Juni 2020 – Das organisierte Pack

Auf dem Ubahn-Gleis lese ich auf meinem Handy herum. Eine Frau nimmt mich in den Blick. Sie sieht gepflegt aus, die Haare hochgesteckt, langes Kleid. Sie nähert sich mir, leicht von hinten, spricht hinter ihrer Sonnenbrille hervor. Ihr organisiertes Pack!, sagt sie. Ihr könnt froh sein, dass ich nicht geistesgestört bin. Denn wenn, ja wenn, dann, – sie lacht verächtlich, ja, was wäre dann … . Ich bringe ein paar Meter zwischen sie und mich, auch weil sie ein bisschen müffelt. Sie folgt mir. Jetzt bin ich mir sicher, dass ich gemeint bin. Irgendwann reicht es einem mal, sagt sie, mit dem organisierten Pack. Diesmal klingt das Wort Pack wie gespuckt. Ich mache noch mehr Meter, die Bahn kommt und ich sorge dafür, dass ich nicht in denselben Wagen einsteige wie sie.

Im Grunde hat sie ja Recht. Ich gehöre zum organisierten Pack. Aufstehen, zur Arbeit gehen, sich auf dem Handy über die Weltlage informieren, den Wochenendausflug organisieren, ein Geburtstagsgeschenk besorgen, in einer Wohnung wohnen, das Bett machen, einen Arzttermin wahrnehmen, ein Kinoticket kaufen, zum Sport gehen, Geld abheben. Ich kann es auch nicht wirklich leiden, das organisierte Pack zu dem ich gehöre, mir reicht‘s vielleicht auch bald mal mit dem. Irgendwie scheint es doch Schuld zu sein, das organisierte Pack, an der Weltlage, über die es sich auf seinem Handy so gerne informiert und sich seine organisierte Meinung bildet. Und weil es so organisiert ist, hält es ja tatsächlich alles am Laufen, das Pack. Es weiß, wie es bekommt, was es will, wie es sich vernetzen muss, was es sagen muss, was es anziehen, essen, trinken, was es wissen muss. Dass man sich immer einbildet, dass es das einzig Wahre, Richtige und Gesündeste ist, zum organisierten Pack zu gehören.

Juni 2020 – T44

Beim Therapeuten gewesen,

über den potentiellen neuen Job gesprochen, und die Frage, ob es wirklich richtig ist, ihn zu machen, angesichts seines Potentials zur Destabilisierung, wo doch gerade die Jobseite in letzter Zeit zum ersten Mal Stabilisierung bedeutet hat.

Juni 2020 – Corona 37 – Maskenball

Die Maske, die Maske, das Fashion-Accessoire der Stunde, in Nullkommanichts bilden sich neue habits heraus, love that, ich sehe:

Die Maske an den Gummizügen gehalten wie ein Handtäschchen,

übers Handgelenk gestreift wie ein Armreif,

über den Ellbogen geschürzt wie ein Ellbogenschoner,

über den Oberarm gezogen wie ein Tattoo,

auf den Hals runtergezogen wie ein Schal,

mit einem Band am Ohr baumelnd, unique!

Nur hoch auf die Stirn, das ist irgendwie nicht angesagt.

Juni 2020 – show to tell

Eine Freundin empfängt mich. Dass ich eingeladen wurde geschah aus Versehen. Weil ich mich gemeldet habe. Sie sagt mir – nachdem sie Drogen genommen hat – wie gern sie mich hat und dass es ihr furchtbar leid tut, dass sie sich nicht gemeldet hat. Ich winke ab, Corona usw., da waren ja einfach alle sehr zurück gezogen. (Sie hatte mir auf Anfrage mal geschrieben, dass sie gar niemanden mehr sieht, außer ihrer Familie). Sie: Naja, ich hab ja schon einzelne Leute noch gesehen.

