Seit ich einen kindl hab, lese ich nur noch Leseproben. In der Regel reicht das. Ganz selten mal, wirklich selten, will ich wissen, wie es weitergeht und klicke auf den Kauf-Button. So weit ist es gekommen mit mir und der Literatur. Ich guck nur noch ihre Trailer. Früher hab ich sie geliebt. Jetzt hab ich keine Geduld mehr für sie, ich lasse sie nur in mein Bett, wenn ich mal wieder das Gefühl habe, ich gucke zu viel, so wie ich manchmal das Gefühl habe, ich esse zu viel Zucker oder trinke zu viel Kaffee. Sanft abstrahlende Literatur als bessere Einschlafhilfe. Zum Bescheid wissen und Mitquatschen reicht die Leseprobe allemal und ist sehr günstig, nämlich kostenlos. Optimal für Halb-Hartzis wie mich also. So browse ich mich durch, durch die Literatur, schau mal vorbei, im kindl, im Pop-up-Store der Literatur. Ich lese die ca. 20 Seiten irgendeines Buchs und dann weiß ich, worum es geht. Wie das hier so läuft. Aus welcher Ecke das so kommt.
Monat: September 2016
September 2016 – I had this!
Eine der schönsten und traurigsten Geschichten in Transparent ist die von Josh und der Rabbinerin:
Josh, der jüngste Sohn der Pfeffermans, ist glücklich. Mutig und frei von der Leber weg glücklich. Endlich mal! Er hat jemanden gefunden, der dasselbe will wie er: Zusammen sein, ein Leben teilen, ein Haus bewohnen, eine Familie gründen. Eine Frau, mit der er ein Mann sein könnte. Und kein überforderter, sehnsüchtiger, haltloser, unsicherer, verwöhnter, dummer, sprunghafter Junge.
Dass es sich bei der Frau, die er liebt, nun auch noch um die Rabbinerin handelt, macht das Glück auch äußerlich so perfekt, dass es alle zum Lachen bringt. Denn natürlich ist das wie wohl für die meisten jüdischen Familien, auch für die Frauen in Joshs Familie (und nach dem Coming Out des Vaters als „Trans-Parent“ sind ja außer Josh nur noch Frauen übrig) eine Aufwertung, dass ihr Bubbele nun mit einer angesehenen Person der Jüdischen Gemeinde liiert ist. Oh my god, he is fucking the Rabbi! schreien seine Mutter und seine Schwester Sarah begeistert, als sie davon Wind kriegen, und Josh kann nicht anders, als zu lachen vor Stolz und Glück. Es ist, als sei plötzlich der Schleier weg und das Licht da, als habe sich etwas gefügt, und es gibt endlich jemanden, den er liebt, wirklich liebt, und nicht nur anschaut.
Da sind die Belastungen aus Joshs Vergangenheit. Ein fast erwachsener Sohn aus der Beziehung mit seinem viel älteren Kindermädchen erscheint plötzlich auf der Bildfläche. Harter Tobak für Josh und Raquel, so haben sie sich das nicht vorgestellt. Sie werden damit fertig werden. Sie bekommen ein Baby. Aber Raquel ist unruhig. Sie hat eine Liste. Sie will einen Mann, ein Kind, eine Familie, wie es sich gehört, und dazu gehört ein Ring an ihrem Finger. Josh weiß das, versteht das, nickt, sagt, ich kümmer mich drum.
