Juni 2018 – alt

Kürzlich bei Mango. Ich stromer so rum, da kommt eine junge Frau rein, vielleicht 19, zusammen mit ihrem Freund. Ihr Blick streift kurz über Kleiderständer und Kundinnen, trifft auf mich – Nee, komm, gleich wieder raus, sagt sie zu ihm, hier gibt’s eher so Sachen für meine Mutter.

Ich bin verblüfft. Sie hat recht, ich könnte ihre Mutter sein. Ich bin schon lange alt genug, um eine 19jährige Tochter zu haben. Trotzdem versetzen mich solche Situationen immer in Erstaunen. Denn ich vergesse, dass ich alt bin. Ich vergesse, dass mir etwas ins Gesicht geschrieben steht. Dass Menschen etwas sehen, was ich nicht sehe. Innen ist anders als außen. Außen macht etwas sichtbar, was sich Innen oft anders anfühlt. Da ist ein Missverhältnis.

Ich fühle mich auf Du und Du mit z.B. Baristas  oder Studierenden in der Bibliothek, oder flüggen Kinder von jemandem, und dann stelle ich fest, dass die sich ganz weit weg fühlen von mir. Dass die mich siezen, weil sie allen Grund dazu haben. Wie die junge Frau bei Mango eben. Ihr Leben hat nichts mit mir zu tun und will es auch gar nicht. Ich bin darin höchstens so etwas wie eine Institution: Eine Erwachsene. Ich lebe in einer anderen Welt als sie, und diese Welt ist dumm, bescheuert und interessiert sie nicht.

Ich schäme mich dann. Mir ist das peinlich. Als hätte ich einen blinden Fleck. Als könne jeder es sehen, nur ich nicht.

Kürzlich in einem kleinen Club. Alle Anwesenden sind in ihren Zwanzigern. Bis auf mich, ein paar Freunde und die DJs. Als T. mich küsst, ist mir das ein bisschen peinlich.

Als ich die Freunde frage, ob es ihnen nichts ausmacht, dass alle hier so jung sind, sagen sie, wieso, die können froh sein, dass so ein paar alte Leute da sind. Da fühlen sie sich sicher und es gibt ihnen das Gefühl in einem coolen Club zu sein. Ich hingegen denke, die denken, wenn ich meine Mutter sehen will und hässliche alte Leute, die eklig rumknutschen, kann ich auch zu Hause bleiben.

Juni 2018 – Süddeutschland

Die Leute haben Kinder, Bäuche, Wohnungen, Autos, Festanstellungen, Vereine, Familien, Terrassen, Hobbys, Gärten, Versicherungen, Urlaube.

Ich habe nichts davon. Ich fange an, mich schlecht zu fühlen. Dabei bin ich weder gerne gekommen noch fahre ich ungern wieder weg. Trotzdem. Hängen sie mir nach, diese Leben, selbst gebaut und gut eingerichtet wie die Häuser.

Mein Leben ist kein Haus. Mein Leben ist ne Hängebrücke, über die ich mich entschieden habe zu gehen.

Juni 2018 – M.

Die Slipeinlage kommt in den Schuh.

Die Fernbedienung gehört in das Mittelfach der Handtasche.

Das Geschirrspüler-Tab muss aus dem Plastik gewickelt werden. Dann kann man es dem Kind reichen das freut sich.

Das goldene Spiegelchen wird aufgeklappt und hingestellt. So dass der andere es sehen kann.

Das Taschentuch wird ins Quadrat gebracht. Dann wird es rüber geschoben, zweimal darauf getippt, wie auf ein Geschenk, das kannst du nehmen, das kannst du ruhig haben, für dich.

Die Seiten im Album müssen geblättert werden. Auf die Personen auf den Fotos muss gezeigt werden. Dazu muss gesprochen werden. Auch am Telefon muss gesprochen werden. Oder wenn man jemanden trifft, auf der Straße. Oder Besuch kommt. Freundlich, hell, voller Begeisterung muss etwas erzählt werden. Es muss geschimpft werden, oder sogar getreten. Weil es nicht klappt. Weil er es nicht kann oder weiß oder richtig macht. Oder es wieder so macht. Weil er unmöglich ist.

Was muss ich jetzt?

Es muss Geld mitgenommen werden. Es muss sich beeilt werden. Es muss in die Bahn gestiegen werden. Achso. Ja. Nein. Nur du steigst in die Bahn.

