Januar 2018 – wow

Kürzlich beim Edeka an der Kasse. Vor mir ist ein Junge dran, etwa 11. Er fragt den jungen Mann hinter der Kasse: Wie viel verdient man eigentlich so als Verkäufer? Der zögert einen Moment,  ob und wie er sich dazu jetzt äußern soll, dann sagt er:

So ungefähr 1500 im Monat kriegt man raus.

Wow. Denke ich. Wow. Mehr als ich.

Dazu Krankengeld, wenn die Grippe kommt, Urlaubsgeld, wenn der Urlaub kommt, und  KrankenRentenPflegeversicherung sind auch bezahlt. Gehen nicht davon ab. Sind einfach mit drin. Wow. Jeden Monat.

Wie arm ich bin.

Piep, piep, 24,83 bitte.

Piep piep.

8 Stunden täglich. 40 Stunden die Woche.

Piep, piep.

 

 

Januar 2018 – Fikkefuchs

Es geht um den Mann und seine Fixierung auf die Frau als fickbares Material. Ein junger Mann sucht seinen Vater auf, der nichts von ihm wusste. Da der Vater mal der Stecher von Kleindeinbach oder sowas war, will der Sohn sich bei ihm Rat holen, er hat nämlich noch nie einen Stich gemacht bei irgendeiner real existierenden Frau, kann aber Tag  und Nacht an nichts anderes denken und seinen Freund hassen, der dauernd Frauen flachlegt oder ihm das zumindest dauernd per Videobotschaft reinbehauptet.

Der Vater, ein womöglich mal ganz charmanter, inzwischen aber vor allem abgehalfterter Mitt-50er, hat auch schon lange keine (frische, junge, geile, denn nur um die kann es gehen) Fotzenmöse aus der Nähe gesehen und verbirgt seine Inkompetenz beim Thema gegenüber dem Sohn hinter pseudo-intellektuellen Weisheiten über Kunst und Kultur der Verführung. Vor allem aber: hinter Abwertung., denn das fickbare Material will ja auch einfach nie, was es soll, egal wie sehr man sich ins Zeug legt.

Was bei der Heldenreise der beiden herauskommt, ist die tour de force zweier obsessierender Narzisten, die ein großes Leiden zeigt: das Leiden der Männer an ihrer Sexualität. Bzw. an ihrer Triebhaftigkeit, die sie rund um die Uhr beschäftigt, unter deren Knute sie stehen und sie zu erbärmlichen, ausbeutbaren Würstchen macht (die Coaching Lady, die die beiden aufsuchen, zieht ihnen das Geld aus der Tasche, indem sie ihnen eine Frau zum Üben vor die Nase setzt, auf die die männlichen Kursteilnehmer reagieren wie ein Pavlovscher Hund aufs Futtersignal), die sie wie ferngesteuert und nur mit Hilfe aller möglicher Verarbeitungs-, Verdrängungs- und Abwehrmechanismen wie Größenwahn, Überhöhung, Verachtung, Wettbewerb und Aggression durchs Leben laufen lassen. Zu einer menschlichen Beziehung sind sie nicht fähig, ihr Schwanz verstellt den Blick. Auf die Frau als Person. Aber auch auf sie selbst als Person.

Irgendwo im Zentrum des Films gibt es eine großartige improvisierte Szene im Auto, in der der Sohn schließlich entnervt doch noch mit einer Prostituierten schläft. Hier, bei diesen beiden sich abmühenden Fleischbergen, findet sich alles, was man braucht, um das Leid zu verstehen: Die Mühsal, die Demütigung, die Würdelosigkeit, die Verzweiflung, die der Mann durchmacht, die Sisyphosarbeit, die er leisten muss, immer wieder aufs Neue, weil er gar nicht anders kann. Noch nicht mal hier, in der Situation der bezahlten Sexualität lässt sich zu einem Einklang finden, zu einer Befriedigung, sogar hier driften Bedürfnis und Realität so weit auseinander, dass die Impotenz schon wieder um die Ecke lauert.

