sich. Sie wackeln. 

Die Wackelkandidatin versteht das.  

Februar 2023 – writers block – 1

Ich kann den Arm nicht heben, ich kann den Gedanken nicht fassen, ich habe Angst vor dem was passiert, wenn ich schreibe, vor dem Gefühl allumfassender, existentieller Sinnlosigeit meines Tuns, aus dem sich nichts ergibt, aus dem nichts folgt, bei allem Erfolg nichts folgt, das mich nirgendwo hinbringt, an keinen Ort, in kein Zuhause, das mich fallen lässt, am Ende, enttäuscht zurück lässt, enttäuscht von mir selbst, von anderen, verraten von Vertrauten, nicht verstanden, unverstanden, verstanden, aber was solls.

Januar 2023 – Ratzinger

Ratzinger wird in allen Ehren gewürdigt, von Spiegel über Zeit bis SZ sind sich alle einig, diese hochgewachste Leiche, die wir uns da gerade ansehen müssen, war ein großer Mann. Dass er ein Rechtsradikaler und Verbrecher war, der seiner Kirche treue und aktive Dienste dabei geleistet hat, Verbrecherisches zu begehen und Rechtsradikales zu verkünden und zu beschließen (vor der Staatsanwaltschaft geschützt durch die Staatsbürgerschaft einer Nation namens Vatikanstadt, wer hat das eigentlich beschlossen?) – darüber schreibt niemand. 

Dezember 2022 – Age and Irritation

Jobgespräch. Wie alt bist du eigentlich? Als ich ihm sage wie alt, ist die Reaktion verheerend: Er kann es nicht glauben. Daraus folgt: a. Ich werde den Job nicht bekommen. b. Die Kollision zwischen dem, was ich bisher für ihn war (aufgrund meiner Arbeit, aufgrund meines angenommenen Alters), und dem, was das Faktum meines Alters aus mir macht, ist zu groß. Ich fühle mich, als hätte ich einen Betrug begangen. 

Warum also lüge ich nicht einfach weiter wie bisher. 

Oktober 2022 – Im Bus

Ein Koffer haut ab durch die Mitte 

bis vorne zur Tür

Keine Chance. 

 

Ein gelbes Blatt fällt auf den Sitz

Es hat sich gelöst

vom Parka eines Mannes

Auf seinem Telefon

ein Foto von ihm 

und seinem Sohn

Nun sitzt er da. 

 

Neben der Frau mit dem Stadtplan in der Hand. 

Juli 2022 – Laube hüten – Notizen

Vasektomie

Die Vasektomie plötzlich Mode- und Partythema. 

Wieso das jetzt? Klimawandel? Alter des Umfelds? Verhütung jetzt auch Männersache, weil Feminismus grade auch voll hip Männersache? Zu viele männerbiografische Erfahrungen mit Kind als Unfall bzw. Kind als Mogelpackung durch Frau?

double-bind

Diese ewige Doppel-Existenz zwischen „Jaja, wichtig, wichtig: der Körper“ einerseits und „Alles ist konstruiert“ andererseits. (im Selbst und im Diskurs)

Lider

Meine Augenlider werden immer schwerer. 

Eines Tages werden sie so schwer sein, dass ich sie nicht mehr öffnen kann. 

Bis dahin: wie knarzende Türen. 

Yoga

Ich mache 20 Tage von 30 Yoga with Adrienne am Stück jeden Morgen, dann habe ich einen Hexenschuss, weil ich mich nach links wende, um das Licht anzuschalten. 

Pillen

Leute nehmen Pillen, um out of control zu sein, ich nehme Pillen, um in control zu sein. 

broken windows theory

Alle beklagen sich und leiden an der Lieblosigkeit der Welt, und alle schlussfolgern daraus, dass sie dann ja auch lieblos sein können, nun ists eh schon egal. 

