September 2018 – Haut

Ausschläge wandern über meine Haut wie die  Jahreszeiten über den Waldboden. Bläschen rotten sich zusammen, stehen in kleinen Herden herum, um Mundwinkel, Nasenwurzeln.  Was wolln sie da. Knorrige Erhebungen bilden sich, flechtenartige Täler, Flecken in allen Pantone-Brauntönen, rötliche Unterspülungen, Schuppen wie felsiger Schiefer.

Sie alle kommen und gehen

und kommen,

um zu bleiben.

September 2018 – Die Gentrifizierung des Planeten

Nehmen wir an, jemand hätte zu Anbeginn der Menschheit eine Kamera auf den Planeten Erde gerichtet, und wir könnten im Zeitraffer sehen, was bisher geschah.

Da ist er, ein kleiner, schwarzer, sich bewegender Punkt: Der Homo Sapiens. Noch ist er einsam, vereinzelt, aber bald schon schließt er sich zusammen, mit anderen, sich bewegenden Punkten. Er wächst, der Punkt, nicht nur an Größe und Umfang, sondern vor allem an der Zahl. Ganze, in sich wimmelnde Punktgruppen bildet er, und lässt sich nieder. Kommt zur Ruhe, macht Fläche, Höhe. Dann wieder wandert er. Über den Planeten, durch die Wüste und übers Eis. Nur um sich an anderer Stelle erneut nieder zu lassen.

Die Punkte bauen Hütten, Häuser, Paläste und Hochhäuser. Sie siedeln in Form von Dörfern, Städten, Ballungsräumen und Mega-Cities. Sie bauen Straßen und Brücken, Fahrzeuge, die sie über Flüsse, Meere, über den Boden und durch die Luft bringen. Sie migrieren in Strömen und Wellen. Sie dezimieren sich von Zeit zu Zeit massenhaft. Und gegenseitig. Sie vermehren sich, trotz aller Rückschläge durch Naturkatastrophen und Hungersnöte, ins Hundertausend-, Millionen- und schließlich ins Milliardenfache. Dichte Ansammlungen schwirrender, schwarzer Punkte, wolkenartig überall auf dem Planeten. In ihrer Umgebung bleibt kein Auge trocken. Alles machen sie sich untertan, den Boden, die Erde, die Luft. Sie roden und ackern und fressen. Ihr Ausbreitungs- und Ausbeutungswille ist enorm. Sie lassen die Erde erblühen. Man kommt ihnen besser nicht in die Quere. Sie töten. Gezielt, organisiert. Tiere und sich gegenseitig. Nur um am Ende gestärkt daraus hervor zu gehen. Ein Wuseln und Wieseln ist das, wie von Läusen, Käfern, ausgestattet mit einer Begabung und einer Lust, die ihresgleichen sucht.

Am Ende wird nichts übrig sein. Was die schwarzen, wimmelnden Punktemassen noch fressen, trinken, atmen können. Die Erde wird sterben an dem Parasit, den sie hervorgebracht hat und der über sie hergefallen ist. Das ist es, was wir sehen werden, im Zeitraffer der Kamera.

September 2018 – Klamottenbiografie

Wenn man so alt ist wie ich, kann man schon auf eine beträchtliche Klamottenbiografie zurück schauen. Ab und an passiert es, da sitze ich irgendwo, sehe irgendwas oder irgendwen, und da fällt mir plötzlich siedend heiß irgendein Kleidungsstück ein, das ich früher mal getragen habe. Der graugrüne Mantel aus Cord im Trenchcoat-Stil. Die kurze kastenförmige Lederjacke ohne Bund. Das orange-weiß karierte (!), taillierte Wolljackett. Die schwarze Vintage-Anzugshose, die so gut saß. Das grüne, eng anliegende Samtkleid, bei dem nie klar war, ob die Schleife nun vorne oder hinten sitzt.

All diese Verflossenen lösen die unterschiedlichsten Gefühle aus: Wehmut, Belustigung, Kopfschütteln, Bedauern. Diese Jacke hab ich echt geliebt, sage ich zum Beispiel. Oder: Warum zur Hölle hab ich den Pulli weggeschmissen? Oder: Nicht zu fassen, wie oft ich diesen Mantel getragen habe. Oder: Warum hat mir keiner gesagt, dass diese Jeans ein echter Keeper ist?

