Oktober 2019 – Fick-mich- Stiefel

Ein Typ, Teil einer kleinen Horde Typen, ist unzufrieden mit dem Samstagabend-Angebot in Berlin: „Wasn das hier, kommt mal nach Potsdam!“ brüllt er. (Ich treffe am HKW auf sie, vielleicht liegts daran.) Ein anderer ruft: Ey, geile Fick-mich-Stiefel! Damit meint er meine geilen Fick-mich-Stiefel und ich finde, er hat absolut recht. Die hab ich jetzt seit Jahren, irgendwann mal Second-Hand gekauft, und wenn man die zusammen mit einem kurzen schwarzen Rock anzieht oder über einer engen Hose, sind das einfach sowas von geile Fick-mich-Stiefel, dass ich jedes Mal denke, ach, die sollte ich echt öfter mal anziehen, auch wenn sie tendenziell – wie die meisten geilen Fick-mich-Klamotten – unbequem sind, aber wenn du die anhast, dann kannst du sonst aussehen wie du willst, du hast eben einfach mal so richtig geile Fick-mich-Stiefel an. Und das Tolle an Fick-mich-Stiefeln ist ja,

dass sie gleichzeitig immer auch Fick-dich-Stiefel sind.

Oktober 2019 – Wahnsinn und Methode

Aus meinem Kopf kommen kleine Figuren, die fangen an zu laufen und zu sprechen und bauen sich eine Welt. Es ist herrlich. Und eine große Quälerei. Die einen nennen es schreiben, die anderen müssen dafür in die Psychiatrie.

September 2019 – Eis

Ich bin nackt auf einer Eisfläche. Ich versuche zu laufen, aber ich rutsche aus, ich schliddere bei jedem Schritt, ich krieche auf allen Vieren, ich komme nicht voran. Irgendwo rundherum am Horizont hört die Fläche auf, da ist schon was, da sind andere, das weiß ich. Aber ich komme nicht hin. Das Problem ist, wenn ich zu lange stehe oder sitze, dann bringt meine Wärme das Eis zum Schmelzen und ich drohe, im eiskalten Wasser zu ertrinken.

September 2019 – Geister

Heute will ich nicht mehr.

Ich will nichts mehr wollen. Das ewige Wollen, es führt zu nichts,

außer zu Geistern.

Niemand kann etwas dafür. Niemand hat etwas falsch gemacht. Nur ich.

Ich habs nicht geschafft, ich habs nicht hingekriegt, und es wird Zeit, das zu akzeptieren. Es gelingt mir nicht, aus dem was ich habe, etwas zu machen, was mich trösten könnte oder befrieden. Es ist einfach zu viel und ich bin zu falsch. Die Therapeuten in ihren Sesseln, die Psychiater hinter ihren Tischen, ungerührt. Mit ihren Zetteln und Blicken und Fragen, und ihren Medikamenten, die nicht mal schön sind. Ich schäme mich nur vor ihnen. Denn mir ist ja nicht mal was Schlimmes passiert.

Ich kann dieses Kind nicht überwinden, das Kind mit der Lücke. Ich kann ihm nichts geben, seine Lücke nicht füllen. Keinen Zucker, keine Suppe, kein Balsam.

Ich kann nur überleben, nicht leben.

Und ich kann ja nicht immer am Meer sein.

Als ich in den Kalender schaue ist der 23.

September 2019 – rumcoolen

In einer Bar belausche ich ein erstes Date am Nachbartisch. Er erzählt ein bisschen von sich, macht auf, erklärt, dass er dazu neigt, in Beziehungen so ein bisschen distanziert zu sein, sich gerne ein bisschen rar zu machen, so zu tun, als wärs ihm nicht wichtig. Ah, sagt sie, so rumcoolen, meinst du. Er lacht. Ja, genau: Rumcoolen.

Ich finds genauso super wie er. Rumcoolen. Tolles Wort. Danke. Das benutz ich jetzt auch.

Ich coole nicht rum. Kann ich mir nicht leisten. Wenn ich rumcoole, ruft gar keiner mehr an.

September 2019 – solo

Der alte italienische Mann in Palermo.

