März 2015 – Söne Ballon

Gestern im Wartezimmer ein Kind mit einem roten Ballon.

„Ballon“, „Ballon“,  feiert es, in tausendfacher Wiederholung, die Herrlichkeit des Ballons, Gemache, Gefummel, Gequietsche, dann kommts, wies kommen muss: Peng, der Ballon ist kaputt. Das Kind, ein Mädchen, vielleicht drei: Unendliches Bedauern. „Hab is puttemacht, de Ballon, kaputtemacht.“ Das Kind jammert und klagt, weint nicht, trauert aber herzzerreißend um den „Söne Ballon“, „söne, söne, Ballon“, während es die elenden Einzelteile vom Boden zupft und eins nach dem anderen in den mannshohen Mülleimer wirft, ein mühevolles und längeres Unterfangen. Als die letzte Klappe fällt, sagt es: „War is nist“ – und läuft davon.

Wow.

Betroffenheit, Schuld, Trauer, noch mehr Schuld, und dann: Abspaltung.

März 2015 – Die Maus

In meinem Bad sitzt eine Maus.

Zuerst ist sie ein Schatten auf meinem Wohnzimmerboden, so schnell und huschig, fumm, fumm, wie ein zweimal auftreffendes Hovercraft auf weißem Fußbodenmeer, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich überhaupt was gesehen habe. Also geh ich dem Schatten nach, ins Bad.

Sie sitzt hinter der Toilette.

Okay… Und jetzt?

Ich bin gleich mit G. auf einen Drink verabredet. Ich überlege, sie im Bad einzusperren, da weiß ich wenigstens wo sie ist. Auch wenn das wahrscheinlich lächerlich ist und sie unter der Tür durchkommt, die wie alles in meiner Wohnung schief und scheckig ist. Ich stopfe eine Decke vor die Badtür, so fest es geht. (Quatsch)

Mit G. gehe ich noch schnell zu Rossmann, der macht nämlich gleich zu. Silberfischchenköder, Mottenpapier, Insektenspray. – wie süß. Bei Obi, meint die Verkäuferin, da kriegen sie ne Mausefalle. Obi macht aber erst morgen wieder auf. Ich gehe was trinken mit G. und dann heim zu meiner Maus.

ich steh vor der geschlossenen Badezimmertür rum.Ich muss aufs Klo und Zähne putzen.Ich kann mir nicht von einer Maus mein Leben diktieren lassen.

Ich öffne die Tür, schließe sie schnell hinter mir. Ich sehe mich um, keine Maus. Setze mich aufs Klo, keine Maus, putze mir die Zähne, keine Maus, sehe nach links – direkt ins Gesicht der Maus. Da sitzt sie, auf Augenhöhe, unter meinem Boiler, auf dem Klettergerüst aus Rohren, etwa drei Zentimeter von dort entfernt, wo gerade noch mein Kopf war, als ich auf der Toilette saß. Sie scheint nicht im mindesten beunruhigt.

Ich verlasse das Bad und hole mein Handy.

Ich mache ungefähr zehn Fotos von der Maus. Kriegt die mich eigentlich mit oder lebt die in einer Parallelwelt? Sie ist hübsch. Grau. Putzt sich. Im Internet steht, Mäuse sind Krankheitsüberträger. Sie muss weg. Vielleicht ist sie ja abgehauen?  Vielleicht gehört sie einer Familie und lebt normalerweise im Käfig. Vielleicht bring ich sie morgen mit meiner Obi-Falle um und dann hängt ein Zettel im Hausflur Der kleine Lenni vermisst seine Maus!.Mir egal. ich mach die Tür zu so fest es geht und auch alle anderen zwischen mir und ihr und gehe ins Bett.

Nachts wache ich auf, weil es hinter mir in der Wand kruschelt. Der Rest der Familie ist auf dem Dachboden? Können sie durch das Loch durch aus dem das Heizungsrohr direkt hinterm Kopfkissen entlang läuft? Angeblich können sie durch kugelschreibergroße Löcher schlüpfen, bewegliche Wirbelsäulen, Plattmachgenies.

Am nächsten Morgen kaufe ich bei Obi eine Mausefalle. Das ist interessant. Lebendfallen kosten mehr als Killerfallen. ich entscheide mich nicht nur, aber auch aus Kostengründen für die klassische Genickbruchfalle. Ich finde, ich muss lernen, meine Feinde zu töten. Zumal als Frau. Ich will auch nicht ne lebendige Maus nach unten in den Hof tragen, ich hätte Angst, dass sie mich durch die Gitterstäbe beißt. Außerdem hat die Lebendfalle keinen Ausgang, soll ich sie da mit den Händen rausholen oder wie? Und wenn nicht, dann verhungert sie da elend drin oder wird von einem Fressfeind durch die Gitterstäbe zu Tode gefoltert? Gut, die ganz teure Lebendfalle hat eine Klappe zum Rauslassen – aber sie ist eben auch die ganz teure und come on am Ende ist sie wieder bei mir in der Wohnung?

Der Obi-Mann Gartenbauabteilung zeigt mir gut gelaunt, wie man die Killerfalle spannt. Er hat dicke Gartenhandwerkerfinger und als er die Falle auslöst, macht es ihm gar nichts, dass sein Finger drin ist, warnt mich aber in den höchsten Tönen bloß aufzpassen, dass mir das nicht passiert. Er empfiehlt mir, Schokolade reinzutun oder Speck. Und den Speck, meint er, soll ich anräuchern, da stehen die voll drauf.

Ich präpariere die Falle, kokele mit dem Feuerzeug den Speck an. Es riecht wirklich lecker. (soviel zu wenn ich ne Maus wär)

G., der die Sache nach gestern Abend weiter per Whatsapp mit verfolgt hat, kommentiert mein Fallenfoto mit Oh wie gemein und Ist das Sushi?.

Die Maus verpatzt mir meinen Dreiakter (1: Maus im Bad 2: Mausfalle. 3: gekillte Matschmaus mit Blut aus Röchelmund) und lässt sich nicht fangen.

In den nächsten Tagen schlafe ich unruhig, lausche auf Geräusche, sehe den Schatten am Boden, wenn ich durch mein Wohnzimmer laufe, gehe nicht gerne ins Bad, räume alle Lebensmittel penibel in den Schrank und esse lieber auswärts.

Ein paar Tage später kommt noch der Schädlingsbekämpfer, ein netter, junger Mann mit Rockabilly-Tolle (ach, Berlin, und: wie kommt ein junger Man dazu, so eine Ausbildung zu machen), der Giftköder in umweltfreundlichen Pappfallen auslegt. Das Futter darin ist auf die Jahreszeit abgestimmt, sagt er. Körner und Fett. Nach einer Woche holt er die leeren Fallen enttäuscht wieder ab.

Ich hab die Maus nie wieder gesehen. Nur ein paar Wochen später ihre Schwester, im Hausflur. Vielleicht such ich mir doch mal langsam  ne neue Wohnung.

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