Den ganzen glücklichen Tag lang denkt er darüber nach, wie er ihr einen Antrag macht, welchen Ring er für sie haben will und auch hier fügt sich alles perfekt. Er ist voller Energie, durchdrungen von seiner Idee, seiner Vorstellung. Dann kommt er nach Hause, in das Haus seiner Familie, das Haus in dem er aufgewachsen ist, in dem sie nun gemeinsam leben werden, eine Familie gründen werden. Raquel ist da, sie hat sich ein schönes Kleid angezogen, das Licht gedimmt, Josh, sagt sie, und verschränkt nervös, verlegen lächelnd, die Hände. No, sagt Josh, der ahnt, was kommt, da geht sie schon auf die Knie, No, sagt er, und sie klappt eine Schatulle mit Ring auf, beginnt feierlich zu sprechen, No, wait, sagt Josh entsetzt, versucht, sie aufzuhalten, sie hochzuziehen, sie spricht weiter, steuert auf das zu, was sie hier vorhat, was sie hier tun wird, was sie gleich sagen wird, auf die Katastrophe: Will you… – No! schreit Josh sie an, denn das ist falsch, so ist es falsch, You dont trust me! bricht es aus ihm heraus, der sich plötzlich und auf ewig beraubt sieht, seiner Vorstellung von diesem Antrag, seiner Liebe zu dieser Beziehung, seines inneren Bildes, dessen Realisierung er so sehr gebraucht hätte. I told you, I had this! fügt er hinzu, sagt es hinunter auf die am Boden kauernde Raquel, die weiß, was sie angerichtet hat,
I had this!
Es dauert noch ein bisschen, aber kurze Zeit später sind sie getrennt.
September 2016 – 3M14T – Romance
T. nimmt mich mit auf seinem Elektroroller.
Wir fahren ans Wasser und schwimmen.
Ich hab die ganze Zeit Angst.
Dass alles nicht stimmt, aber es ist mir egal.
September 2016 – Tote Tiere
Es ist doch so: Die ganze Stadt ist voller Tiere. Voller Vögel zum Beispiel. Die sitzen in Parks rum, brüllen um 5 Uhr morgens von den Bäumen runter, kacken von Dächern, latschen im Cowboygang über die Hauptverkehrsader, wohnen auf Müll-Haufen und frühstücken Croissants im Cafe. Füchse. Laufen nachts auf der Straße an einem vorbei. Mäuse. Huschen über die U-Bahn-Schienen. Ratten. Kruscheln hektisch im Gebüsch, halten inne, Auge in Auge mit dir und deinem Sushi aus dem Plastikschälchen, das du gerade auf einer Bank am Alex verspeist.
Ein Leben also, ein blühendes, sichtbares Leben allüberall auf den Tannenspitzen! – aber ein Sterben? Wo zur Hölle sterben diese ganzen Viecher? Klar, ab und an sieht man mal den ein oder anderen Vogel zermatscht auf der Straße liegen oder sich mit inneren Todesprozessen auf dem Gehweg krümmen – Verkehrsunfall, Lebensmittelvergiftung, das sind die Kollateralschäden des Großstadtlebens, das kennen wir auch.
Aus dem Nest gefallen – okay, vom (einzigen) Fressfeind (der Innenhof-Katze, die will nur spielen), zerfleddert – klar. Aber diese dramatischen Tode sollten doch, wie bei uns, eher die Ausnahme sein. Was ist mit den natürlichen Toden? Mit den Herzinfarkten, den Schlaganfällen, den tödlichen Krankheiten, der Altersschwäche? An irgendwas müssen diese Tiere sterben. Und zwar ständig. Aber: Wo? Wo?, frage ich euch.
Müssten wir nicht, wo wir gehen und stehen auf tote Tiere treten? Müssten wir nicht dauernd über Tierleichen steigen, auf dem U-Bahn-Gleis, am Fahrradständer, auf den Stufen zum Cafe, sie mit der gleichen routinierten Haltung quittieren wie Obdachlose, schon wieder einer, welche Karte ziehen wir, höflich beiseiteschieben oder komplett durchignorieren?
Ich meine, das sind doch Tier-Massen! Die müssen irgendwo sein! Die Nestdichte hier ist so groß wie in keiner anderen Metropole Deutschlands, Ratten sind ne Plage, Mäuse erobern die Altbau-Wohnungen, Krähen schließen sich zu Gangs zusammen und essen den Eichhörnchen die Nüsse weg. Jeder Hipster-Vogel, der was auf sich hält, zieht hierher, um auf die gemeine Dummtaube runterzuschauen, die blöde gurrend wegen einem Schrippe-Krümel unter den Bus gerät, weil sie zu blöd ist, das Großstadttempo zu kapieren, zieh doch nach Marzahn, Alter.
