Mai 2020 – Corona 35 – Maulkorb

Die Maske ist jetzt ein Maulkorb.

Hygiene-Demos auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Jeden Samstag werden es mehr Leute, bundesweit. Impfgegner, Bill-Gates-Hasser, Fake-News-Trompeter, Wir sind das Volk-Rufer. Attila Hildmann will sich bewaffnen, Xavier Naidoo ist sich sicher, die Erde ist flach. Wer vom Platz verwiesen wird, weil er den Mindestabstand nicht einhält, hat seine Bestätigung. Der aufrechte Bürger trägt keine Maske, sondern Schaum vor dem Mund. Und den lässt er sich nicht verbieten.

Was links ist und was rechts, weiß keiner mehr, jetzt auch nicht mehr, wo oben und unten ist.

Ich bin irritiert über mich selbst. Warum empfinde ich die staatlichen Maßnahmen nicht als Übergriff, als massive, unerlaubte Einschränkung meiner Freiheit. Warum bin ich nicht empört, dass die Politik sich in mein Leben einmischt, beschließt, dass ich keine Menschen mehr sehen darf, mich nicht lümmelnd in Parks aufhalten, dass ich keine Landesgrenzen mehr übertreten darf, von zuhause arbeiten soll, dass sie dafür sorgt, dass ich nicht mehr in Cafes, in Shops, zum Sport gehe, dass sie es mir erschwert, mich zum Demonstrieren zu versammeln, mir das Feiern im Club verbietet, den Gang ins Theater, ins Kino, in die Ausstellung, dass sie mich anweist, ein bestimmtes Kleidungsstück zu tragen und einen Mindestabstand zu meinen Mitmenschen einzunehmen. Der Staat verhandelt, strukturiert, prägt, kontrolliert gerade meine Arbeit, mein Körper, mein Sozialleben, meine Bewegungsfreiheit, meine Zugriffe auf die Welt. (das macht der immer, was anderes muss man sich nicht einbilden, aber jetzt gerade besonders und anders). Die Antwort ist ganz einfach: Weil ich es sinnvoll finde. Und von dem Staat in dem ich lebe, bzw. der Politik schlicht erwarte, dass sie diese Maßnahmen trifft, um eine Pandemie in den Griff zu bekommen. Dass ich es sinnvoll finde, hat etwas mit Aufklärung, mit Transparenz in den Prozessen zu tun, die in der Politik vor sich gehen, damit, dass man mir mitteilt, auf welchen Erkenntnissen, Erfahrungen, auf welchem Wissensstand die Maßnahmen entwickelt werden, welche Institutionen einbezogen werden, welche Fragen an wen gestellt werden. Von Anfang an gab es viele Debatten. Als es um die Tracing-App ging, kamen die Datenschutz-Leute. Als nur noch Herr Drosten zu hören war, wollten alle die Leopoldina-Studie hören. Leute wie Prantl oder Zeh haben die Einschränkungen aus rechtlicher Sicht problematisiert. Niemand hat von einem Tag auf den anderen einen radikalen Lockdown beschlossen, der zu Chaos geführt hätte. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich keine Militärs mit MP im Anschlag patrouillieren, ich erlebe keine Polizei, die sich aufspielt, Schikane betreibt. Ich habe nicht den Eindruck, dass hier unter der Hand Notstandsgesetze erlassen wurden, mit denen eine Diktatur installiert oder ihre Basis weiter ausgebaut werden soll wie das allerdings in Ungarn und Polen, also mitten in Europa der Fall war. Von Anfang an war die Zivilgesellschaft da, mit Solidarität, mit Ideen, mit Kritik und Versuchen, auf Corona als Problemverstärker aufmerksam zu machen bei Wohnungslosigkeit, Verkehr, Risikogruppen, Psyche. Tut mir leid, aber ich finde: Im Großen und Ganzen ist das hier auch was die Dauer angeht nachvollziehbar und gut gelaufen. Doch jetzt, in der Phase der Öffnung, in der alles auseinander zu fliegen, nicht mehr anbindungsfähig scheint, in der die Felder komplex sind, weil es plötzlich auch um Entscheidungen geht, die zukünftig sind, so dass es schwer ist, den Überblick zu bewahren, und maßvoll zu agieren, jetzt bauen sich die Mauern auf, gegen die man wird anrennen müssen. Denn jetzt ist die Phase der Reviermarkierung, der Ressourcenverteilung gekommen, jetzt geht es darum, sich zu platzieren, sein Stück vom Kuchen abzukriegen, darum, ob man besser oder schlechter aus der Krise hervor geht, jetzt ist die Zeit des Lobbyismus. Jetzt ist die Frage des Zurück eine nach dem Zurück in was? Hier wirds politisch, hier wird’s interessant, hier kann und muss man sich zur Wehr setzen, denn der Backlash droht an allen Ecken und Enden. Von wegen was wir alles gelernt haben, was für positive Erfahrungen wir gemacht haben, dahinter kann man doch gar nicht mehr zurück fallen – also erstens: stimmt das? und zweitens: Und wie man das kann! Corona als Argumentationsgrundlage für schlechtere Löhne, höhere Preise, Einsparungen, Privatisierungen, Rettungsschirme für die Industrie ohne jedes klimapolitische Wenn oder frauenpolitische Aber wird uns um die Ohren gehauen werden, dass es saust. Von den Ego-Shootern auf dem Rosa-Luxemburg-Platz wird sich dann keiner mehr blicken lassen.