Diese ganzen Kleidungsstücke haben mich in einer bestimmten Phase meines Lebens begleitet. Manche von ihnen habe ich nur zwei- dreimal angehabt, sie dann im Schrank gelassen, Ladenhüter draus gemacht, mit anderen war ich praktisch Tag und Nacht zusammen. Mit ein paar von ihnen sieht man mich auf Fotos posieren. Einige von ihnen waren geradezu charakteristisch für mich, jeder kannte mich darin, sie haben mir eine Form gegeben, haben mich geprägt. Sie haben nach mir gerochen und ich nach ihnen, sie standen mir, sie haben mir gepasst. Andere nicht. Andere waren zu groß, zu lang, oder das, was man unvorteilhaft nennt, und ich konnte es nicht sehen. Aber alle, absolut alle, habe ich eines Tages weggeschmissen. Ich bin nämlich, das muss man sagen, ein Wegschmeißer. Ein manchmal Zu-früh-Wegschmeißer, ein Radikal-Wegschmeißer, ein Brutal-Wegschmeißer. Ein Wegschmeißer ohne Rücksicht auf Verluste. Mitleidslos, undankbar, mit einer plötzlichen Gleichgültigkeit, den vormals geliebten Kleidern gegenüber, die schon manchen erstaunt hat. Ab in die Mülltüte, in den Container damit. Aus. Vorbei. Ich mag es nicht, wenn die Dinge in meiner Umgebung sich anhäufen, wenn sie anfangen, mir zu viel werden, mir auf die Pelle zu rücken, mir den Blick verstellen. Ich mag es auch nicht, wenn sie mir Arbeit machen, wenn ich sie ausbessern, zur Reinigung bringen, bügeln muss. Wenn sie fusseln, löchrig werden, speckig. Aber hinterher ist der Jammer manchmal groß. Noch Jahre später fällt mir dann plötzlich ein, wie schön Mantel, Schuhe, Kleid waren. Ich erinnere mich an Stoff, Farbe, Schnitt, und denke daran, wie es war als ich sie zum ersten Mal im Laden gesehen habe.

Doch die richtig schlimmen Verluste sind die, die man erleidet, wenn man Klamotten verliert, an denen man hängt. Eine Anzugsjacke im Nadelstreifen-Blau mit eingenähtem Kapuzenpulli: Aus dem Fahrradkorb gefallen. Ein Vintage-Pyjama: Im Nachtzug nach Wien liegen gelassen. Der schönste Pulli der Welt: Auf der Toilette vom Campingplatz vergessen. Am Schlimmsten aber, und das geht weit zurück in meine Kindheit: Ein Rock, den ich geliebt habe, den meine böse Mutter einfach hinter meinem Rücken meiner Cousine geschenkt hat.

September 2018 – Flagge zeigen?

Kürzlich bin ich auf einer Anti-AfD-Demo. Eine Bekannte und Mitdemonstrantin, die aus Schweden kommt, fragt angesichts des Meers aus Deutschland-Fahnen auf der anderen Seite, ob wir die nicht eigentlich tragen müssten. In Schweden, meint sie, wäre das anders. Da würde sich das niemand gefallen lassen, sich die schwedische Fahne wegnehmen zu lassen.

Seitdem beschäftigt mich das.

Ist es womöglich an der Zeit, flashmobmäßig auf einer Anti-Nazi-Demo massenhaft die Deutschland-Fahne zu zücken?  Um für einen Moment eine einzige, nicht unterscheidbare Masse zu werden, und dadurch ein für alle Mal zu sagen: Ihr seid das Volk, wir sind die Bevölkerung! Ihr bestimmt nicht, was hier ist und sein wird. Wäre das eine Möglichkeit, die Symbol-Politik zu sabotieren, das Symbol denen zu entreißen, die es sich aneignen, um sich damit ihre braunen Hintern abzuwischen?

Ich bin in meinen Grundfesten irritiert und erschüttert. Ich komme aus einer Nie-Wieder-Deutschland-Ecke und -Generation und habe das Gefühl, die deutsche Fahne hochhalten zu müssen? Eine Fahne, die sich auf Begriffe wie Nation, Volk und Vaterland bezieht, auf Blut und Boden, auf eine Fahne, unter der die grausamste aller Geschichten stattgefunden hat, eine gerade mal so eben bürgerlich gewordene Fahne, die Schland meint, und Europa, statt Deutschland?

So weit ist es gekommen.