Februar 2017 – Geist

Ich bin ein Geist.

Es ist nicht sicher, ob ich da bin. Da gewesen sein werde.

Ich werde gesehen oder gefühlt, das ist anzunehmen. Alles spricht dafür. Es scheint logisch. Denn ich mache ja den Mund auf, rede, berühre jemanden. Manchmal bekomme ich Antwort. Das ist alles zu beobachten. Ich bin mir ein Rätsel, das sich nicht lösen lässt, im Angesicht der anderen. Ich schwitze nicht in meinem Angesicht. Nicht mal in der Sauna.

Mein Körper ist nicht die Lösung. Er ist mein Feind. Er schmerzt. Die Angst ist mein Feind. Sie verwirrt mich. Wie ein alkoholisches Getränk, ein Wein-Geist. Benebelt meine Sinne, bestimmt mich, fordert ihr Recht ein, versucht, mich auf ihre Seite zu kriegen, mich zu überreden, macht mir Gedanken, Sorgen, argumentiert, und hat nur immer ein Bedürfnis, das Seltsamste von allen: Zu verschwinden. Sich aufzulösen. Nicht-Angst zu sein. Ist es die Angst, die flüstert oder ein gutes Argument. Auf welcher Grundlage treffe ich meine Entscheidungen. Ich stehe auf keiner Grundlage.

Februar 2017 – Schande

Ich fahre mit dem Fahrstuhl von der Haltestelle U Schillingstraße hoch auf die Straße. Im Aufzug mit mir ein älteres Paar, im typisch mausbeigegrauen Renter-Outfit, (das die alle offensichtlich in irgendeinem geheimen Rentnerladen kaufen, von dem niemand außer ihnen weiß. Die Info, wo der sich befindet, kriegt man erst mit 65. 67. Vom Staat. An alle, jetzt: Bitte lasst uns woanders shoppen gehen, wenn es soweit ist!) Die beiden halten sich schon schwer aneinander fest, um nicht umzufallen, so gebrechlich sind sie. Als wir hochfahren – der Aufzug ist aus Glas und fährt sehr langsam, offensichtlich konzipiert für all die aufzugfahrenden Problemfälle wie Alte, Kranke und Kinderwagen –  haben wir einen Panoramablick auf einen Obdachlosen, der sich mit Sack und Pack direkt neben dem Fahrstuhl auf der Straße niedergelassen hat und dort pennt.

Eine Schande ist das, sagt der Mann.

Vielleicht liegt es daran, dass ich als irgendwie links sozialisiertes Westkind ein nostalgisches Verhältnis zur antifaschistischen und antikapitalistischen Haltung der DDR habe, dass ich diesem Mann – den ich, weil er mit seiner Frau in einem Wohngebiet im Osten aus dem Aufzug steigt, für einen ehemaligen DDR-Bürger halte, vielleicht ist hier schon alles falsch – für einen Moment, trotz aller Stasi-Opa-Assoziationen, die ebenfalls hochpoppen, unterstelle, dass er etwas ANDERES meinen könnte, als all die verspießerten, ebenso mausbeigegrauen, allerdings wohlhabenden West-Gnaddel (schwäbisch für Nörgler), wenn sie diesen Klischee gewordenen Satz aus den 70ern/80ern von sich geben. „Eine Schande ist das“. So viel Bitterkeit, so viel Verachtung in diesem Satz. Doch für was? Könnte es sein, dass dieser alte Mann meint, dass es eine Schande ist, dass es sowas (bei uns) gibt? Dass Menschen auf der Straße neben Aufzügen leben, keine Wohnung, keine Arbeit haben. Dass sie arm sind. Dass das jetzt also die Welt ist, in der auch die Ossis seit dem Ende der DDR leben, die Welt vor der die DDR sie immer gewarnt hat? Oder meint er das Übliche, Erwartbare, nämlich dass der Obdachlose selbst eine Schande ist, weil er nicht arbeitet, rumhängt, dem Staat auf der Tasche liegt, und seine Mitmenschen mit seinem Geruch, seinem Anblick, seiner Anormalität belästigt wie jeder dahergelaufene PUNK?

Ich hab ihn nicht gefragt, den Mann. Eine Schande ist das.