Mai 2020 – T41

Beim Therapeuten gewesen,

über Konflikte gesprochen und die alte Frage: Reingehen oder Draußenbleiben, und über die überbordende Angst und unbändige Kinderwut, die eine adäquate Antwort darauf so schwer machen.

Mai 2020 – Kinderinfiltration

Ich gehe die Ackerstraße entlang. Ein Mann geht hinter mir mit seiner kleinen Tochter, sie ist vielleicht acht. Was steht da, fragt sie. No border no nation, sagt Papa. Was heißt das, fragt sie. Das heißt, dass die keine Verantwortung übernehmen wollen. Er wird lauter, aggressiver im Ton, als er ihr weiter die Zusammenhänge erklärt. Die sind total realitätsfern. Die wollen keine Staaten. Wie Deutschland, fragt sie. Ja. Aber dann kommen alle Flüchtlinge rein, sagt sie. Er schnaubt, genau, ganz genau, und beide sind erfreut darüber, dass sie aufgepasst hat und sie sich so einig sind.

Morgens auf der Auguststraße. Eine Mutter und ihre Tochter, ca. 11. Aber braucht man die nicht beim Bäcker, fragt die Tochter, und meint offensichtlich die Maske, die sie nicht dabei haben. Ja, sagt Mama, aber die können uns ja nicht dazu zwingen eine zu tragen. Das ist eh alles totaler Blödsinn. Ja, sagt die Tochter. Und dann sieht man es eben nicht mehr ein, die Mutter.

Ich frage mich, wie meine Eltern das gemacht haben. Haben die mich auch so infiltriert? Mein Vater vielleicht, der hat mir auch immer erklärt, wie die Welt zu sehen ist. B. in gewisser Weise auch. Aber was B. gesagt hat, fand ich nie gut. Was mein Vater vorgetragen hat, mit ähnlicher Verve wie der Ackerstraßen-Papa, nur inhaltlich anders, schon. Aber warum? Nur weil ich meinen Vater toll fand und ihm gefallen wollte? Oder konnte ich das irgendwie doch schon beurteilen und hatte zumindest ein dumpfes Gefühl von richtig und falsch, gut und schlecht. Woher kommt, wie man denkt? Sollte man mit seinen Kindern nicht über Politik reden, sie nicht teilhaben lassen, an der eigenen Weltanschauung? Das wär ja irgendwie absurd.

Wie immer denke ich, Eltern sind eben einfach nicht gut für Kinder. Man muss die in die Kita und in die Schule schicken, so früh, so lange und so oft wies geht. Sie müssen Bücher lesen und viel fernsehen und Videospiele spielen und andere Erwachsene treffen. Damit sie verstehen: Es gibt eine Welt da draußen und meine Eltern sind nur zwei von vielen Pupsis da drin.

Mai 2020 – the f-word

Während eines Meetings mit wichtigen Männern droppe ich das f-word: feministisch. Nur mal so, um zu gucken, ob sie zusammen zucken. Sie zucken, aber sie lassen es sich nicht anmerken. Solche Männer sind gefährlich.

Mai 2020 – Mai 2020

Beispiel für einen normalen Vormittag eines Durchschnittsmenschen im Mai 2020:

Ich stehe auf, habe Kopfschmerzen, wie schon seit Tagen, die Bauarbeiter an der Fassade bohren sich bis in meine Zähne, ich weine im Bad, weil ich nicht weiß, was ich machen soll, damit es mir endlich besser geht und creme mir dabei das Gesicht ein. Dann gehe ich aus dem Haus. An der U-Bahn-Haltestelle steht ein Straßenmagazin-Verkäufer und weint verzweifelt, ich ziehe meine Maske auf, drücke mit dem Ellbogen den Türknopf und steige in die U-Bahn. In der U-Bahn und auf meinem Handy laufen die Nachrichten: George Floyd, ein Schwarzer, wurde von einem weißen Polizisten acht Minuten lang mit dem Knie auf seinem Hals auf den Boden gedrückt und ist daraufhin erstickt, überall in den USA gibt es Proteste, I cant breathe, steht auf den Plakaten, das waren seine letzten Worte. CNN-Journalisten wurden bei der Berichterstattung über die Proteste festgenommen, Trump hat die 100.000er Marke bei den Covid-19 -Toten geknackt, er steht vor einer Kirche und hält die Bibel hoch, auch, weil Twitter ihm zum ersten Mal ein Fakten-Check-Badge an eine seiner Nachrichten geklebt hat. SpaceX ist zur ISS gestartet und macht damit endlich den Weg frei zur Kapitalisierung eines anderen Planeten, die Bundesregierung bereitet die Verabschiedung eines Konjunkturpakets vor, es bleibt zu hoffen, dass sie nicht so dumm sind, der Autoindustrie die Abwrackprämie für Benziner und Diesel in den Abgas-Arsch zu blasen, wenn sie das machen, gehe ich drei Wochen lang auf die Straße, ischschwöre. Im Vorbeigehen trinke ich einen Kaffee in einem Café, das gerade wegen Covid nur To Go geht, der so lecker schmeckt, dass ich am liebsten gleich noch einen trinken würde, setze mich damit noch einen Moment auf den Stuhl davor, trage irgendwelche Termine in meinen Kalender ein und schaue auf das morgendliche Treiben der Sonnenallee, ein Typ stellt sich für Kaffee an, der das Glück hat, dass ihm die Maske sehr gut steht, weil sie seine hübschen Augen betont, dann komme ich in meinem neuen Büro-Domizil an, es ist herrlich hier, Licht, Luft, Geräuschkulisse, alles stimmt, ich kann sofort loslegen, ohne mich zu quälen.

