Oktober 2017 – Kamera

Ich lese was über den Eklat auf der Buchmesse rund um Höcke. Ich will was sehen, also gehe ich auf Youtube. Gleich die ersten Treffer zeigen mir ausführlich Videos von der Sache. Alle diese Videos sind von den Rechten. Also nicht, dass da drunter steht: schöne Grüße die Rechten, oder filmed by AfD, oder NSU News. Nee, dazu sind die viel zu clever. Das sind irgendwelche Seiten, die RT Deutsch oder Opposition 24  oder besonders schön: newsleak heißen.

Rechts werden sie durch ihre Positionierung, ihre Perspektive, ihren Blick auf die Sache, rechts werden sie buchstäblich durch ihre Kamera. Immer wieder interessant zu sehen, wie das funktioniert. Sie filmen Höcke vom Podium aus, auf dem er steht. Sie filmen die Claqueure, die Begeisterung. Sie zeigen die Bedrängnis in die er gerät durch die „Linksextremen“ – ein Stichwort, das dann auch im Titel des Videos auftaucht. Sie nehmen eine einzelne Protestlerin in den Blick, als würden sie sagen, guckt euch das Gesockse an, das hier rumrennt, guck durch mein Visier, Shooter, die kannste dir merken, die Alte, dieses Zecken-Face hier, das ist das Target. Da muss gar nichts weiter geredet werden. Da kann sich ja jeder selber ein Bild machen.

Wie gesagt, die ersten 5 Treffer bei Youtube.

Oktober 2017 – Ein Lehrer

Ein Lehrer ist gestorben.

Ich mochte Lehrer nicht, aber ihn, ihn mochte ich.

Sehr.

Er hat was hinterlassen in mir. Er hat mir Erfahrungen und Gedanken und Erkenntnisse geschenkt. Nein, ermöglicht. Er hat mich, zumindest ein bisschen, gesehen. Das ist mir vorher und hinterher nicht passiert. Nicht ein einziges Mal. Bei keinem anderen Lehrer.

Ich lese einen Text von ihm.  Ich erkenne ihn wieder. Höre seine Stimme, erlebe noch einmal seinen feinen, melancholischen Humor. Ein zarter Mensch, einsam und verbunden, wütend und verzweifelt, manchmal eingesperrt, in seine Anständigkeit, das wiederum, wegen der Anständigkeit, ertragend.

Nach langer Krankheit. Krebs, denke ich.

Dann erfahre ich: Suizid.

Er hatte schwere Depressionen.

 

Oktober 2017 – M.

Wir holen M. von der Tagespflege ab, in die sie jetzt nachmittags öfter geht.

Guck mal, wer da ist, sagt B., mein Stiefvater, ihr Mann.

M. sieht mich, freut sich wahnsinnig, und ruft den Betreuerinnen zu: Meine Schwester, schaun Sie, meine Schwester ist gekommen!

 

Oktober 2017 – Elstern

Kürzlich lese ich, dass auf einem Bauernhof Kühe von Elstern verletzt wurden. Die Elstern haben die Kühe an besonders empfindlichen Stellen gepickt, After und Euter, immer wieder und wieder. Eine Kuh war so schwer verletzt, dass sie getötet werden musste. Elstern gelten als intelligent. Jetzt noch mehr.

Oktober 2017 – chill the fuck out

Ein warmer Spätsommertag. Ein Typ auf der Brücke am Maybachufer. Hat ein Keyboard mitgebracht, und sich. Er ist entweder auf Droge oder schlecht eingestellt oder schlicht in der manischen Phase. Er singt, haut in die Tasten, die Drummachine klingt als wär 1986. In Nullkommanix hat er ein begeistertes Publikum. Jeder Song wild und selfmade. Also Hut ab, bzw. was rein in den Hut. Dann kommt sein und ab sofort auch mein Lieblingssong. Wie ein Berserker schüttelt er seinen langen Halbpony von links nach rechts, drückt seinen schlaksigen Körper in ekstatische Höhen und brüllt mit sich überschlagender Stimme:

Chill the fuck out!

