Juli 2024 – Der Vorleser

Sommer. Nicht heiß, aber warm. Ich bin unterwegs, durch die Straßen dieser Stadt. Es beginnt zu regnen. Nicht so stark, dass ich nicht bereit wäre, nicht sogar Lust hätte, mich dem auszusetzen, aber doch genug, dass ich es nach Hause schaffen will, bevor es schlimmer wird. Ich will nicht, dass meine Turnschuhe nass werden, sie halten nicht lange durch, Textil.

So etwas beschäftigt mich. 

Schnellen Schrittes also gehe ich die Straße entlang, es ist nicht weit bis nach Hause. Ich komme an einem Eckhaus vorbei, einem Altbau, vor dem traditionell ein Regal steht. Man kann dort Sachen ablegen, die man nicht mehr braucht, zum Mitnehmen für andere. Auch ich habe dort schon aussortierten Kram hingebracht, Kleidung, Bücher, Geschirr.

Ich höre jemanden sprechen. Die Stimme eines Mannes dringt an mein Ohr, melodisch, fein. Doch auf der Straße ist niemand zu sehen. Die Sprache klingt gewählt, wie getextet, jedoch lebendig. Nur zwei Schritte weiter die Wand entlang und ich entdecke ihn: Im Hauseingang sitzt er, auf den schmalen Stufen zur Haustür. Er ist etwa dreißig. Hinter ihm liegt sein Hab und Gut in zwei Taschen, offenbar ist er obdachlos, hat hier Unterschlupf vor dem Regen gesucht. Die Mauern des Hauseingangs und die hohe Decke umrahmen ihn, machen ihn für den Augenblick, an dem ich an ihm vorbeigehe, zum Bild: Porträt, Hochkant. Auf seinen Knien liegt ein Buch, dort, auf den aufgeschlagenen Seiten, ruht sein Blick, liegt seine ganze Konzentration. 

Er liest vor. 

Das Buch: gebunden, ohne Einband, es wirkt alt. Er muss es aus dem Mitnehm-Regal genommen haben. Er liest gut. Der Text wirkt solide, literarisch. Er füllt den Raum damit, die Mauern geben seiner Stimme support, seinem Vortrag, den er hält,

in den Regen hinein, wie in ein geöffnetes Fenster.  

Als ich an ihm vorbei bin – nur anderthalb Schritte dauert der Moment – verklingt seine Stimme in der Sommerluft so rasch wie sie zu mir gekommen ist. 

Juli 2024 – Attentat

School officials said Mr. Crooks did not have any disciplinary problems in high school, and was sent to detention once, in eighth grade, for chewing gum, according to school records released on Friday. He rarely missed a day of school, and teachers noted that he participated in class and was interested in learning.

Juli 2024 – EOB

Ein sehr junger Mann neben mir im Café beklagt sich bei seiner Freundin: „Jour Fixe heißt das jetzt immer, kann man da nicht einfach Meeting sagen?“ Ich muss lachen. Er bekommt es mit, fühlt sich bestätigt. Fügt noch hinzu: „Genau wie EOB, End of Business Day.“ Er schüttelt den Kopf wie ein bekümmerter Großvater, das Kind.   

EOB, kannte ich noch nicht, notiere heimlich. Dann mach ich: Feierabend. 

Juli 2024 – Gedanke

Ich lese mal wieder Eribon. In seinem Buch „Eine Arbeiterin“ begegnet mir seine Beobachtung, dass es die Frauen sind, die das Wissen über die Familie haben, dass sie es sind, die die Familiengeschichten weitergeben, sie wieder und wieder erzählen, die detailliert über Verwandtschaftsverhältnisse sprechen könnten, darüber, wer mit wem welchen Grades verwandet ist, wer wen geheiratet und wie viele Kinder bekommen hat. 

Das kommt mir bekannt vor. Auch meine Mutter – keine Arbeiterin – hat es geliebt, diese Geschichten zu erzählen. Und sie zu hören, zumindest habe ich das immer mit der Frauenwelt zusammen gebracht, in der sie aufgewachsen ist und in der sie sich wohlgefühlt hat, in der sie in der Küche mit Mutter und Großmutter und den beiden Schwestern gelebt und getratscht hat, wo gekichert und geheimnisvolle Andeutungen gemacht und tragisch der Kopf geschüttelt und geseufzt wurde. So kenne ich es von ihr. 

