Auf die Frage, welchen Superskill ich bevorzugen würde, fliegen können oder unsichtbar sein, antworte ich, natürlich, mit unsichtbar sein. Meine Liebe zum Beobachten von Situationen einerseits und meine soziale Angst andererseits, legen diesen Wunsch nahe.
Als ich ein Kind war, hat einmal ein Erwachsener in Anwesenheit meines Vaters über mich gesagt, ich sei ja sehr schüchtern. Ja, hat mein Vater gesagt, aber wer schüchtern ist, träumt eigentlich davon, im Mittelpunkt zu stehen. Das war ein erstaunlicher Moment für mich. Ein Moment von Erkenntnis. Zum einen der Erkenntnis, dass mein Vater mich gesehen hatte, dass er etwas von mir verstanden hatte, und zum anderen, dass sich hinter der, mit unangenehmen, ja, quälenden Gefühlen verbundenen Schüchternheit etwas anderes verbergen könnte. Diese Art von Erkenntnis löst die Schüchternheit nicht auf, sie bringt nur ein wenig Licht ins System.
Ich habe die Situation auch als schamvoll in Erinnerung. Sowohl in der äußeren Bemerkung, als auch in der Bemerkung meines Vaters, schwingt Kritik mit. Schüchtern sein ist in beiden Bemerkungen als defizitär markiert, als Verhalten, das den Erwartungen und Wünschen nicht so recht entspricht, an dem gearbeitet werden muss und, in der Bemerkung meines Vaters, zusätzlich als etwas Unehrenhaftes, als Versuch, die Wahrheit, nämlich einen narzisstischen Wunsch (im Mittelpunkt zu stehen), zu verschleiern, zu verbergen, und damit ihn, aber auch mich selbst zu betrügen. Ich habe mich gesehen (geschmeichelt) und entblößt (beschämt) gefühlt gleichermaßen.
Ich bin tatsächlich oft unsichtbar. Man übersieht mich. Ich glaube, es gibt dabei eine starke körperliche Komponente, ich bin klein, zierlich, weiß, habe ein unauffälliges Gesicht, unauffällige Haare, meine Stimme ist eher hell, manchmal leise, so leise, dass man mich leicht überhören kann. Ich bewege mich Situationen angepasst, bin eher ruhig, sage bitte und danke und weiß mich zu benehmen. Ich nehme nicht viel Raum ein. An Tischen, auf Stühlen, in Regalen. Ich gehe unter. In der Menge, der Masse. Ich steche nicht heraus. Ich bin eine von vielen, von Tausenden, von Millionen, manchmal werde ich verwechselt, weil es so einen Typus wie mich öfter mal gibt, Anke?, ach entschuldige, ich dachte, du wärst… Wenn ich auf einer Party herumstehe, gehöre ich nicht zu denen, die man im Raum entdeckt, deren Nähe man sucht, mit denen man ins Gespräch kommen möchte, ich werde selten angesprochen, man kommt nicht auf mich zu. Auf der Straße stolpert man über mich, man streift mich im Gedränge, am Tresen sieht man mich nicht. Mit Blicken hakt man sich an denen fest, die größer, kraftvoller, klarer sind, in ihren Umrissen, ihnen gewährt man Abstand, über mich sieht man hinweg. Am ehesten noch bin ich der Typ, den man nach dem Weg fragt. Ich laufe also mit einem Geheimnis durch die Welt. Das Geheimnis bin ich.
Ich mache mich nur selten oder auf verschlungenen Wegen sichtbar, nur wenige bekommen mich zu Gesicht. Ich verstecke mich. Im Schutz meiner Unsichtbarkeit fühle ich mich sicher, entlastet. Ich erzeuge sie. Durch Fragen an meine Mitmenschen, durch formelhaftes Sprechen, durchs Ausschweigen über mich selbst, bis hin zur Verstocktheit, zum pathologischen Verstummen, ja stumm sein. Ich bin also: Invisible Girl.
Wie bei allen Superhelden weiß nur ich, wissen nur wenige, dass ich eine Superkraft besitze, und wie alle Superhelden leide ich unter ihr. Sie schützt und sie quält mich, sie macht mich möglich, sie definiert mich, und sie verhindert mich, schadet mir. Ich bewege mich in ihrer Freiheit, unter ihrem Schutzschild, gleichzeitig ist sie mein schlimmstes Gefängnis, mein größter Feind. Classic double twist.