Oder haben diese ganzen Tiere irgendwo im Untergrund ein gut organisiertes Geheimsystem aus Palliativstationen, Beerdigungsinstituten und Friedhöfen? Effektives und diskretes Ableben je nach Status garantiert, so wie bei uns. Wo sind all die toten Tiere hin? Wo sind sie geblieben? Hat die Wissenschaft da was übersehen? Wurden da Forschungsgelder wegen Lobbyarbeit für die falschen Studien ausgegeben? Und jetzt komm mir keiner mit: Die gehen zum Sterben in den Wald. Das ist ja wohl total sozialromantisch. Ich meine, in welchen Wald denn bitte? Der ist doch viel zu weit weg. So ein Mitte-Vogel schafft‘s doch grade mal in den Weinmeisterpark. Und wer will schon im Görli sein Leben aushauchen? Oder sich im Tiergarten aus Kondomen ein Sterbebett bauen?
Dann lieber gleich auf die Verkehrsinsel. Da hat man wenigstens seine Ruhe.
September 2016 – Smartspur
Dauernd renn ich in Leute rein oder krieg eine reingerannt, weil ich oder die anderen plötzlich mitten im Laufen abstoppen, um auf dem Handy was zu suchen, zu tippen, zu daddeln. So ist das. Man bräuchte so langsam mal zwei Spuren auf den Gehwegen, eine zum Laufen und eine für Handygeschäfte. Eine Smartspur.
September 2016 – Wackelpudding
Ich träume, ich halte mein Leben in den Händen. Es ist weich und hellrosa und hat die Konsistenz von Wackelpudding. Es trieft mir zwischen den Fingern durch.
September 2016 – 3M4T – Tacheles
T. und ich reden viel Tacheles.
Manchmal müssen wir dabei lachen.
September 2016 – Wedding
Ich steig Rehberge aus und lauf die Müllerstraße rückzus. Innerhalb von 3 Minuten auf einer Quadratmeterdichte von höchstens 5 Kubik sehe ich im Sekundentakt:
_eine schwarze Frau mit einem leuchtend blau gefärbten Afro, die sich mit ihrer Freundin, einer Rollator-Oma am Draußentisch einer Bäckerei unterhält (Ilse, die könn mich mal, echauffiert sie sich bei 1-Euro-Kaffee, wahrscheinlich übers 1-Euro-Amt)
_eine Kopftuch-Mami im mausgrauen Biederlook, die in einem SUV sitzt, so hoch wie ein Doppeldeckerbus, und mit quietschenden Reifen um die Ecke schießt als wär sie Hot in Quatar
_drei Refugee-Jungs zwischen 14 und 19, die sich gegenseitig darin überschlagen mir praktikumsmäßig einen Cappuccino und eine Zeitung (Die ist von heute!) an den Cafétisch zu bringen,
_eine Frau mit Komfortfahrrad, Birkenstocks und Öko-Shampoo-Haaren, die, ischwöreman!, als sie ich vom Rad abschließen umdreht, einen kraus gewachsenen Kinnbart präsentiert als wär sie ein Neukölln-Hipster!
Damn it!! Vielleicht ist im Wedding noch Berlin?!
September 2016 – Vexierbild
Jeden Tag laufe ich am Schaufenster eines Ladens vorbei. Darin ein Bild, eine Fotografie. Schwarz-weiß. Aus dem 19. Jahrhundert, schätze ich.
Es zeigt eine junge Frau. Sie sitzt nackt auf einem Stuhl, den Oberkörper über den Tisch vor sich geworfen, das Gesicht in Schmerz und Gram auf den Unterarmen verborgen. Das ist das Wort, das einem einfällt: Gram.
Geht man am Bild vorbei, bemerkt man, dass es sich verändert, dass es kippt. Betrachtet man es von der anderen Seite, sieht man denselben Frauenkörper, auf demselben Stuhl, in derselben Pose. Doch nun ist die junge Frau ein Skelett.
September 2016 – 11W6T – Freiheit
Mit der Freiheit des anderen ist jederzeit zu rechnen.
August 2016 – Männerdilemma
Seit Köln HBF – natürlich schon zuvor, doch jetzt, wo zur eh schon komplexen gender-Gemengelage auch noch die Ebene des Rassismus hinzugekommen ist, noch weit mehr – stecken Männer in einem Dilemma, um das sie nicht zu beneiden sind.