Ist es so? fragt man sich am Ende. Ist es wirklich so? Sind Männer so? Und wenn das stimmt, sollten wir es nicht einfach alle ein für alle Mal lassen? Ich jedenfalls fühle mich leer und traurig und naiv und fremd in dieser Welt, in der ich womöglich nur leben kann, weil ich die ganze Zeit die Augen vor den Realitäten verschließe.

Aber es ist ja nur ein Film, nicht wahr?

– Drei Minuten bevor der Film losgeht. Alle sitzen schon (Hackesche Höfe, kleinstes Kino), unterhalten sich dezent murmelnd über ihrem Popcorn, sehen aus, als hätten sie eine interessante Rezension in der Zeit oder SZ über den Film gelesen – da  kommt eine Horde von knapp 20 Jungmännern rein, schleppt Bier herein, pöbelt, prollt, und setzt sich lauthals in die ersten beiden Reihen vor die Leinwand. Für ein paar Minuten frage ich mich, ob die gecastet sind, eine witzige Werbemaßnahme für den Film, aber nein, die sind leider echt, so echt, dass man es kaum fassen kann. Jedem im Kino ist in diesem Moment klar, dass die nächsten anderthalb Stunden die Hölle werden. Werden sie auch. Rassistische, sexistische, und keine Ahnung wie das Fachwort heißt, behindertendiskriminerende  (der Sohn im Film nuschelt, weil er eine Hasenscharte hat) Dummsprüche am Fließband, die Dynamik der Gruppe ist so klischeehaft, ihre Insiderwitzchen, ihr abgekartetes hochgeschaukeltes Ping-Pong so absehbar, dass man die meiste Zeit darüber staunt, dass es so etwas wirklich wirklich wirklich gibt. Dachten sie, sie gehen in einen Porno? Verstehen sie auch nur ansatzweise, worum es geht? Dass es um Typen wie sie geht? Um ein Verhalten wie ihres? Sehen sie nicht den doppelten Boden? Die Erbärmlichkeit, um die es geht. Wirklich, keiner von ihnen? Wow.

Das Publikum wehrt sich nach Kräften, aber es nützt nichts. Die Gruppe hat alle im Griff. Schlimmer noch, sie hat die Macht.

Mit Abstand eine der bizarrsten Kinoerfahrungen meines Lebens.

 

Januar 2017 – Kinder und Erziehung

L. und ich reden über Kindererziehung. Sie hat einen kleinen Sohn, also beschäftigt sie das. Und mich beschäftigt sowieso alles.

Sie berichtet, dass man Kinder heute nicht mehr erzieht. Dahin geht der Trend. Man gibt Kindern nichts vor, sie finden ihren Weg alleine. Kürzlich zum Beispiel saß sie mit ihrem Sohn am Tisch und hat mit ihm gemalt. Das war schön, sie beide so parallel. Sie hat irgendwelche Sachen gemalt, er hat so vor sich hin gekrakelt. Sie würde ihm da nie reinpfuschen, sie lässt ihn machen.

Dann kam L.s Mutter zu Besuch und hat sich dazu gesetzt. Guck mal, hat sie zu ihrem Enkelkind gesagt, so hält man den Stift. Das Kind hat den Stift so gehalten, wie die Oma es ihm beigebracht hat, und war danach total begeistert, dass es heute gelernt hat, wie man einen Stift hält.

L. war verunsichert.

Ich erzähle L., dass mir solche Geschichten körperliche Schmerzen bereiten. Wenn ich sowas höre, könnte ich mich krümmen, vor Wut und Hilflosigkeit. Ich will sofort alle Kinder retten. Und zwar vor ihren bescheuerten, ignoranten, indifferenten Eltern, die ihren Kindern das Wichtigste, was man braucht, nämlich WELTZUGÄNGE, nicht mit auf den Weg geben, weil sie es für brutal und die zarte Kinderseele schädigend halten, ihnen was „vorzugeben“.