Die broken-windows-Theorie der Gefühle

ego alter

Der Egoismus der alten Leute, nicht mehr bereit, irgendwas aufzunehmen, höflich zu sein, 

er bringt seine Fotos vorbei, fragt nicht, ob er sich setzen darf, tut es einfach, im Vertrauen darauf, dass alle anderen zu höflich sind, ihn in seinem unendlichen Redefluss zu stören, weil er ja alt ist, zurecht, ich kann mich nicht wehren, die Hinweise verhallen ungehört, das Reden muss raus, das Leben, die Leistungen, die Eckdaten, die Witze, ich fühle mich ausgebeutet, alter Trigger, M., L.,

Reden als Missbrauch

umgestülpt

Ich stelle mir vor, dass das Ende sich anfühlt als stülpe man sich um, als trete das Innere nach außen, wie bei einem Tier, das man aufschlitzt und alles was darin ist, nach außen drückt, als kotze man, aber langsam, nicht schwallartig, und an der Kotze hängt alles andere mit dran, und geht auch mit nach draußen, inklusive deinem Gehirn.

Drosophila

Ich scheuche eine Fruchtfliege auf, die empört, panisch, einen Moment orientierungslos, weil ich ihr die Lebensgrundlage geraubt habe, die Leinwand vor mir durchmisst wie ein Fleck im Auge.

Juli 2022 – Coronana

Das T. ist verblasst. Zumindest das T auf dem Corona-Test. Spät hats mich erwischt, 

aber nun, im Sommer 2022, als Corona endemisch wurde, doch noch. 

Viel ist passiert, über das ich mich ausgeschwiegen habe. Eine Pandemie, einen Trump und einen Krieg später melde ich mich zurück. Oder auch nicht. Wir werden sehen. 

Auf T. folgt U. Wer hätte das gedacht. Ich nicht. 

Abschied von Herrn Meutzner. Der mir am Ende die Hand gegeben hat. Stellvertretend für alle Berührungen, die nicht stattgefunden haben. Ein Narr, wer an sie denkt. 

In Marokko gewesen. In Kroatien gewesen. Zwei Wochen in Wien verbracht. 

Einen neuen Namen bekommen. Oder mir selbst gegeben. 

Eine Serie abgeschlossen. Eine Staffel 2 abgelehnt. (schwierigste Entscheidung ever) 

eine Klimakatastrophe am eigenen Leib gespürt. 

eine re:publica mitgemacht. 

Eine Systemumstellung erlitten, Samsung auf iphone, PC auf Apple. 

Einen Alterungsschub später (Venen, Meno, Bauch, Hüftgold, Haut, Rücken).

Es tut mir leid, dass ich nicht geschrieben habe. Aber es ging nicht,

es wird mir leid tun. 

Ich werde vermissen, was passiert ist, 

Nur was dokumentiert ist, ist passiert. Nur was teilbar ist. 

Ich habe nichts über meine Irritation angesichts der Kriegsbegeisterung geschrieben, die auch im 6. Monat nach Beginn bei Shitstorm-Strafe verboten ist. 

ich habe nichs über Wien geschrieben, nichts über wokeness, nichts über den Sex, den ich gehabt habe, nichts über den Mann, den ich gefunden habe. Nichts über die Kinder, die in mein Leben getreten sind, ohne dass mich das begeistert. Mädchen noch dazu. 

So weit. So kurz. 

Details möglicherweise später. 

Juni 2022 – Im Havelka

Im Havelka

Ich lese die FAZ, die war noch frei. 

Ein alter Mann kommt rein, verdächtig dunkle Haare, heller Leinenanzug, dunkles Hemd, Hut, den er abnimmt, er hats schwer mit dem Laufen, wackelt zu seinem Tisch – offenbar ein guter Bekannter hier, der Oberkellner grüßt und organisiert kaum merklich, aber auf besondere Weise (für großes Aufheben ist er zu cool). 

Der Mann wackelt an meinem Tisch vorbei, Is a guade, sagt er, und meint die FAZ. Die Zürcher find i noch besser. 

Alles klar. 

Er setzt sich an einen Tisch hinter mich, bestellt zu essen und einen Braunen. 

Maria, hör ich ihn weinerlich betteln, a Busserl! Er meint die Köchin, a Busserl, Maria, komm, nur a kloans, immer wieder sagt er das, in diesem jammerigen Ton. Oder willst eins aufn Mund haben, Maria?  

Ich kann nicht glauben, dass es so ein Exemplar wirklich gibt.  

Vor mir liest einer die Süddeutsche, hinter sich ein Oscar-Werner-Plakat (gibt grade ne Ausstellung über ihn), ein anderer hat das Laptop offen, scrollt auf der Berghain-Seite herum. 

Das sind hier so die Gleichzeitigkeiten. 