Nehmen wir an, ein Mann beobachtet in der U-Bahn, dort passieren diese Dinge gern, wie eine Gruppe Männer, jung, mit Migrationshintergrund, Frauen belästigen. Sagen wir: verbal belästigen. Blöde Sprüche, dummes Glotzen, lautes Lachen, Pfeifen, Schnalzen, das ganze übliche, übergriffige, (noch) nicht physische Repertoire des Belästigens, das sich in Sekundenschnelle atmosphärisch unangenehm über den ganzen Waggon ausbreitet und alle in Befangenheit erstarren oder unbeteiligt und taub tun lässt, über und unter ihren Kopfhörern, als wäre plötzlich jemand eingestiegen, der Heil Hitler ruft.
In dieser Situation muss der ANDERE MANN,
der höflich, zuvorkommend, gar solidarisch sein möchte,
WEIL er Freundin, Frau, Freundinnen, Mutter, Tochter, Schwester hat, und diese als Menschen und Gegenüber erlebt und begreift, weil er nicht zu denen gehören will, die Frauen etwas antun, generell nicht, aber schon gar nicht auf der Ebene sexueller Gewalt,
WEIL er nicht teilnehmen möchte an ihrer Sexualisierung, ihrer Reduzierung auf ihr Geschlecht, weil er sie nicht objektiviert und ausgebeutet sehen möchte, ohne dass sie sich – zumindest soweit man im Rahmen kapitalistischer Verhältnisse davon sprechen kann – selbstbestimmt und selbstbewusst dafür entschieden haben und/oder dafür bezahlen lassen, wie zum Beispiel im Porno, den er auch mal schaut, oder im Puff, in den er auch mal geht,
WEIL er den Frauen in einer Situation, die er empathisch nachvollziehen kann, zur Seite stehen möchte, eingreifen möchte, sie nicht allein lassen möchte – denn diesen Anspruch hat er an sich, als Mensch und als Mann, das gebietet, so findet er einfach, das allgemein menschliche, nicht nur weiblich-männliche Miteinander, landläufig auch der Anstand genannt –
in dieser Situation jedenfalls muss der ANDERE MANN
erstmal abwarten. Und sehen, wie die Sache sich entwickelt.
ABZUWARTEN bleibt nämlich, ob, zum einen,
anwesende, nicht direkt von der Belästigung betroffene Frauen aktiv werden und eingreifen – was eine fast optimale Entwicklung der Situation darstellen würde, erhebt sie die gesamte Situation doch augenblicklich zu einem Diskurs, zu etwas Gesamtweiblichem, zum Solidaritätsthema und schafft einen Gegen-Raum, in dem Frauen ihre Sache gemeinsam in die Hand nehmen,
ABZUWARTEN bleibt zum anderen, ob die Frau sich überhaupt belästigt fühlt, oder womöglich geschmeichelt (denn sowas gibts, und auch wenn davon nicht viel zu halten ist, wäre dies nicht der Moment, in eine Diskussion darüber einzusteigen), eventuell also positiv auf die Belästigung eingeht, so dass der ANDERE MANN sie mit einem beherzten Eingreifen in die Situation ihrer selbstbestimmten Sexualität, ihres lustvollen Vergnügens berauben würde,
ABZUWARTEN bleibt vor allem aber auch, und davon muss vom ANDEREN MANN schon aus feministischen Gründen ausgegangen werden, ob die Frau sich nicht prima selbst gegen die BEDROHUNGS-MÄNNER verteidigen kann, was sein Eingreifen zu einem paternalistischen Verhalten machen könnte, zu einem Verhalten, das davon ausgeht, dass Frauen sich weder verbal noch physisch wehren können, Opfer sind, und auf die Hilfe des Mannes angewiesen sind, der sich hiermit womöglich selbst zu Held und Retter stilisieren möchte, um seine identitäre Männlichkeit für sich aufzuwerten oder womöglich sogar gegenüber den belästigten Frauen zur Geltung und in Anschlag zu bringen.