Chill the fuck out!

Chill!! the Fuck!! out!!!!

Dem ist nichts hinzuzufügen.

 

Oktober 2017 – Ausgeschlossen

In meinem Kopf bin ich längst draußen. Ich gehöre nicht mehr dazu.

Es rast davon der Weltenzug.

Ich bin ausgeliefert seiner Fliehkraft. Die mich nach hinten drängt.

Ich bin am Bahnhof zurück geblieben. Alle anderen sind miteinander. Schwatzen und baden wie eine Horde Spatzen. Ich stehe daneben und wundere mich. Wie können sie wissen, wie das geht. Ein Spatz sein.

Oktober 2017 – Aus dem Café heraus

Folgende Szene. Der Mann. Hat das Auto. Da verstaut er Sachen, im Kofferraum. Die die Frau gepackt hat. Taschen, voll mit Windeln und Ersatzklamotten und Fruchtmus und Feuchttüchern. Die Frau. Hat das Kind. Das klebt an ihr dran. Die kommt jetzt dazu. Der Mann klappt und faltet: Der Kinderwagen, er hievt und bugsiert, er holt wieder raus und stopft woanders rein, er baut an seinem Kofferraum, seiner Tetris-Skulptur, seiner Taschen-Kinderwagen-Kofferraum-Architektur. Die Frau währenddessen. Pult das Kind aus irgendwas raus und hebt es und schiebt es hinein, ins Auto, und zieht ihm irgendwas ab und stopft ihm noch irgendwas um, und beugt sich rüber und drüber und ruckelt es nochmal zurecht. Dann schnallt sie es an. Und erst am Ende sich. Neben dem Kind. Auf dem Rücksitz. Der Mann klappt den Deckel vom Kofferraum zu, und sie fragt noch, ob er irgendwas hat oder macht oder gemacht hat, und er sagt, natürlich hat er das, und dann steigt er ein, auf den Sitz hinterm Steuer, und fährt los.

Wirklich, so will man leben?

September 2017 – Die Wahl

Einen Moment lang fühle ich mich erhaben. Ich komme aus der Grundschule, in die man mich disponiert hat und habe an etwas teilgenommen. An einem größeren Ganzen. Ich wurde wahrgenommen. Man hat mich gefragt. Ich hab den Termin eingebaut, in meinen Tag, drumrumgewickelt die anderen Sachen. Jetzt weiß ich, meine Stimme wird gezählt.

Ich verfolge den ganzen Abend die Ergebnisse. Alle haben sich über den langweiligen Wahlkampf beklagt. Jetzt ist nichts mehr langweilig. SPD abgestiegen, CDU abgestiegen, Seehofer raus aus der CSU?, Frauke Petry raus aus der AfD (Drama Queen, neue Partei?!) Mit Jamaika hab ich gerechnet. Mit der Ansage der SPD nicht mehr regieren zu wollen, nicht. Bisschen Respekt. Ich dachte, die schleimen sich ein und Merkel will eh lieber mit den anderen. AfD – Jetzt ist es Realität. Sichtbare, verhandelbare, mehrheitenfähige Tatsache. Der Osten, die Männer, Enttäuschungswähler – alle vier Jahre bin ich verliebt in Jörg Schönenborn, niemand präsentiert Statistiken so herrlich öffentlich rechtlich wie er. Und immer mit der neusten No-Touch-Screen-Technik. Wie haben eigentlich die Deutschtürken gewählt? Finde ich nicht raus, auch die nächsten Tage nicht. Wär doch interessant (aber das Profiling ist vielleicht problematisch).