April 2020 – Corona 33 – Codes

1

Ausweichen als wär der andere die Pest ist höflich.

Jemandem nicht die Hand geben signalisiert Herzlichkeit und Respekt.

Sich nicht in den Arm nehmen, sondern den anderen auf Abstand halten, ist das neue coole Ding. Nicht die Köpfe zusammen stecken, sondern weit auseinander sitzen ist Rücksichtnahme, nicht eng nebeneinander her, sondern auf Distanz gehen, zeugt von Verantwortung für den anderen. 

Dont touch und stay away ist Liebe.

Wie soll das gehen, den Code umschreiben?

Wo der doch zweite Natur ist, die eigene Natur, gegen die man sich nun wenden soll, die man beherrschen, disziplinieren, repressiv behandeln soll, nicht mal sich selbst darf man anfassen, nicht mal mit sich selbst in Kontakt treten, ein rationales Verhältnis muss aufgebaut, ein Abstand eingezogen werden, zwischen sich und dem eigenen Körper, die Hände hochhalten, als wären sie verdächtige Subjekte, die man soeben aus der Gosse gefischt hat und die man erstmal und zuallererst und bevor man irgendwas anderes tut, mit spitzen Fingern zum Waschbecken trägt, wo man sie bearbeitet, wie man schmutzige Gegenstände eben so bearbeitet, um sie danach endlich wieder als HÄNDE in den Körper integrieren zu können.   

2

Die Maske.

Ist ein Thema für sich. Sie ist die größte Irritation von allen. Die Maske ist kein Code (noch nicht). Die Maske ist ein Schock. Ihr Zeichen ist unklar. Sie ist ein Signal, aber was signalisiert sie? Worauf verweist sie?

Auf eine Bedrohung. Auf eine Bedrohung, die vom Träger ausgeht? Auf eine Bedrohung, die vom anderen ausgeht? Auf eine Bedrohung im Außerhalb, im Allgemeinen, in der Umgebung, also auf die Katastrophe? Was verbirgt der Träger der Maske hinter der Maske? Eine latente Bedrohung oder eine akute? Die Maske verweist auf ein hinter der Maske verborgenes Wissen. Auf Nichtwissen zugleich: Man weiß ja nie (aber besser ist es). Es gibt ein Innerhalb der Maske (Hinter-der-Maske), und ein Außerhalb der Maske (Vor-der-Maske). Die Maske als Barriere.

Schutz. Sicherheit. Erleichterung. Alles diffus, changierend.

Die Maske als Gegenstand im Gesicht, mach mal weg, bitte. Ich sehe dich nicht.     

Die Maske ist das leere Regal im Supermarkt, das keinen temporären Mangel mehr bezeichnet, sondern einen tatsächlichen. (das Reale).

Die Maske ist das Kondom der Corona-Gesellschaft. Der Mensch ist ein Tröpfchen-Tier. Kränkung. Aufklärung. Scham und Lust (am Weglassen des Kondoms).  

Die Maske als Geste der Höflichkeit. Das wäre Code.

Die De-Maskierung als Geste der Rebellion. Der Individualität. (Zuvor: Die Maske als Geste der Unterdrückung gelesen. Der Obrigkeiteshörigkeit, der Herden-Dummheit). Code.

April 2020 – Corona 34 – 20erJahre

Ich hab doch gesagt, die 20er werden wild. Alles pochte und kochte auf ein Nadelöhr zu und nun ist es soweit, irgendwas explodiert hier, wenn auch in Zeitlupe, alle rasen ineinander, aufeinander und wollen irgendwo durch, müssen, und die Frage ist, wird danach alles anders? Oder nichts? Was wird das hier für eine Erfahrung gewesen sein? Was wird sie mit uns machen? Welche Kräfte werden gewinnen?