Eine andere Freundin erzählt mir von ihrer Nichte, sieben Jahre alt, ein Schulkind also, die den Stift immer in der Faust hält, Stiftspitze geradeaus nach unten. Weder Papa noch Mama noch Lehrer noch sonst jemand hat es je gewagt, dem Mädchen den Stift aus der Hand zu nehmen und zu sagen: Nee, so macht man das nicht. Das macht man so, versuch’s mal. Nein, eine solche Form von Aggression hat dieser hochsensiblen, zart suchenden Kinderseele noch niemand antun wollen, keiner wollte das Kind mit dieser Art von verbaler und performativer Gewalt auf ewig all seiner Kreativität berauben und es damit an seiner ganz eigenständigen Eroberung der Welt und des Selbst hindern. Das Kind malt wie ein Affe, Leute! Und das ist nichts Gutes! Auch wenn Affen schützenswerte Tiere sind, deren Hirne wir nicht auslöffeln sollten! Und wenn es eines Tages kapiert, dass es malt, wie ein Affe, dann seid ihr am Ende doch die Bösen und das Kind beklagt sich beim Therapeuten über euch! Wä, wä, meine Eltern haben mir nicht mal beigebracht, wie man den Stift hält. Wollt ihr das? Hm? Kinder haben heißt, ab und zu richtig scheiße sein und sich öfter mal so richtig scheiße finden zu lassen. Wer dafür nicht das Rückgrat hat, kann gleich zuhause bleiben. Und: Jedes einigermaßen wache, intelligente Kind will doch nichts anderes als raus aus der Ohnmacht, und verstehen, wie die Welt funktioniert und hofft dringend auf jemanden, der ihm zeigt, wie man alles machen muss, was man hier so machen muss. Und dabei will es ganz sicher nicht aussehen wie ein Vollhonk! Und von wegen Hierarchie: Wer ist in diesem Szenario der Mächtige, wer der Untergebene? Wer macht hier was er will?

Wiederum eine andere Freundin. Ich bin bei ihr im Büro auf ein Glas Champagner eingeladen, wir haben was zu feiern, es hat Wochen gedauert, den Termin zu finden, ihr Kalender ist mit Arbeit und zwei Kindern logischerweise einfach super voll. Nach 20 Minuten steht sie auf und sagt, sie muss gehen. Ihre Tochter braucht zurzeit 45 Minuten bis sie sie aus der Kita rausgelöst hat. Excuse me? Ich steh da, mit meinem angenippten Champagner und denke, ey, also das würde ich mir nicht gefallen lassen. Diese miesen kleinen  Biester. Sie malen mit der Faust und versklaven ihre Eltern. Und deren Freunde! Also wer ist hier brutal?

L. erzählt weiter. Eine Bekannte von ihr, ebenfalls Mutter eines kleinen Jungen, kam zu Besuch. Sie war unruhig, weil das Kind im Rahmen einer Bewerbung für einen Kindergarten, in den sie es schicken möchte, einen Aufnahmetest machen muss. Dafür muss er unter anderem in der Lage sein, einen Kopffüßler malen. Ob L.s Kind sowas schon mache, hat die Bekannte im Flüsterton gefragt. L. hat, nun ebenfalls beunruhigt, den Kopf geschüttelt. Die Bekannte erzählt, verschämt lachend, denn sie weiß, dass sowas eigentlich GAR NICHT geht, dass sie ihn in letzter Zeit immer mal beim Malen fragt, ob er denn auch einen Mensch malen könne. Das tut er dann auch bereitwillig. Sehr schön!, jubelt sie ihm dann zu. Und hat das Männchen denn auch Arme? Und Beine? Und Hände? Und Ohren? Irgendwann reicht‘s ihm dann und er hört auf zu malen.

Seine Männchen, gesteht sie, haben eckige Köpfe. Sie denkt, das liegt daran, dass er immer Lego-Männchen-Filme guckt. Was für ein kluges Kind, denke ich. Wahrscheinlich hat sie nicht Mensch gesagt, sondern Männchen, kannst du auch ein Männchen malen? Weil sie denkt, ein Kopffüßler ist ein Männchen, dabei ist es doch ein Mensch, gemalt von einem Dreijährigen. Missverständnisse zwischen Kindern und Erwachsenen. Lego-Menschchen. Lego-Männschen. Quadratschädel in Gelb.

Ja, so ist das. Ganz frei und ohne Druck sollen sie sein, die Kinder, ganz individuell sollen sie sich entfalten. Gleichzeitig sollen sie Aufnahmeprüfungen in der Kita bestehen, in der man mit drei schon Chinesisch lernt. Im Prinzip ist das Leben der Kinder immer ein Abbild des Lebens der Erwachsenen.