Ich treffe mich mit H., wir beide begierig darauf, die Sache zu diskutieren, AfD-Ursachenforschung zu betreiben. H., in der DDR aufgewachsen, den Mauerfall als Teenager erlebt, ist mein persönlicher Ost-Experte: Also sag doch mal. Warum? (der Arme). Der große Bruch in den Biografien? – Wir haben die nächste Generation. Die so gar nicht blühenden Landschaften? – Stimmt doch so nicht mehr. (Den Leuten in Neukölln geht’s schlechter). Flüchtlinge in kaum integrierbarer Zahl? – Keine Flüchtlinge in den AfD-Ländern weit und breit. Männer, die sich abgehängt fühlen, an verlotterten Orten rumsitzen und deshalb saufen? (Geht den Leuten in Neukölln genauso). Die Kolonisierung durch den Westen und die daraus resultierende Kränkung? Nachvollziehbar. Seh ich als Problem. Andererseits. Sie wollten ihn doch unbedingt, ihren Bananen-Kapitalismus. Haben sie doch vorher alle im Fernsehen gesehen, was das bedeutet. Haben sie in der Schule nicht aufgepasst, haben sie ihrer antifaschistischen DDR nicht zugehört, wie es hier zugeht, haben sie nichts kapiert? Wieso überholen ausgerechnet die rechts? Ich bin wütend. Seit Jahrzehnten Solidaritätsbeitrag und das ist der Dank?

Was war eigentlich mit Ausländern in der DDR? Hatten die keine? Da gab es doch auch human traffic, Austausch mit den sozialistischen Bruderstaaten, Kuba, Vietnam. Ich erzähle H. dass ich vor zwei Jahren an der Kasse bei Galeria Kaufhof stand, und der Kassierer auf die Frage der Kundin vor mir, wo man hier irgendwo Blumen kaufen kann, sagte: Unten am Alex ist ein Fidschi. Ein Fidschi. Mir ist der Mund offenstehen geblieben. Er fand nichts dabei. Er hat es nicht böse gemeint. Es war für ihn kein Schimpfwort, es war das normale Wort für Vietnamese in der DDR. So wie für meinen Vater das Wort Neger nie ein Schimpfwort war, wieso denn auch, er fand die doch immer alle ganz sympathisch und toll und war voll auf ihrer Seite.

H. erzählt eine interessante Geschichte. Direkt neben ihnen, im Haus nebenan, haben Vietnamesen gewohnt. Sie kamen, um in der DDR eine dreijährige Ausbildung zu machen. Danach gingen sie zurück. Sie bekamen alle – ein großes Thema für H.s ältere Brüder – eine Simson Maschine gestellt. Sowas war normalerweise gar nicht zu bekommen. Gehörte anscheinend zum sozialistischen-Bruder-Paket. H. war noch klein, aber seine Brüder waren neidisch.

Zwischen ihnen, also H., seinen älteren Brüdern und den Vietnamessen gab es keinen Kontakt. Nie. Obwohl sie direkt nebendran waren. Müssen die nicht Deutsch gesprochen haben, wenn sie in der DDR eine Ausbildung gemacht haben? H. weiß es nicht. Aber die Vietnamesen wollten den Kontakt vielleicht auch nicht so, sie wollten unter sich bleiben, in dieser temporären Internatssituation, in die man sie gebracht hatte. Ausbildung machen und ab nach Hause. Aber wer weiß das schon, hat ja keiner mit ihnen geredet.

Am Ende ihres Aufenthalts bauten sie riesige Kisten aus Holz. Sie hämmerten und sägten und palaverten vor der Haustür herum, ein ziemliches Spektakel jedes Mal. In die Kiste kam die Simson. Damit sie sie mitnehmen konnten, nach Hause, auf dem großen Schiff.

Ein Filmbild, das.

September 2017 – Vor der Wahl

Samstag, später Nachmittag, einen Tag vor der Wahl.

Eine Gruppe Nazis zieht durch die Wandelhalle am Bahnhof Alexanderplatz. Laut, selbstbewusst, Raum nehmend.

Die denken, ab morgen gehört ihnen die Welt. Ab morgen regieren endlich wieder sie.

Stimmt wahrscheinlich auch.