Ich hasse es. Diese unter Droge hochgeschwemmten Liebesgeständnisse, diese hyperemotionalen Entschuldigungsschwünge, die am Ende nichts anderes produzieren und produzieren sollen als Beschwichtigungen der liebeserklärten und heimlich frustrierten Seite, neinnein, nicht schlimm, keine Schuld, dabei gehts unterm Strich doch eigentlich im Leben und in Beziehungen vor allem um eins: showing not telling.

Juni 2020 – Fundbüro

Post vom Fundbüro: Eine Geldbörse wurde gefunden und es gibt Grund zur Annahme, dass es ihre ist. Hell yeah ist das meine, vor über 6 Monaten geklaut worden ist mir meine „Geldbörse“, 70 Euro hab ich gelatzt, um Führerschein und Pass nachzumachen, ewig hats gedauert, bis alles fertig war, Fahrkarte!, 10er Karte fürs Schwimmmbad!, Krankenkassenkarte, Coffee-shop Rabattkärtchen, der ganze schöne Shit: weg! Geld war nicht viel drin, nur so 12 Euro. Niemals nicht wäre ich auf die Idee gekommen, beim Fundbüro nachzufragen. Voll 1950. Dass das nicht eingestellt wurde, zusammen mit dem Telegramm-Service Ich also: Anruf beim Fundbüro. Nie geht jemand dran. Ich also: Hingehe zum Fundbüro. Die Schlange ist so lang, dass der Typ am Eingang sagt: Da warten sie zwei Stunden. Ich also: Wieder nach Hause. Dann also: Hingehe nochmal zum Fundbüro an einem anderen Tag, die haben nur zweimal die Woche auf, jeweils drei Stunden. Ich diesmal schlau: eine halbe Stunde vor Öffnungszeit bin ich da und ich bin nicht die erste in der Schlange, schon drei Leute vor mir. Eine ältere Frau, dies am Knie hat, mischt die Schlange auf. Sie quatscht launig Vordermänner und Hinterfrau an, aus Brandenburg ist sie angereist, mit ihrem Knie. Am Hauptbahnhof wurde sie überfallen – jemand hat den Reißverschluss an ihrem Rucksack aufgezogen und den Geldbbeutel rausgeholt, was man halt so Überfall nennt.

Endlich geht die Tür auf. In der Schlange inzwischen 20 Leute. Wir werden eingeteilt: Die Geldbörsen und die Handys sind Schalter 1. Die Fahrräder sind hinterm Gebäude und Leute, die einfach fragen wollen, ob ihre geklauten/verlorenen Sachen abgegeben wurden sind Schalter 2. Die Frau bekommt keinen Stuhl, trotz des Knies, denn, so der Türsteher (Körperauftritt in Polizeimanier): Das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Wir sind im Flughafen Tempelhof. Dort ist die Polizeit, ich kapiere: Das Fundbüro gehört zur Polizei! Macht Sinn. Ich lerne: Wenn man was findet, und keiner holt‘s ab, dann kriegt mans nach einigen Jahren. So wie der Typ vor der älteren Frau. Als er rauskommt – alles geht hier im üblichen behördlichen Berliner Schnarchtempo, zieht er eine Rolex aus einem Etui. Vor zwei Jahren hat er sie gefunden, jetzt hat er sie abgeholt: Wert: 18.000 Euro! Er sieht aus, als hätte er es verdient und als wäre das der beste Tag seines Lebens.

Als ich dran komme, sehe ich, im Flur vor den Schaltern hätten sie Stühle gehabt für die Frau mit dem Knie. Man kanns auch übertreiben mit den Corona-Abständen. Ich warte vor Schalter 1. Keiner kommt. Irgendwann linst einer von hinten um die Ecke. Wieso ich nicht klingle? Ich so: äh, wie bitte?, kann einem das mal jemand sagen?! (Hinter mir in der Schlange sichtbar 20 Leute!) Ich dachte, der arme Typ ist da alleine, aber mein Eindruck ist: Die sind eigentlich ganz gut besetzt. Faule Behördenbande. Ich halte dem Typ hinter Glas meinen Zettel hin. Sie sind die Verliererin? fragt er mich. Was soll man da sagen: Ja, klar, ich bin die Verliererin, Verliererin ist mein zweiter Vorname.

