Oktober 2023 – Wer was will, soll kommen

Mann und Frau. So sitzen sie. Nebeneinander auf Stühlen und Bänken, an Tischen. Der Mann nach vorne ausgerichtet, die Fläche des Stuhls voll ausgenutzt, die Knie geradeaus, den Rücken an Lehne oder Wand. So schaut er. Nach vorne. In die Welt. 

Die Frau, an den vorderen Rand des Stuhls gerutscht, den Hintern auf Kante, in der Körpermitte die leichte Drehung nach rechts. In Richtung Mann. So schaut sie, zu ihm. Das Signal: Zugewandtheit, Aufmerksamkeit. Sie sprechen. Sie: Eine Berührung am Oberschenkel, am Unterarm, je nachdem, ein Streicheln über Wange, Ohr, durchs Haar. Betrachtung des Mannes beim Sprechen. Des Mann-Mundes. Der nach vorne spricht.

Im Bett genauso. Der Mann an die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt. Keine Berührung, keine Rührung. Das Signal: Wer was will, soll kommen.

Wie satt ich das habe. Ich setze mich: Nach vorne ausgerichtet, den Hintern volle Füllung auf der Stuhlfläche, die Knie geradeaus, den Rücken zur Wand. Ich rühre mich nicht. Wer was will, soll kommen. 

Es kommt niemand.

September 2023 – Löwenmutter

Gesprächsfetzen im Vorbeilaufen, eine Mutter, rundlicher Typ, im praktischen Parka, neben sich ihre kleine Tochter, vielleicht sieben Jahre alt. „Wenn dich einer anfässt“, sagt die Mutter mit Verve in der Stimme zu ihrem Kind, „ich bin sofort in der Schule!“

Mich beeindruckt das. So eine Löwenmutter, die anderen Kindern die Meinung geigt, wenn sie einen ärgern oder verprügeln, die Männern die Eier abklemmt, wenn sie einem sexuelle Gewalt antun, und Lehrern was hustet, wenn sie einen unfair behandeln, alle, alle müssen sich in Acht nehmen, vor so einer Mutter, die mit geballter Faust in die Schule läuft, wenn was vorgefallen ist, auf und abgeht, vor dem Zimmer des Rektors und dann reinstürmt, die beschwert, ihr Kind verteidigt, es raushaut, sich die Bösen vorknöpft, sich wehrt und empört, herrlich muss das sein, so eine Mutter zu haben, die nichts auf dich kommen lässt und keine Angst hat, sie alle auszulöschen, die Punks und Feinde da draußen, denn du bist ihr Kind, und deshalb, sei versichert, sei sicher, Hören und Sehen wird ihnen vergehen, Mama macht tamtam.

Das Kind guckt komisch bei dieser Ansage. Möglicherweise kann einem so eine Mutter auch unangenehm sein.

Juni 2020 – Freiheit

Ich staune über den Begriff der Freiheit, der gerade überall auftaucht. Die erhobene Faust in der Hand wird er skandiert, bei der sogenannten Hygiene-Demo. J. erzählt von einer Frau, die weint, weil sie sich nicht hat vorstellen können, dass sie nochmal in ihrem Leben an einer solchen Demonstration würde teilnehmen müssen, wie damals in der DDR 1989. Die Impfgegner argumentieren mit Freiheit, die Staatsrechtler sprechen über Freiheit, Juli Zeh merkt an, dass sie den Eindruck hat, Sicherheit ist heute wichtiger als Freiheit. 

Ich frage C., was sie über Freiheit denkt. Das is doch das Wichtigste von allem, sagt sie. Ach ja? Ich weiß nicht, was Freiheit sein soll, vielleicht weil ich so ein verklemmter Typ bin. Ich vermute hinter dem hierzulande gerade grassierenden Freiheitsbegriff vor allem eins: Ein big Ego-Play.

An Freiheit ist doch problematisch, dass sie schnell auf Kosten anderer geht. Dass sie nicht: Rücksichtnahme, Gemeinschaft, Solidarität ist. Nicht mal Respekt. Ich nehme mir die Freiheit, heißt, man nimmt sie aus dem was vorhanden ist, man nimmt sich sozusagen was raus, oder: man nimmt sie jemand anderem weg. Und frei ist man doch nur, wenn man in der Lage ist, über sich selbst zu entscheiden, und dazu braucht man so vieles, das man nicht einfach qua seines Menschseins hat, nämlich Kapital aller Art, ein Haufen Glück und andere unberechenbare, also nicht selbst bestimmbare Faktoren. Im Sozialen ist man nie wirklich frei. Und verlässt man das Soziale und zieht in den Wald, ist da immer noch die Natur. Aber so kann nur jemand über Freiheit sprechen, der nicht in einem korrupten, diktatorischen Staat lebt. Einem Staat, der keine Lust hat, und nicht das Verantwortungsgefühl aufbringt, seine Bevölkerung mit freiheitseinschränkenden Maßnahmen zu schützen.

Ich nehme mir vor, mal bei den Philosophen nach Freiheit zu suchen, aber wer hat denn die Zeit für sowas.