Mai 2018 – drüber rutschen

Ich bin mit ein paar Leuten in einem Park. Es ist warm, sonnig, es gibt Musik.

Eine Freundin, die Online Dating macht, sieht von weitem einen Typen, mit dem sie demnächst ein Treffen hat. Praktisch, lacht sie, kann sie vorher schon mal checken, wie der so ist. Er hat sein T-Shirt ausgezogen, rennt oben ohne rum. Ist eh so einer, sagt sie, so ein cooler DJ, postet immer gerne Fotos von sich, so beide Hände an den Plattentellern. Ohne Shirt jedenfalls noch praktischer, sagt sie. Sieht man gleich, was drunter ist. Was man so geboten kriegen würde. Und? sage ich, genügt er den Ansprüchen? Wenn er höflich ist, sagt sie, und sich was anzieht, wenn er sich benehmen kann, dann spricht nichts dagegen. Dann gibt es keinen Grund, da nicht mal drüber zu rutschen, sagt sie, und lacht.

Sie meint es witzig, sie meint es ein bisschen wie ein Zitat, etwas was Männer sagen würden.

Ich finde es trotzdem unangenehm.

Ich finde es traurig. Und wenn ich der einzige Mensch auf der Welt bin, den es traurig macht, dass man sich lieblos und objektivierend begegnet, dann ist es eben so. Ich weigere mich, das normal oder okay zu finden.

(Und dass das jetzt auch für Frauen gilt, macht die Sache nicht besser. Ist ja schön, dass die jetzt auch alle gleich scheiße sein und daherreden dürfen, dass es auch für Frauen um geile Ärsche gehen darf, aber vielleicht hat ja auch einfach nur das männliche Prinzip gesiegt. Wir haben jetzt Zugang zu unseren Bedürfnisse und Vorstellungen und bedienen uns selbstbewusst an der Auswahl im Regal, wir entscheiden mit Shopping-Blick, mit Was bringts mir-Blick, mit wem wir uns abgeben wollen, formulieren, ganz verbrauchergeschützte Kundin, unsere Kaufentscheidung und bekommen, was wir wollen – sofern wir selbst etwas Adäquates anzubieten haben.)

Aber statt das zu sagen, lache ich mit. Warum bloß? Ich bin älter als sie, ich kenne das dumme, hilflose Gerede, das Versteckspiel des Zynismus, den zur Schau getragenen Durchblick. Ich sehe, dass sie eigentlich auch traurig ist. Dass sie es vergräbt unter witzigen Sprüchen und Machogehabe. Dass sie sich eigentlich was anderes wünscht.  Ich nehme mir das tagelang übel, dass ich nichts gesagt habe. Dass ich mitgemacht, sie noch befeuert habe, statt zu sagen,

du weißt schon, dass das auch ein Mensch ist.

Aber was soll sie auch machen. Sie hat keine Beziehung. Sie wünscht sich eine. Also tindert sie durch die Welt, nimmt Kontakt auf mit dem Markt und den Möglichkeiten, einer rechts, einer links, einen fallen lassen. Nimmt sich selbst wahr als etwas, was auf diesem Markt bestehen muss. Und am Ende kommt vielleicht wenigstens Sex rum. Und ist der nicht eh viel besser, wenn er lieblos und objektivierend ist? Berührt der einen nicht manchmal mehr als alles andere, zumindest für den Moment? Ist eine Beziehung mit ihren Mustern wirklich toller als einfach nur geil und begehrenswert gefunden zu werden? Kann man überhaupt noch eine Beziehung führen, wenn man sie eingekauft, ausprobiert und abschließend beurteilt hat? Oder funktioniert es womöglich eh nur so? Ist das Prinzip Beziehungs-Deal nicht ehrlicher als dieses Gerede von der Liebe? Ist es nicht immer so, dass es darum geht, ob der der andere etwas ist, kann, macht, liefert, damit man mit ihm zusammen bleibt, damit es sich lohnt? Sind begehrt werden, Sex haben und Beziehung nicht sowieso zwei Sachen, die man endlich mal als getrennte akzeptieren sollte? Ist meine Haltung vielleicht einfach nur moralinsauer und diese Idee von Liebe, die rettet, die trifft, die sich uns entzieht, einfach nur idiotisch esoterisch?

Make love great again, suckers.