Deshalb sind die Kinder in Neukölln auch so anders.

Dezember 2017 – erst oder schon

Sechs Wochen ist es her.

C. sagt, was ihn verrückt macht, ist, dass es nicht weitergeht. Dass die Entwicklung gestoppt ist. Dass du für immer dieser irgendwie noch nicht ganz erwachsene junge Mann sein wirst. In Studentenkleidung. Eingefroren, die Bilder. Zum Stillstand gebracht.

Was mich verrückt macht, ist, dass die Welt nie stehen bleibt. Die arrogante, brutale, die nichts kümmert. Die einfach weiter rauscht, die nichts interessiert, der alles egal ist, Hauptsache der Laden läuft, ein, aus, Tag, Nacht, für die es keinen Unterschied macht. Das große universelle Achselzucken, das ich so gute kenne, aus meinen Träumen.

Manchmal habe ich Angst, du könntest mich angesteckt haben. Dann wieder denke ich, so klar wie nie: Das will ich nicht.

Dezember 2017 – Stare

Vor ein paar Monaten warte ich am Alex auf die Tram. Vor mir auf dem Asphalt läuft ein kleiner Vogel auf und ab. Er ist sehr hübsch. Schlank, glänzendes, braunes Gefieder, übersät mit vielen kleinen goldfarbenen Punkten. Er erregt nicht nur meine Aufmerksamkeit, auch andere gucken: Was ist das denn für einer? Spatzen, Tauben, Krähen, klar, die üblichen Alexanderplatz-Verdächtigen, vielleicht mal ne Möwe drüben vom Kanal her, auf der Suche nach einem Fischburger, aber der hier, nee. Der ist neu. Er fiepst und trillert vor sich hin, immer so chaka-chaka mit dem Kopf, läuft vor den Wartenden auf und ab, ein bisschen aufgeregt, wie die meisten kleinen Vögel, und guckt irgendwie  sehr auffordernd.

Ein älterer Herr sagt: Das ist ein Star. (Ältere Menschen wissen sowas.) Na, endlich.

Ein Star also.

Zwei Wochen später. Stare jetzt nicht nur an der Tram-Haltestelle, sondern auch dahinter locker über den Platz vor dem Fernsehturm verteilt, der erste Tourist knipst. Ihr heller Fiepsi-Sound mischt sich gleichberechtigt unter den üblichen Vogelsound, nur die Krähen sind noch immer pointierter und lauter.

Zwei Monate später. Stare latschen an der Tram-Haltestelle auf und ab wie auf einem Cat-Walk. Auf einem echten hätten sie keine Chance, sie sind alle doppelt so dick wie beim letzten Mal. Stare allein, Stare in Gruppen. Stare laufen, picken, rennen. Leute reden, spekulieren. Mir fällt ein. In der Serie Ozark erzählt der kleine Junge zum Entsetzen seiner liberalen Eltern, dass er schießen lernen möchte. Als sie ihn fragen, warum, erklärt er, er wolle Stare töten. Er hat sich mit diesen Tieren beschäftigt, Bücher über sie gelesen, Dokus angesehen. Stare sind für die Landwirtschaft ein Graus, erzählt er. Sie vermehren sich rasend schnell, und fallen in riesigen Schwärmen über Felder und Weiden her und Mensch und Tier können sich kaum gegen sie wehren.

Vier Monate seit der ersten Star-Sichtung. Diesmal S-Bahnhaltestelle Alexanderplatz. Ich fahre die Rolltreppe hoch aufs Gleis und denke, was ist das denn? Ein Lärm an der hohen Decke der Halle, ein schwärender Sound wie in einer Voliere. Die ganze Kuppel des Bahnhofs ist voller Stare!

Google. Ich gebe Star ein. Füge Vogel hinzu. Erster Treffer: NABU. „Der Star ist Vogel des Jahres 2018 und vom Aussterben bedroht.“

Leute, die übernehmen hier gerade die Weltherrschaft!

Dezember 2017 – Au Supermarché

Im französischen Supermarkt im Untergeschoss bei Galerie Lafayette.