B. erklärt ihm, dass N. ihr marito sei. Und sie?, fragt er, und deutet auf mich, wer ist sie? A friend, antworte ich, amica. Ah, sagt er, solo, und klopft mir auf die Schulter. Klopft mir auf die Schulter, in dieser untrüglichen Mischung, die unter alten Leuten sehr verbreitet ist, für die das Wichtigste ist, dass man jemanden abgekriegt hat, egal, ob man diese Person lebenslang verarscht und betrogen hat oder von ihr verarscht und betrogen wurde, dieser Mischung aus Mitleid, Verachtung und schlicht Beleidigung,

ein Schulterklopfen, das aufmunternd, anerkennend, augenzwinkernd wäre bei einem Mann, der es solo richtig schön krachen lassen, um die Häuser ziehen kann, sich aber hier, in meinem Fall, nur noch runter reduzieren lässt auf: Kann man nichts machen, wir können nicht alle Glück haben, bist halt hässlich geraten und jetzt auch zu alt.

Was, wenn diese ekelhaften, niederträchtigen alten Leute einfach recht haben?

September 2019 – Kapuziner

Palermo 3

Ich mag den Ort nicht, er soll mich erfassen, tut es aber nicht. Leichen hängen und liegen hier nebeneinander, in Regalen, auf Ständern, gut erhaltene Mumien, manche in Kleidung, andere kaum bedeckt, die Hände und Füße gekrümmt, die Schädel leer, die Augen hohl, die Haut wie Leder. Schmal sind sie, erstaunlich klein, ausgedörrt, manche von ihnen sehen nach Schmerz aus, als wäre das Sterben eine Pein gewesen. Ich spüre zu kaum jemandem Kontakt, eine junge Frau bleibt mir in Erinnerung, das Kleid einer älteren Frau, in dem sich ausdrückt, dass sie alles getan hat, um Gott zu gefallen. Die Besucherin neben mir nervt mich, die mit betroffenem Gesicht das Fotografieverbot umgeht, und das zweijährige Kind mit dem Smartphone ablichtet, das hier als die am besten erhaltene Mumie gilt. Betroffenheit als Gier. Das Kind sieht aus wie eine Puppe und liegt hinter Glas.

Die Menschen hier wollten nicht einfach verschwinden, von der Bildfläche der Welt und des Lebens, nur weil sie tot sind. Dafür haben sie Geld bezahlt. Sie wollten erhalten bleiben. Den Tod nicht alles bestimmen lassen. Das hat etwas Trotziges, Verzweifeltes, auch Eitles. Und etwas sehr Kirchliches. In der Reihe Profession sind Ärzte zu sehen, Anwälte, auch eine Reihe mit Mönchen gibt es, Bruder Soundso.

Wie war das Leben dieser Menschen, was hat es bestimmt, Härte, Repression, den Versuch ein guter Mensch zu sein im Sinne Gottes und der Kirche. Was wirst du deinem Herrgott sagen können, wenn du am Ende vor ihn trittst, warst du eine guter Mensch oder ein schlechter? Und wenn du schlecht warst, was hast du dafür getan, da rauszukommen, hast du dich schuldig bekannt, hast du gebeichtet, gebetet, gezahlt.

Wie anders das bei uns heute ist, wie anders die Frage, die wir uns stellen (und nicht uns der Herrgott). Hast du das gemacht was du wolltest, hast du es geschafft, ein glücklicher Mensch zu sein, hast du alles auf der Liste abgehakt, an Reisen und Büchern und Filmen und Sexpositionen, hast du alles erreicht, was du vom Leben haben wolltest und was du in der Welt sein wolltest? Wenn das geklappt hat, dann bist du irgendwie auch sowas wie ein guter Mensch.