Der Alte bettelt noch immer, langsam wird mir schlecht davon. Es nützt nichts, Maria kommt nicht raus aus ihrer Küche. Der Chef persönlich mischt sich schließlich ein, fragt die Küchenhilfe aus Budapest, die Allerschönste, wie der Jammerer sie nennt, der sich nun auf sie verlagert, sicher auch, um Maria eins auszuwischen, ob sie dem Herrn nicht ein Busserl geben will. 

Wie im Bordell hier. 

Hervorragend wars heute, höre ich den Alten irgendwann sagen. 

Er steht auf, um zu Gehen. Kommt wieder an meinem Tisch vorbei. 

Wir haben uns nicht weiter kennen gelernt. sagt er. 

Nein, sage ich. Das haben wir nicht. 

Es war mir eine Freude, er nimmt meine Hand. Seine Nägel rillig, die Haut trocken: Auf Wiedersehn. 

Auf Wiedersehen, sage ich. 

Er schwankt davon. 

Lang wirds ihn nicht mehr geben. 

Mai 2022 – Charlottenburg, KadeWe

Am Nachbartisch eine Mutter, blond, Zehlendorf-Typ in ihren Mid-50s, und ihre drei flüggen Kinder, 2 Mädchen, ein Junge, alle zwischen 19 und 25, gut gekleidet, aufgeräumt. 

Eine Diskussion entbrennt, um „die Wohnung“ – Mama hat in den Raum geworfen, sie vermieten oder verkaufen zu wollen. Die Geschwister zanken, das Muttertier genießt, umrundet von ihren Küken, die wie früher im Spielzimmer, ihre Argumente ins Feld führen, ihre Strategien abfeuern, jedes auf seine in der Geschwisterkonstellation und in der Mutterbeziehung logische Art und Weise, warum sie die Wohnung unbedingt brauchen, haben müssen, ja, warum sie ihnen rein logisch aufgrund anderer biografischer Verteilungskämpfe und Zuteilungsentscheidungen zusteht. Der Junge, der Jüngste, laut und kindisch, die älteste Schwester ruhig und vernünftig, das Mittelkind gequält und in der Schweigeposition, so haben sie alle ihre Masche für sich, für Mama, ihren nicht weg zu denkenden Groll auf „die anderen“, die wie immer dies und schon wieder das machen, um zu bekommen, was sie wollen. Sie werden unterdrückt laut und leise heftig, sie sind unglücklich, beleidigt, gekränkt, und es wird klar, das ist nur eine Wohnung neben anderen, weil diese Familie eben Wohnungen hat, und es sich hier, bei diesem Zwist, nur um die in Berlin handelt, die der Junge jetzt sofort dringend möchte, weil er dort mit seinem buddy eine WG aufmachen will und weil die anderen die doch nur haben wollen, weil er sie haben will, und weil es fies ist, zu sagen, er könne sich gar nicht selbständig um eine Wohnung kümmern, er würde sie nur herunter wohnen,

niemand ist hier unsympathisch oder sympathisch, es ist nur mal wieder die alte Erkenntnis, dass auch die Kardashians Probleme haben, dass sie Mütter, Schwestern, Brüder sind, und den Papa,

nein, den lass mal raus,

der ist bei der Arbeit.  

Mai 2022 – Das Neuste vom Body

Eine Unförmigkeit stellt sich ein, die ich zu bekämpfen versuche, so erfolglos wie irritierend. Eine Fremdheit im Körper, eine Langsamkeit, ja, Behäbigkeit,

im Schmerz

verharrend,

in der Anspannung. 

So wird es sein. So ist es nun. Erahnt und gefürchtet, und dennoch nicht vorstellbar. 

Mai 2022 – Malaga im Mai

Keine risikofreier Besuch. Trotzdem will ich ihn machen, kurz. 

Im Flieger sitzt eine junge Frau neben mir, sie schreibt ununterbrochen. Sie ist nicht nett und killen könnte ich sie sowieso. So lange lost jetzt schon, was das Schreiben angeht. Worauf warte ich, Staffel 2, ha, wie sich alles entwickeln wird, ab März, April? 

Ich finde die alten Gebäude neben den modernen. La Malagueta, ich sitze lange im Sand, dann in der Strandbar. Das kleine Café auf der Plaza hat bis März geschlossen. Den Zeitungsverkäufer finde ich nicht mehr, traurig-smiley, er war alt. Hat mir die SZ verkauft, ungerührt, und meine beiden geliebten Armreifen. Ich erinnere mich an Fotos, die ich gemacht habe, an Situationen, natürlich. 