Beim Lidl ist die Geldbörse gefunden worden, wo ich nie war. Das Geld ist sauber ausgeräumt, nicht ein Centchen mehr drin, alle Ausweise und Karten sind da. Fine with me, da hat sich jemand für 12 Euro schön bei Lidl was zu essen gekauft und die Geldbörse einfach fallen lassen. Und beis Lidls haben sie wahrscheinlich irgendwann endlich mal die Findekiste voller verlorener Handys und Geldbeutel und Schirme und Fahrräder zum Fundbüro gebracht. Ich freue mich, meine Bäderkarte wieder zu sehen, da sind nämlich noch ordentlich Schwimmbesuche drauf und vor allem über den Geldbeutel selbst. Den mochte ich nämlich gerne. I love Fundbüro! Bitte nicht einstellen.

Juni 2020 – Eis

Ich beobachte ein Kind. Einen Jungen, vielleicht drei, eher zart. Dunkle Locken, dunkle Augen kommt er aus einer Eisdiele, trägt einen kleinen Eisbecher in beiden Händen, die weißen Kugeln mit Zuckerperlen bestreut: Highscore! Er steht allein vor der Eisdiele, schaut das Eis an, wo sind seine folks, frage ich mich, er steht da und es ist klar, er muss warten, auf die anderen, die kommen gleich oder sind sie schon vor?, innerlich ist er gebunden an jemanden, aber da sind er und das Eis und irgendwie ist das Eis groß und er und das Eis sind die einzige Wahre und gerade wirklich wichtige Verbindung, und wenn die so lang brauchen, kann er ja jetzt eigentlich auch schon mal loslegen, denn es droht ja, dass das Eis schmilzt. Die kleine blaue Plastikschaufel also eingetaucht und das Eis in den Mund geschoben, er verzieht das Gesicht, seine Lippen, seine Stirn, alles ist am Arbeiten in seinem kleinen Körper, aufgrund der SENSATION: Kälte, Süße, Geschmack,

Glück.

Seltsam wie man Momente anderer Menschen lieben kann.

Juni 2020 – T43

Beim Therapeuten gewesen,

über den Rückfall gesprochen, den Wahnsinn, der damit einhergeht und den in solchen Situationen kaum mehr beherrschbaren Gedanken, es möge einfach alles vorbei sein.

Juni 2020 – kompass

Morgens an der U8-Haltestelle ein kompass-Verkäufer, den ich vom Sehen kenne. Er weint, er weint laut und verzweifelt. Ich halte es kaum aus, ich hab heute morgen auch schon geweint, muss das denn alles sein, ich kämpfe mit mir, warum?, am Ende, in der U-Bahn spreche ich ihn an. (Ich: Maske auf, er: keine). Gehts dir nicht gut heute, was ist denn los? Er sagt, die haben ihn verprügelt und ihm alles geklaut, was er hatte. Was denn, frage ich, deine Sachen?, er guckt verständnislos, alles, was er gesammelt hatte, sagt er, und bisschen Hartz IV hat er auch noch gehabt, alles weg jetzt. Ich krame in meiner Tasche nach meinem Geldbeutel, soll ich ihm ein Tempo anbieten, damit er seine Tränen trocknen, ein Päckchen Desinfektionstücher, damit er sich auch mal die Hände desinfizieren kann, ist das alles falsch, richtig, Und die bei kompass, unterstützen die dich nicht? – Ach, macht er und eine wegwerfende Handbewegung dazu, die haben selber kein Geld. Das war gar nicht unbedingt das, was ich meinte, was dann? Was meinst du, Elli? Ich finde meinen Geldbeutel, gebe ihm vier Euro in seinen Pappbecher, kauf dir erstmal einen Kaffee. Danke, schlurft er davon.

Herrgott.