September 2019 – Der alte Mann und das Meer

Palermo 2

Am Strand in Cefalu beobachte ich einen alten Mann. Er ist erstaunlich rüstig für sein Alter, ich schätze ihn auf über achtzig. Die weißen Haare liegen kurz geschnitten wie ein Kranz um seinen kahlen Oberkopf, er hat ein angenehmes, hübsches Gesicht mit einem Ausdruck entspannter Freundlichkeit. Er ist schlank, auch am Bauch, nur die Haut ist weich, und hängt dort, und auch sonst, an Armen und Beinen und überall ein bisschen. Auf seinen Knochen hat er noch einiges an Muskulatur. Zuerst denke ich, er ist allein hier. Er kommt aus dem Wasser und setzt sich in den Sand, schiebt ihn mit beiden Händen unter sich, wie zur Erhöhung seiner Sitzknochen. Er betrachtet die Badenden. Schiebt Sand. Betrachtet. Wie alle hier am Meer in dieser sich seltsam ausbalancierenden Mischung aus Beisichsein und Wahrnehmung der Umgebung, als würde das Meer seinen Rhythmus übertragen, außen, innen, innen, außen. Zuerst denke ich, er ist alleine. Dann kommt sein Sohn kommt aus dem Wasser. Vielleicht Anfang vierzig, Haare. Sie sitzen nebeneinander, aber doch jeder für sich, der Sohn auf seinem Handtuch, der Vater im Sand. Sie sprechen kaum. Sie sind sich auch so nah. Sie haben ihre Routine. Abwechselnd gehen sie ins Wasser, schwimmen geradeaus. Am Strand macht der Vater Armkreisen, der Sohn wie zur Antwort auch. Es geht darum, sich fit zu halten. Gesund zu bleiben. Um sich und das Leben noch möglichst lange haben.

(Ich muss an das berühmte Bild von Ben Gurion denken, der am Strand von Tel Aviv einen Kopfstand macht. Er hatte mit Hilfe von Moshe Feldenkrais seine Rückenprobleme überwunden.)

Einmal, als der alte Mann im Sand sitzt und den Sohn zwischen den Badenden im Wasser entdeckt, winkt er ihm. Der junge Mann winkt zurück. Dabei sind sie so voller Freude übereinander und über das, was sie teilen. Das haben sie bestimmt schon immer so gemacht, schon als der Sohn noch ein Kind war.

Am Ende machen sie ein Spiel. Sie stehen, die Füße fest im Sand, einander gegenüber, und versuchen sich gegenseitig aus der Position wegzudrücken. Mit dem ganzen Körper gilt es, die Balance zu halten, den drückenden Händen des anderen auszuweichen, und die Füße nicht zu bewegen. Sie lachen, der Sohn deutet auf den Fuß des Vaters, der sich doch ein bisschen bewegt hat, beschuldigt ihn des Tricksens. Wieder sprechen sie kaum.  

Ich habe lange nichts so Zärtliches gesehen wie die beiden.

September 2019 – La ragazza con il pallone

Palermo 1

Ich sehe das Bild zuerst aus der Ferne. Schon auf den ersten Blick macht es einen dunklen und leuchtenden Eindruck zugleich, einen Eindruck der harten Kontraste. Eine schwarz weiß Fotografie, nicht nur der Technik wegen. Ein Kind, ein Mädchen, vielleicht 11 oder 12 Jahre alt. Sie lehnt an einer dunklen Hauswand, oder ist es eine Tür? Unter ihrem Arm trägt sie einen Fußball, ihr Kleid ist weiß und leicht. Den anderen Arm hat sie über den Kopf gehoben und an der Wand abgelegt. Eine Pose, die ihre Achsel freigibt, die Hüfte macht einen leichten Knick. Das dicke, schwarze Haar liegt in einem Rundschnitt um ihr Gesicht, der Pony ist hoch über die dunklen Augen geschnitten. Sofort fliegt dem Bild mein Herz zu. Ich finde den Kontrast zwischen dem männlichen Fußball (die Szenerie verweist auf die Siebzigerjahre) und der mädchenhaften Pose im Kleid genial. Sogar etwas Witziges kann ich darin entdecken.

