Kürzlich fragt mich eine Freundin, ob ich eigentlich manchmal paranoid sei. Sie fragt nicht, weil sie annimmt oder findet, dass ich paranoid sei, sondern aus ehrlichem Interesse und weil sie selbst manchmal solche Tendenzen an sich erlebt. Zu meinem eigenen Erstaunen antworte ich mit Ja. Ja, ich bin es geworden. In den letzten Jahren. Nicht auf diese Art paranoid, wie man das landläufig versteht, also eine Verschwörung vermutend, davon ausgehend, dass im Geheimen systemisch-personelle Vorgänge im Hintergrund der Gesellschaft vor sich gehen, die man auch noch als einer der wenigen Wissenden zu durchschauen glaubt und womöglich vorausschauend darauf reagiert, Alu-Hut. Nein, so nicht. Einfach nur paranoid meinen Mitmenschen gegenüber.
Früher war ich nicht paranoid. Natürlich habe ich mich manchmal gefragt, was hinter meinem Rücken vor sich geht, ich habe geahnt oder gewusst, dass die Menschen in meiner Umgebung manchmal schlecht über mich reden, dass sie nicht immer ehrlich zu mir sind, dass sie Dinge tun, die sie mir lieber verschweigen. Aber ich habe darin nie so etwas wie eine böse Absicht oder ein strategisches Vorgehen gewittert, das dazu da ist, mir zu schaden. Ich habe das eher als Teil von sozialer Interaktion begriffen, als Aspekt von Beziehung, als Versuch, Komplexität zu reduzieren, wenn Kommunikation, Gefühlslagen, Bedürfnisse zu fordernd sind, um sie transparent zu machen. Doch in den letzten Jahren habe ich Situationen erlebt, in denen die Menschen in meiner Umgebung Dinge getan haben, die sich mit den Umständen in denen sie stecken, nicht entschuldigen oder erklären lassen. Handlungen, die nichts anderes sein konnten als strategisch angelegte Aktionen zur Erreichung eines persönlichen Ziels oder Vorteils durch die absichtsvoll herbeigeführte Verschlechterung der Situation einer anderen Person. Meiner Person.
Auch wenn ein Kern von Verständnis immer bleibt, hat das eine andere Qualität. Es ist das Erlebnis eines Betrugs. Es führt dazu, dass etwas entsteht, was man den Verlust von Vertrauen nennen kann. Der andere ist potentiell ein Feind, er ist gefährlich. Er ist in der Lage, Dinge zu tun, die man sich SO nicht hätte vorstellen können, Dinge, von denen man nicht gedacht hätte, dass DIESE Person sie JEMALS tun würde. Väter, Lebensgefährten, Freundinnen, Kolleginnen zum Beispiel. Menschen aus dem nahen Umfeld also, dem Umfeld, in dem man gar nicht existieren und agieren kann, ohne zu vertrauen.
Man könnte jetzt sagen, muss man das gleich Paranoia nennen, ist das nicht eher sowas wie gesundes Misstrauen. Das paranoide Gefühl kommt aber anders als das Misstrauen als Überfall daher, es ist ein Schock, ein Erlebnis, eine plötzliche Erkenntnis, dass alles ganz anders ist, als man immer angenommen hat, es erfasst einen als Angst. Davor, dass es tatsächlich so ist, wie man gerade begreift oder noch schlimmer: dass die ganze Angelegenheit eine Dimension haben könnte, die man auch jetzt, in diesem Moment, nicht mal ansatzweise erfasst hat. Ein Wissen, das sich in aller Plötzlichkeit einstellt, eine bittere Wahrheit. Der Eindruck der Bodenlosigkeit ist die Folge. Einmal erlebt, kann sich das paranoide Gefühl in anderen Zusammenhängen genauso überfallsartig wie von selbst wieder einstellen und dadurch Angst machen. Es hat das Potential schwelend zu werden, wenn du nicht das Glück hast, es zu vergessen, oder die Stärke, es aktiv beiseite zu schieben, dich dagegen zu entscheiden. Hier ist sie, die Schnittstelle zum Wahnsinn oder korrekter zum Pathologischen.
Die Schwester der Paranoia ist also die Einsamkeit. Das paranoide Gefühl trennt einen ab von allen anderen. Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Auf dem stehen die anderen, alle anderen, aber nicht mehr man selbst. Vertrauen kann ab hier nur noch temporär vergeben und mit längerem Anlauf eingegangen werden. Sie macht einen selbst zu einem absichtsvoll agierenden Wesen. Das Vertrauen, das man hat, das man großzügig und ohne Hintergedanken zu geben bereit ist, weil man es für richtig, ja, für einen Wert hält, diesen Vorsprung zu geben, fällt plötzlich auf die Seite der Naivität, der Dummheit. Was hast duu denn gedacht? Sieht man doch in jeder Serie.
Das paranoide Gefühl, dem nahen Umfeld entsprungen, geht eine unglückliche, sich gegenseitig verstärkende Verbindung ein mit den Unsicherheits- und Einsamkeits-Erfahrungen der letzten Jahre, die auf anderen Ebenen erlebt wurden. Nicht nur von mir, sondern von der Menschheit. Dazu gehört die Pandemie mit ihrem Kern einer apokalyptischen Erfahrung, der Trumpismus als Chiffre für einen bis ins Innere von Demokratien reichenden Politikwandel, der ebendiese als Vorschlag behandelt, der erlebbar werdende Klimawandel, der die Liste möglicher Todesursachen um Sturm, Hitze, Wasser erweitert und konkrete Vorstellungen über ein Leben in der Zukunft aufruft sowie der Ukraine-Krieg mit seinen Auswirkungen auf die seit Generationen gewohnte geopolitische Weltaufteilung und die in ihm enthaltene Möglichkeit eines Dritten WK oder eines atomaren Supergaus, welcher Art auch immer.