JEDOCH, die Sache des Belästigens ist ja schon von vorneherein ein gender-Ding und trägt deshalb in sich immer schon eine Gerichtetheit, und zwar eine Gerichtetheit nicht nur vom Mann zur Frau, sondern auch eine von den BEDROHUNGS-MÄNNERN auf den ANDEREN MANN, eine innere Ansprache findet da statt, eine indirekte Frage wird da gestellt, eine Provokation gesetzt, eine Forderung aufgestellt, eine Annahme getroffen, bist du einer von uns, du bist doch einer von uns, das hier ist das männliche Normverhalten, und wir gehen mal davon aus, dass du diesem entsprichst, dich loyal verhältst, mit uns, denn du bist einer von uns, ein BEDROHUNGS-MANN wie jeder andere, oder? Oder?? …
und hat nun, als wäre das mit dem gender-Diskurs nicht alles schon schwierig genug, auch noch den ganzen Rassismus an der Backe. Denn er trifft ja auf eine Gruppe Männer, von der er aufgrund von Äußerlichkeiten annehmen kann, dass sie einer anderen, höchstwahrscheinlich islamisch geprägten Kultur entstammen, in der die Welt der Männer weit weg ist von der der Frauen, in der sie einen Alltag kennen und leben, in dem Frauen keine figurbetonte Kleidung tragen, in der Frauen, ihre Körper und ihre Lust daran, nicht in Erscheinung treten. Er erlebt diese Männer – denen er Verständnis und Solidarität entgegen bringt, die er als tendenziell ausgegrenzte, vom System zur Chancenlosigkeit verdammte Existenzen begreift, die hier, in diesem Land, mit ihren höchstwahrscheinlich von Migration, von Flucht geprägten Biografien, nur geduldet sind, zur Stumpfheit, zum Warten und Vergehen verdammt – als bedrohlich.
So sitzt er also in der U-Bahn, der ANDERE MANN, konfrontiert mit der hochgradig komplexen Situation der Belästigung, und was soll er jetzt tun, der ANDERE MANN? Was? Und mit welcher Geste?Soll er sich zu den Frauen stellen, neben sie oder vor sie? Soll er die Klappe halten und sitzen bleiben und den Diskurs laufen lassen wie er eben laufen wird, sind ja alles erwachsene Menschen mit ihren eigenen Entscheidungen, noch ist niemand verletzt, oder?, keine Opfer zu verzeichnen? Soll er die Polizei rufen, die Sache ins Öffentlich-Institutionelle auslagern? Soll er den Bedrohungs-Männern entgegen treten und sagen: Sowas machen wir hier nicht, und damit paternalistisch, kolonialistisch, didaktisch und eventuell zumindest diskutierenswert respektlos gegenüber ihrer Kultur auftreten oder den Anschein erwecken, er verteidige „die deutsche Frau“, seine deutsche Frau? Soll er ihnen eine reinhauen? Oder soll er sich an die seltsam altmodisch wirkende, west- oder gar nur nordeuropäisch geprägte, an die CSU und Mutti erinnernde, zweifelhaft moralische und unpräzise Kategorien des Anstands oder des Allgemeinmenschlichen halten, die da sagen, so geht’s nicht, da muss jetzt mal einer was sagen, hier in der U-bahn, und zwar auch und am besten bitte
ein anderer Mann?
August 2016 – 9W4T – Herzwerte
Meine Herzwerte stimmen nicht. Kein Witz. Meine Hausärztin schickt mich in die Klinik. Sie hat Angst, ich hab ne Lungenembolie. Ich nicht. Ich liege in der Rettungsstelle der Charite auf einem Bett und in meiner linken Armvene bohrt eine Schwester nach Blut (die rechte war gestern bei der Hausärztin dran), das tut weh und sie kriegt keinen Zugang hin, blöde Kuh, den werd ich eh nicht brauchen.
Links ein Vorhang, vor mir ein Vorhang, dahinter Schattentheater. Ich kann die komplette Anamnese plus halber Biografie einer alten Dame aus Ludwigshafen mit anhören, inklusive der Verlegung eines Blasenkatheters. Vielleicht mach ich mal ein Hörspiel draus, ich mache eine Notiz. Ich muss dringend aufs Klo (vielleicht war zu viel vom Blasenkatheter die Rede), aber erst als die Ärztin und die Schwester weg sind, trau ich mich an der Dame vorbei auf den Gang. Sie lächelt mich an und hat jetzt auch noch ein Gesicht zur Herzklappen-OP rechts vor drei Jahren, und den seit Wochen nässenden Beinen.