Ich stehe versonnen vor den Kühlschränken und schaue mir leckere Sachen an. Wie immer hier muss ich an Houellebecq denken und sein letztes Buch (Unterwerfung), in dem seine Hauptfigur Blinis mit Tarama isst. Das gibt’s hier nämlich.

Ein Mitarbeiter mit Schürze spricht mich von der Seite an: Entschuldigung, sprechen Sie französisch? Neben ihm steht ein Junge, etwa acht. Offenbar hat ihn auf Französisch nach etwas gefragt. Nein, nicht wirklich, sage ich. Der Junge steht reaktionslos, wartet ab, was die zwei Erwachsenen jetzt unternehmen. Ich krame in meinem Hirn, irgendwo muss noch ein bisschen Französisch drin sein. Quest-ce que tu cherche? frage ich ihn. Eine grüne Flasche, sagt er. Akzentfrei. Na, das klappt doch prima hier mit uns auf Deutsch, sage ich, und lache. Der Mitarbeiter und ich gucken uns leise irritiert an, warum hat er nicht gleich Deutsch gesprochen? Das Gesicht des Jungen bleibt weiter seltsam reaktionslos. Wo sind denn bloß die Eltern? In ihrer verglasten Penthouse-Wohnung, schätze ich, der Junge sieht nach Geld aus, angezogen wie ein kleiner Erwachsener, man hat ihn mal rasch ins Galerie Lafayette geschickt als wärs der Späti um die Ecke, aber welche Eltern in dieser Preisklasse, im Allgemeinen eher als Helikopter-Eltern bekannt, schicken ihren Achtjährigen alleine zum Einkaufen? Eine grüne Flasche, sage ich. Und was ist da drin, Limonade, oder Wasser? Ich und der Schürzenmitarbeiter gucken auf den Jungen hinunter, der überlegt. So richtig schnell im Kopf kommt er mir nicht vor.

Ich deute auf eine kleine Flasche Perrier in der unteren Etage des Kühlschranks links von uns. Guck mal, meinst du so eine Flasche?, frage ich. Mit Wasser, das piekt, sagt er, ohne meinem Zeigefinger gefolgt zu sein, und als habe er lange und konzentriert darüber gebrütet. Wasser, das piekt, sage ich, sehr gut, wir kommen der Sache näher. Ich deute erneut auf die kleinen Flaschen. Sieht die grüne Flasche ungefähr so aus? Diesmal schaut er hin. Ja, sagt er, und nickt. Aber in groß. Ich und die Schürze sind erleichtert. Die Schürze geht, mit einem klaren Suchauftrag. Ich und der Junge bleiben vor dem Kühlschrank stehen. Ich mag ihn noch nicht alleine lassen. Ich habe eine Waffe dabei, sagt er zu mir. Ah, ja? sage ich.  Er nickt. Ein Schießgewehr. Soll ich es dir zeigen? Nein, jetzt gerade nicht, sage ich. Es ist sehr groß, sagt er, und schaut mich an.

Du lieber Himmel.

Jungs, denke ich. Und ihr ewiges Missverständnis über Waffen und Frauen. Franzosen, denke ich. Und sehe es plötzlich: Der Junge sieht aus wie eine Miniaturausgabe von Houellebecq. Vor mir steht Young Michel!

Die Schürze ist noch immer nicht zurück. Du könntest einfach zwei davon nehmen, schlage ich vor, das ist ungefähr wie eine große. Jetzt kommt Bewegung in die Sache. Er nickt, tritt vor, nimmt zwei kleine Flaschen aus dem Kühlschrank, die Schürze kehrt bedauernd zurück: Nein, große gibt es nicht, der Junge geht Richtung Kasse, und ist verschwunden.

Ich sehe ihm nach und bin ein bisschen traurig, weil er mich schon vergessen hat. Ich wünsche ihm alles erdenklich Gute. Möge das Leben gnädig mit dir sein, mein Junge.

Ich kaufe noch einen winzig kleinen, sehr leckeren, französischen Importkuchen, dann lasse ich Wärme und Licht des Kaufhauses hinter mir und kehre zurück in die kalte Luft der dunkel gewordenen Stadt.

Juni 2016 – Junge in der Ubahn