Die Maske ist jetzt ein Maulkorb.
Hygiene-Demos auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Jeden Samstag werden es mehr Leute, bundesweit. Impfgegner, Bill-Gates-Hasser, Fake-News-Trompeter, Wir sind das Volk-Rufer. Attila Hildmann will sich bewaffnen, Xavier Naidoo ist sich sicher, die Erde ist flach. Wer vom Platz verwiesen wird, weil er den Mindestabstand nicht einhält, hat seine Bestätigung. Der aufrechte Bürger trägt keine Maske, sondern Schaum vor dem Mund. Und den lässt er sich nicht verbieten.
Was links ist und was rechts, weiß keiner mehr, jetzt auch nicht mehr, wo oben und unten ist.
Ich bin irritiert über mich selbst. Warum empfinde ich die staatlichen Maßnahmen nicht als Übergriff, als massive, unerlaubte Einschränkung meiner Freiheit. Warum bin ich nicht empört, dass die Politik sich in mein Leben einmischt, beschließt, dass ich keine Menschen mehr sehen darf, mich nicht lümmelnd in Parks aufhalten, dass ich keine Landesgrenzen mehr übertreten darf, von zuhause arbeiten soll, dass sie dafür sorgt, dass ich nicht mehr in Cafes, in Shops, zum Sport gehe, dass sie es mir erschwert, mich zum Demonstrieren zu versammeln, mir das Feiern im Club verbietet, den Gang ins Theater, ins Kino, in die Ausstellung, dass sie mich anweist, ein bestimmtes Kleidungsstück zu tragen und einen Mindestabstand zu meinen Mitmenschen einzunehmen. Der Staat verhandelt, strukturiert, prägt, kontrolliert gerade meine Arbeit, mein Körper, mein Sozialleben, meine Bewegungsfreiheit, meine Zugriffe auf die Welt. (das macht der immer, was anderes muss man sich nicht einbilden, aber jetzt gerade besonders und anders). Die Antwort ist ganz einfach: Weil ich es sinnvoll finde. Und von dem Staat in dem ich lebe, bzw. der Politik schlicht erwarte, dass sie diese Maßnahmen trifft, um eine Pandemie in den Griff zu bekommen. Dass ich es sinnvoll finde, hat etwas mit Aufklärung, mit Transparenz in den Prozessen zu tun, die in der Politik vor sich gehen, damit, dass man mir mitteilt, auf welchen Erkenntnissen, Erfahrungen, auf welchem Wissensstand die Maßnahmen entwickelt werden, welche Institutionen einbezogen werden, welche Fragen an wen gestellt werden. Von Anfang an gab es viele Debatten. Als es um die Tracing-App ging, kamen die Datenschutz-Leute. Als nur noch Herr Drosten zu hören war, wollten alle die Leopoldina-Studie hören. Leute wie Prantl oder Zeh haben die Einschränkungen aus rechtlicher Sicht problematisiert. Niemand hat von einem Tag auf den anderen einen radikalen Lockdown beschlossen, der zu Chaos geführt hätte. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich keine Militärs mit MP im Anschlag patrouillieren, ich erlebe keine Polizei, die sich aufspielt, Schikane betreibt. Ich habe nicht den Eindruck, dass hier unter der Hand Notstandsgesetze erlassen wurden, mit denen eine Diktatur installiert oder ihre Basis weiter ausgebaut werden soll wie das allerdings in Ungarn und Polen, also mitten in Europa der Fall war. Von Anfang an war die Zivilgesellschaft da, mit Solidarität, mit Ideen, mit Kritik und Versuchen, auf Corona als Problemverstärker aufmerksam zu machen bei Wohnungslosigkeit, Verkehr, Risikogruppen, Psyche. Tut mir leid, aber ich finde: Im Großen und Ganzen ist das hier auch was die Dauer angeht nachvollziehbar und gut gelaufen. Doch jetzt, in der Phase der Öffnung, in der alles auseinander zu fliegen, nicht mehr anbindungsfähig scheint, in der die Felder komplex sind, weil es plötzlich auch um Entscheidungen geht, die zukünftig sind, so dass es schwer ist, den Überblick zu bewahren, und maßvoll zu agieren, jetzt bauen sich die Mauern auf, gegen die man wird anrennen müssen. Denn jetzt ist die Phase der Reviermarkierung, der Ressourcenverteilung gekommen, jetzt geht es darum, sich zu platzieren, sein Stück vom Kuchen abzukriegen, darum, ob man besser oder schlechter aus der Krise hervor geht, jetzt ist die Zeit des Lobbyismus. Jetzt ist die Frage des Zurück eine nach dem Zurück in was? Hier wirds politisch, hier wird’s interessant, hier kann und muss man sich zur Wehr setzen, denn der Backlash droht an allen Ecken und Enden. Von wegen was wir alles gelernt haben, was für positive Erfahrungen wir gemacht haben, dahinter kann man doch gar nicht mehr zurück fallen – also erstens: stimmt das? und zweitens: Und wie man das kann! Corona als Argumentationsgrundlage für schlechtere Löhne, höhere Preise, Einsparungen, Privatisierungen, Rettungsschirme für die Industrie ohne jedes klimapolitische Wenn oder frauenpolitische Aber wird uns um die Ohren gehauen werden, dass es saust. Von den Ego-Shootern auf dem Rosa-Luxemburg-Platz wird sich dann keiner mehr blicken lassen.