Als ich näher trete, verändert sich das Bild. Im Gesicht des Mädchens liegt so viel Schmerz, dass ich erschrecke. Trauer, auch ein leiser Unmut, ein Unwille sind zugegen. In der eingenommenen Haltung liegt plötzlich etwas – zu? – Frauliches. Ist es die Pose eines Models, die das Mädchen in den Zeitschriften gesehen hat und die sie imitiert? Die Pose einer Prostituierten? Das Bild bekommt einen Schrecken. Etwas spielt sich in ihm ab, zu dem das Mädchen einen Zugang hat, aber nicht wir. In der linken Hand hält sie, nur vom Daumen gehalten, ein zusammengefaltetes Stück Papier, das ich als Geldschein identifiziere. Wer hat ihn ihr gegeben? Die Mutter, der Vater, ein Freier, die Fotografin? Hat sie ihr gesagt, sie soll sich dort hinstellen?

Später finde ich in einem Fotobuch zwei weitere, diesem Bild nachgestellte Fotografien des Mädchens. Sie spielt den Ball mit den Händen an die Wand, lacht, ein anderes Mädchen ist zugegen. Diese Fotos haben nichts als das Spiel des Kindes an einem Sommernachmittag in sich, man meint, die Wärme der Sonne zu spüren, die Straßengeräusche zu hören.

In dem Buch schildert die Fotografin Laetizia Battaglia, wie sie im Straßencafe saß und das Mädchen sah. Sie stand genau so da, sagt sie sinngemäß, an dieser Wand, und ich hatte alles in allem vielleicht sieben Sekunden.

September 2019 – die nette alte Frau

Neben mir im Flieger sitzt ein Mexikaner, ich hätte Lust mit ihm zu schlafen. Er ist dick und trägt seinen Haare in einem Undercut, darüber einen kurzen Zopf aus dichtem schwarzem Haar und einen Bart, seine Hände sind hübsch, ich mag die Form seiner Nägel, die dunkle Farbe seiner Haut. Ich würde ihn gerne küssen, trotz des Barts, er ist so weich, man kann sicher gut ihn ihm versinken. Er hört Musik mit riesigen Sony Kopfhörern, die er die ganze Zeit nicht abnimmt. Auf seinem Knie liegt das Buch eines bekannten, mexikanischen Autors. Auf Spanisch. Ich frage mich, wie das geht, mit ihm schlafen, mit seinem Bauch. Mir fällt so einiges ein. Ich kritzele in mein Notizbuch. Als ich aufs Klo muss, steht er auf und lässt mich raus, wir lächeln uns an. Oder eher ich ihn.

Ich sitze im Shuttle-Bus ins Stadtzentrum. Da taucht er plötzlich im Gang auf, sein Gepäck über der Schulter, Ach, hallo, sagt er, als er mich erkennt, in astreinem Deutsch, und läuft durch den Gang an mir vorbei. – Ein berliner Mexikaner, mexikanischer Berliner, logisch, das hätte ich mir ja denken können. Hoffentlich hat er nicht gelesen, was ich in mein Notizbuch gekritzelt habe. Nein, er hat die meiste Zeit geschlafen oder zumindest die Augen zu gehabt unter seiner Musik, und keine Ahnung gehabt, in was für einem Film er da nebenan mitspielt. Sollte ich ihn nochmal sehen, in den nächsten Tagen, dann spreche ich ihn an, nehme ich mir vor, das kann man dann doch machen, oder?, hey, sagen, ist ja witzig, ist jetzt das dritte Mal, dass wir uns sehen, jetzt müssen wir aber mal kurz reden, und was machst du so in Palermo, was hast du vor, willst du mitkommen, wir gehen da und da hin. Das geht doch, oder, das kann man doch machen. Wir werden ein Paar und dann fliegen wir nach Mexiko zu seiner Familie und ich verbessere mein Spanisch auf Hochformat und wir unterhalten uns über Schriftsteller und die politische Lage in Mexiko und haben wunderschönen, weichen Sex und erzählen uns, wie das war, als ich im Flieger neben ihm saß und da schon alles wusste.

Als er aussteigt, eine Station früher als ich, geht er grußlos an mir vorüber. Natürlich sehe ich ihn nie wieder. Stattdessen schäme ich mich. Ich drehe hier durch, mit meinen Jungmädchenfantasien, und er hat sich nur gedacht, ach, da ist ja wieder die nette alte Frau aus dem Flieger.