Andere T.s: Teurer, touristischer, trockener. 

Enorme Hotelbauten, der ausgetrocknete Fluss noch immer Ort für Graffiti, Hunde, Skater, 

ich geh gleich mal shoppen, die Weihnachtsbeleuchtung absurd bei warmen Sommerabend-Temperaturen. 

Ich arbeite meine Liste ab, Castello de Gibralfaro, da bin ich das letzte Mal aber weniger aus der Puste gewesen, der Strand, der Hafen, die Innenstadt. Stundenlang.

Auch die Kakerlaken sind noch da, gestern Nacht, monstergroß von links nach rechts, fit und eklig. 

Eine Ausstellung interessiert mich, aber ich muss noch das Ticket besorgen. Torrox Costa bei P., na was das wohl wird. 

Mai 2022 – Tx, das Ende

Herr M.

Herr M. tickt, wie eine kleine App in mir, so heißt sie auch: Herr M. Die ich aufrufen kann. Jederzeit.

 

 

Die Tür 

Die Tür, sagt er. Sie ist offen, aufgegangen. Sie stehen nicht mehr ohnmächtig davor und schreien. Die Welt hat sich als flexibler erwiesen. Die Tür ist auf. Sie müssen nicht durchgehen. Sie entscheiden. 

 

 

9. Mai

Er gibt mir zum Abschied die Hand. Die fühlt sich gut an, fest, sehr gleich mit meiner. Wir haben uns nie berührt. Am Anfang? 

Später, als ich weine, auf irgendeiner Toilette, wird mir klar, dass ich verliebt in ihn war. 

April 2022 – Essaouira

Geräusche: 

Möwen! 

Muezzin – als gäben sie sich die Türen in die Hand. Dann verstummen sie plötzlich. Nach welchem Prinzip, undurchschaubar

Baustellen (Schlagbohrmaschine)

schlagende, klappende Türen

Palmenblätter, die vom Wind aneinander streifen

wie hilflose Grillen

April 2022 – Notiz

Ich habe mich immer in die väterliche Dynastie eingeschrieben. 

Was war das? 

Verrat?

Rettung?

Fluch? 

Wäre man womöglich „männlicher“ (autarker, selbstbewusster, mehr bei sich) gewesen, hätte man sich auf die Frauen verlassen? 

(Mama? – nein.) 

März 2022 – Doku

Was nicht dokumentiert ist

ist nicht passiert.

Es hat nicht

stattgefunden. 

ist nicht gewesen

existiert nicht.

Was aber ist eine Dokumentation? 

das Foto? der Text? die Anwesenheit eines anderen? 

check check und check

Der Mitschnitt von Auge, Herz, Hirn

Ihre Spuren im Inneren?

Wie vergeudet, leer 

es sich anfühlt, 

wenn niemand etwas weiß 

wie sinnlos alles ist

ohne die Gerichtetheit

die Veräußerung.

In der Dokumentation:

die zumindest imaginierte 

Nachwelt

Februar 2022 – Schreibmodi

Ich bin in ständigem Kontakt, im ständigen Austausch

Ich schreibe gerichtet, an jemand, 

über Dinge

zwischen A und B. 

Ich ordne hübsch an, ich lege es hin und vor, 

vor die Füße der anderen. 

Das nimmt mich vollkommen ein.

Deshalb schreibe ich nicht mehr hier. 

Januar 2022 – Felsbrocken

Das Jahr rollt auf mich zu wie ein Felsbrocken. Die Angst ist zurück. 

Und was machst du jetzt?, fragt U. 

Und was machst du heute?, fragt U. 

Und erzählt mir, was er jetzt macht. Und heute. 

Notiz

Der Wunsch nach Verständigung und gemocht werden ist riesig. 

Was soll das? Warum ist das nicht einfach egal? 

Notiz 

Alles DRECK. keine Schreibkraft. 

August 2020 – Kryonik

Einfach mal Stopp sagen,

sich einfach mal einfrieren lassen

In die Kühle hinabsinken, den Atem flach halten, das Glas beschlagen

Und dann 

Irgendwann 

Nachdem alles anders wurde

Auftauen und 

Sich neu

Orientieren.

Ich kann das schon verstehen.