Da ist so ein Putz-Typ, der hat schon dreimal am Zimmer vorbeigewischt, immer den Linoleum-Gang runter und wieder rauf. Er glotzt mich irgendwie geduckt gierig an, keine Ahnung, vielleicht weil ich im Bett liege oder so. Perverso! Bestimmt ein Ex-Knacki, der hier nochmal ne Chance bekommt, den Boden zu moppen. Der wischt da landauf und landab und die Toilette ist trotzdem siffig wie ne Bar in Neukölln. Ich! liebe! Desinfektionsmittel! hnfp, hnpf, immer schön aus dem Spender. Hnpffff.Pf. Das ist bestimmt auch gut für die Haare.
Dem hinterm Vorhang neben mir wirds langsam langweilig. Sein Arzt hat aber auch echt nicht so richtig Bock auf ihn. Kurz bevor ich gehen muss, schiebt er den Vorhang beiseite und unterhält sich mit mir über die Bücher auf meinem Kindl – zu meiner Überraschung kennt er alle, sogar The Girls, dieses brandaktuell gehypte Buch von einer Frau über die Frauen aus der Manson-Familie – eigentlich macht der Typ den Eindruck eines Bauarbeiters (möp, sorry, Bauarbeiter-Diffamierung, woher die Annahme, dass die keine FAZ-Rezensionen lesen) mit Niereninsuffizienz (wie gesagt, Vorhang, Hörspiel).
Am Ende bin ich draußen, ohne Embolie. Hätte ich euch gleich sagen können. Ich weiß, warum meine Herzwerte nicht in Ordnung sind!
August 2016 – 8W4T – der Stand der Dinge
ein mann hat eine affäre. er beendet die affäre und will zurück zur frau. die frau ist bereit, ihm zu verzeihen. da will der mann nicht mehr zurück. er will lieber noch mehr affären haben.
August 2016 – Urban
C. ruft mich an:
J., angereist aus Anlass von Cs. Geburtstagsfeier, angereist nach sehr langer Zeit mal wieder, angereist aus einem früheren Leben, in dem wir drei viel miteinander zu tun hatten, hat ihr eine sms gschrieben: Sie liegt im Urbankrankenhaus mit Herzinfarkt. Ich lasse alles stehen und liegen und fahre hin.
Auf dem Weg dorthin versuche ich sie zu erreichen: Anruf, sms. Keine Antwort. Ich bekomme Angst. Was wenn ich zu spät komme, was, wenn sie stirbt, allein in dieser fremden Stadt, wie kann ich ihren Freund erreichen, der inzwischen ihr Mann ist, und von dem ich nicht mal weiß, wie er mit Nachnamen heißt, was für Schmerzen hat sie gehabt, was erlebt man, wenn man einen Infarkt hat, was bedeutet das für die Zukunft, warum habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr, wenigstens lose, eine Gratulation zum Geburtstag, da bricht man sich doch keinen Zacken aus der Krone, bei allen Animositäten, die es zwischen uns auch gegeben hat. Sie ist 47 Jahre alt, das geht doch nicht. Das geht gar nicht.
Ich laufe aufs Urban zu. Da wandeln sie herum, die Patienten (die ja immer auch Wartende sind, auf Besserung, den weiteren Verlauf, die nächste Untersuchung, die Erlösung, auf was der Arzt sagt) oder sitzen in ihren Rollstühlen, in ihre Hemdchen gesteckt, die Beine ab, die Haare dünn, die Gesichter bleich, Beuteltiere, die ihren Urin, ihre nässenden Flüssigkeiten, ihre tropfenden Medikamente an Stangen, auf Schößen, an Haltevorrichtungen mit sich herumtragen wie Verlängerungen ihrer selbst. Die, begleitet von Freunden oder Söhnen oder Cousinen oder allein die paar Schritte ans Kanalufer gehen, aufs Wasser schauen, auf dem Bänkchen in der Sonne sitzen, in ihr Handy reden, auf Schwäne und gesunde Menschen gucken und unbekümmert aussehen und doch so bekümmert sein müssen, man sieht ja nie rein, in die Menschen. Die sich ein bisschen gute Zeit abtrotzen, ein Momentchen haben hier, bei dem schönen Wetter, denn um den geht es doch, um das Momentchen, Leben, Trost, Normalität, mitten zwischen den Schmerzen, dem Tod, seinem Wahnsinn.