Unsichtbarkeit ist ein feministischer Klassiker. Die Unsichtbarkeit (und in ihren Verlängerungen Schüchternheit und Scham) ist eine weibliche Tugend – die Sichtbarkeit als attraktive Frau eine Pflicht. Auch hier liegt das Dilemma schön doppelt schizophren und damit unlösbar vor. Frauen im mittleren Lebensalter beschreiben häufig das Gefühl, unsichtbar geworden zu sein. Unsichtbar „als Frau“. Irgendwann mal also, waren sie sichtbar, nun sind sie es nicht mehr, sie verschwinden von der Bildfläche, lösen sich auf.
Dieser Eindruck referiert auf den männlichen Blick (der strukturell ist, also auch von Frauen geworfen wird), der nicht mehr stattfindet oder als abweisender, abwertender, gleichgültiger Blick zugeteilt wird. Der Superskill Unsichtbarkeit ist eine Möglichkeit, sich dem männlichen Blick zu entziehen, außerhalb seiner Sphäre zu agieren, sich auf die Seite des Beobachters begeben zu können.
Wer unsichtbar ist, ist draußen.
Im Draußen liegt immer beides, Schmerz und Freiheit.
Ich bin mir nicht sicher, ob die Person, die damals in Anwesenheit meines Vaters die Bemerkung über meine Schüchternheit gemacht hat, eine Frau oder ein Mann war. Ich meine, eine ältere Frau. Was ich sicher weiß, ist, dass mein Vater ein Mann ist. Wollte er mir Mut machen, nicht so schüchtern, nicht so „weiblich“ zu sein, ein empowernder Akt also? Wollte er durch die Aufdeckung meines Narzissmus, meiner bis zur Unkenntlichkeit vergrabenen inneren Idee, eigentlich grandios und etwas Besonderes zu sein – eine Idee, eine Sehnsucht, die jedes Kind, jeder Mensch von sich hat und die mir dennoch bis heute die Schamesröte ins Gesicht treibt, wenn ich sie nur aufschreibe – eben diese Idee auflösen? Beides ist möglich. Beides ist vielleicht irgendwie passiert. Ich habe aus beidem etwas und nichts gemacht.
Warum ich diese Fähigkeit wählen würde, wo ich doch bereits unsichtbar, ein Invisible Girl bin, ist im Grunde also rätselhaft. Müsste der ersehnte Superskill nicht die Sichtbarkeit sein? Oder grundlegender, die Fähigkeit keine soziale Angst zu haben, sich in der Gesellschaft und dem eigenen Ich sicherer und freier bewegen zu können. Sich das zu wünschen ist, als wünsche man sich, neu geboren zu werden und jemand anderes zu sein. Ich weiß heute, dass ich ein großes Bedürfnis danach habe, sichtbar zu sein und endlich nicht mehr unsichtbar. Ich kämpfe also gegen mich an. Ich versuche, mich aus der Unsichtbarkeit herauszuholen. Meine Enttäuschung darüber, dass es trotz großer Anstrengung nicht klappt, ist groß. Aber wie soll das auch gehen, ich habe einen starken Gegner.
In der Strategie der Unsichtbarkeit liegt eine gewisse Fuchsschläue, und auch etwas Überhebliches. Wer unsichtbar ist, kann dabei sein, ohne teilzunehmen, kann Wissen und Erfahrung sammeln, ohne je etwas beitragen oder am eigenen Leibe erfahren zu müssen. Die Unsichtbarkeit ist eine einfache Lösung, die Sichtbarkeit ein ständiges Risiko. Die Sichtbarkeit bedeutet Konfrontation, Gefahr, sie bedeutet, dem Ich als Fehler unmittelbar ausgesetzt zu sein. Die Unsichtbarkeit vermeidet das Leben. Sie quält ihre Besitzerin, weil sie sie zur Randexistenz erklärt und sie dem Ohnmachtsgefühl aussetzt, nicht oder nicht genug am Leben zu sein und niemals sein zu können. In der Unsichtbarkeit liegt eine Kraft, eine Möglichkeit, eine indirektes, beobachtendes, beschreibendes, eher analytisches Verhältnis zur Welt herzustellen.
Vielleicht ist es genau das, womit ich gerne sichtbar wäre.