Sie liegt auf der Intensivstation, sagt man mir an der Rezeption. Das macht die Angst nicht kleiner. Ich sehe Schläuche, bleiche Haut, piepsende Geräte. „Da dürfen Se erst ab drei hin“. Das sind noch anderthalb Stunden. Ich eile herum, kaufe Blödsinn ein, den ich eh noch einkaufen muss, und überlege, was ich ihr mitbringen könnte. Blumen, Zeitschriften, Schokolade, darf man Süßes essen nach einem Herzinfarkt, was wenn ich da stehe, mit meinen Blumen und dem ganzen Scheiß und sie ist gestorben, sind Blumen auf Intensivstationen überhaupt willkommen, herrscht da nicht allerhöchste Hygienealarmstufe? Ich entscheide mich für eine Sonnenblume, die ich leicht kürzen lasse.
Punkt 15 Uhr betrete ich die Klinik erneut, suche mir meinen Weg auf die Station, fasziniert wie immer vom System Krankenhaus als atmendem, geradezu städtischem Organismus wie aus einem Science Fiction Film.
Auf der Station muss ich klingeln, um eingelassen zu werden („Schleuse“). Als ich den langen Gang hinuntergehe (Linoleum), schiebt sich ein paar Meter vor mir von rechts ein Bett aus dem Quergang, darin ein frisch Operierter, schwer krank, gerade so noch am Leben, gleitet wie ein Geisterschiff vor mir nach links, gelenkt von einem ungerührten Gondelfahrer im Kittel. Weg ist es, das Geisterbett, verschwunden im Nebel. Ich muss noch ein paar Gänge weiter links rechts.
Ich nutze jede Gelegenheit, mir die Hände zu desinfizieren.
Ich finde J. im hinteren Teil eines Zweibettzimmers, schlafend. Sie wacht auf, als ich mich neben sie setze. Sie ist da, wach, freut sich, umarmt mich, wirkt nur leicht angeschlagen, ich nehme für einen Moment ihre Hand. Sie erzählt, was passiert ist. Seit Monaten Schmerzen in der linken Schulter, Brust. Dachte, es ist was Muskuläres. (Sie macht einen Knochenjob.) Keine Zeit, kein Geld (Freiberufler, vorübergehend keine Krankenversicherung), sich drum zu kümmern. Gestern im Auto (allein) von München nach B, schon während der Fahrt irgendwie schlimmer (und wenn sie ihn im Auto gehabt hätte, den Infarkt). Abends dann: ein paar Schlucke Wein beim Übernachtungsfreund, nachts dann: Notarzt.
Sie ärgert sich, es waren wirklich nur ein paar Schlucke, nicht, wie die Sanis (4 Schränke, ich sehe ein Foto wie sie vor ihr stehen, J. gestikulierend auf einem Sofa), ihr was unterstellen wollten, Alkoholismus. Alle sehr schnell, kompetent, nett. Heute Morgen haben Sie ihr einen Herzkatheter gelegt (Kanülen in Handgelenk, Ellbogen), sie konnte zugucken, auf dem Monitor, wie sie sich durch ihren Arm bis in ihr Herz vorgetastet, und ein Stent gesetzt haben. Jetzt geht es ihr wieder gut, sie fühlt sich wirklich ganz gut.
Der Pfleger, mit der schnorchelnden frisch operierten Halbleiche hinterm Vorhang beschäftigt, hört jedes Wort, das wir sprechen, meint, es ihr sagen zu müssen, nachdem er mir eine Vase für die Sonnenblume gebracht hat: Sie rauchen, hab ich gehört? Sie wissen, dass es da einen Zusammenhang gib. J. weiß es. Es ist nicht so, dass ihr der Gedanke nicht auch schon gekommen ist. Sie macht ne Kotzgeste als der Typ wieder weg ist.
Sie raucht, seit ich sie kenne. Ich kenne sie seit dreißig Jahren. Sie hat ihre Morgenkippe im Frühstücksei ausgedrückt, in der Küche unserer WG, ich hab mit ihr zusammen gewohnt in meiner ersten Alleine-Wohnung, mit 18. Sie war wichtig für mich. Sie war immer stark, hart im Nehmen und Austeilen, zynisches Weltverhältnis, abgebrüht, ein Brocken, und sehr lieb. Die beiden Salz- und Pfeffer-Schweine aus Holz, eins dicker und größer, das andere schmaler und kleiner, die ich heute noch habe, sind von ihr, aus dieser Zeit. Sie ist mir fremd und trotzdem nah. Ich kenne ihre Haare, ihre Bewegungen, ihren Körper, der über die Jahre schlanker geworden ist, dem sie Gewicht abgetrotzt hat, ich sehe ihre Haut, ihre Nägel, wie sie gestikuliert, sich wehrt, gegen die latenten empörenden Vorwürfe die man ihr macht. Was sieht sie, wenn sie mich anschaut? Sie ist jetzt mit F. verheiratet, sie zeigt mir Bilder vom Häuschen, das sie umgebaut haben, ich freue mich sehr, alles sieht gut aus, schön, nach ihr, ihr selbst, angekommen, glücklich, stabil, alles.
Das ist mir zu früh. Mir ist das alles zu früh. Ich dachte, ich muss erst in zwanzig Jahren zu jemand ins Krankenhaus fahren mit Herzinfarkt. Ich mag diese Vorboten nicht, diese Vögel, die vorbeifliegen, die sich eines Tage einnisten werden, in unsere Leben, ihre Schnäbel in uns bohren werden, nicht mehr weggehen, sich niederlassen werden, um zu bleiben bis zum Schluss.
Als ich im Aufzug wieder runterfahre, steigt ein Arzt ein, weißer Kittel, Gesundheitsschuhe, sonore Stimme. Er grüßt nickend, drückt den Knopf, das Handy am Ohr. Ja, Dr. Meier hier, ich rufe an nochmal wegen dem Patienten mit den Hodenprothesen.
Herrgottnochmal, Leute, Ärzte, Schwestern, Pfleger, Linoleumbodenwischer, wie könnt ihr da nur arbeiten? Wie könnt ihr das nur alles aushalten, diese schrecklichen, schrecklichen Dinge, wie könnt ihr darüber reden als wäre das nichts, als wäre es normal, ein Sachverhalt, kein magenzerrender, angstmachender Supergau. Diese ständige Bedrohung, diesen Tod, der überall lauert, das Leiden, das so präsent ist in den Krankenakten, als wäre es die Regel und nicht die Ausnahme. Ich meine, ich verstehe das Prinzip, natürlich, das pragmatische Angehen, aber ich verstehe nicht, wie man so leben kann. Was würde ich drum geben, eine Krankenschwester zu sein, so ein Typus zu sein, der seine festen Arbeitszeiten hat, der seinen Job gut macht, den Leuten das Essen reicht, ihnen den Moment erleichtert, mit einem aufgeschüttelten Kissen, der die Notwendigkeit einer Blutabnahme oder einer Tablettengabe einsieht, nach vorne schaut, denn man kann hier auch gesund werden, denkst du denn daran gar nicht, nein., und am Ende der anstrengenden Schicht nach Hause geht, und sich freut, dass dort alles seinen Gang geht.
Zwei Tage später wird J entlassen. Sie taucht auf dem Geburtstagsfest auf wie geplant. Sitzt ihr der Schreck in den Knochen, in den Gliedern, im Herzen? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sehen. Macht sie weiter wie bisher, ist es nicht plötzlich das größte Glück, weiterzumachen wie bisher oder ist es Zeit etwas zu ändern und das ist das Glück? Was macht man mit so einer Erfahrung?
Ich weiß es nicht.
Ich bin einfach nur unendlich froh, dass ich da war.