Die Stammbaum-Erstellung hingegen ist etwas, dem sich, so mein Eindruck, die Männer widmen, gerne im späteren Lebensalter, Bücher darüber lesen, Akten und Standesamteinträge recherchieren, nachforschen, wer wann wohin gezogen ist und wer auf welchem Friedhof liegt. 

Ich frage mich, ob darin nicht der Versuch einer Aufwertung der eigenen Herkunft, der Familie liegt. Wird man nicht praktisch zum Adelsgeschlecht, zur Dynastie, wenn man einen Stammbaum vorweisen, sich genüsslich die Namen auf der Zunge zergehen lassen kann? Während die Familienerzählung der Mutter lebendige Geschichten aufruft, und versucht, den lauschenden, meist nur mäßig interessierten Kinder einzubleuen, welche Großcousine einen Arzt geheiratet hat und später von ihm mit drei Kindern sitzen gelassen wurde, interessiert sich die Stammbaumforschung des Mannes für die Mechanik der Familiengeschichte, für Orte, Namen und Berufe. 

Eribons Gedanke, dass die Alten und Pflegebedürftigen sich selbst nicht mehr als Gemeinschaft definieren können, um ihre Rechte zu vertreten. Wer kann ihr Fürsprecher sein, wenn sie nicht mehr selbst dazu in der Lage sind zu sprechen?

Die Thematisierung des Alters geschieht selten aus der Position des alten Menschen heraus, eher aus der Perspektive der Kinder, die das Altern der Eltern verarbeiten. Viele Bücher gibt es dazu. Das eigene Altern, ein Prozess, der doch meist lange vor dem Altern der Eltern beginnt, ist kein Thema. 

Für mich schon. Finde ich.

Juni 2024 – Mittesprech

Im Café am Nebentisch. Ein Typ telefoniert. Sehn wir uns noch in Ibiza? Ja, ich freu mich drauf, das wird mega, richtig mega. Na, letztes Jahr waren da hauptsächlich so Single Girls aus England und USA. Nee, auf jeden Fall! Nee nee, wir gründen. Klar, gegründet wird noch vor Ibiza, ja. 

Juni 2024 – Eine Frau

Ich sehe von weitem eine Frau auf der Straße. Ich kenne sie. Ich weiß, wie sie heißt. Ich weiß, dass T. was mit ihr hatte. Als wir noch zusammen waren, als wir gerade nicht mehr zusammen waren, womöglich ist sie heute noch seine neue Freundin, wer weiß das schon, ich nicht. 

Sie kannte mich. Das hat sie nicht daran gehindert. Vielleicht im Gegenteil. Und warum auch? Seine Entscheidung. Was hat er ihr erzählt? Dass es eh zu Ende ist? Obwohl es noch nicht zu Ende war. Dass es schon okay ist? Obwohl es nicht okay war. Oder war es einfach kein Thema, war ich kein Thema, da schon eine Null, nicht vorhanden, egal, übersehbar. Von beiden.

Sie ist alt geworden. Wie ich. Sie geht die Straße entlang, innerlich beschäftigt, auf dem kauend, was sie heute bei der Arbeit erlebt hat. Wie ich. Sie hatte, hat wahrscheinlich noch immer einen tollen, sicher anstrengenden Job, einen Job, den ich mir nie zugetraut hätte, obwohl ich mal in derselben Institution gearbeitet habe. Genauer: Ein Praktikum gemacht habe. Na klar. 

Ich erinnere mich, dass ich damals, als sie auftauchte, versucht habe, mich mit ihr anzufreunden. Kläglich, peinlich, habe ich ihr einen Veranstaltungsbesuch vorgeschlagen, sie auf FB angefragt. Weil ich sie nett fand, interessant. Sie mich nicht. Sie fand T. interessant. So war es meistens. 

Ich wusste nicht, dass die beiden schon mittendrin waren. Ich erinnere mich an einen Kalendereintrag. 90s-Ausstellung mit K. Der Kalender lag mit der Notiz offen auf seinem Tisch. Warum? 

Ich erinnere mich an eine Szene auf dem Balkon bei T. Während einer Party. Wie er und sie rauchend, lachend, dort standen. Ich weiß noch, was sie anhatte, ein Kleid, wie immer. Ich weiß noch, wie sie den Kopf zurück gelegt hat, eine kleine, zierliche Person, die Haare schwarz im French Cut, genau sein Typ, und laut gelacht, ihr Gebiss entblößt hat. Das ich abschreckend fand. 

Ich weiß noch, was ich anhatte.

Ich weiß noch, dass ich in der Küche nervig viel Zeit mit irgendeiner Vorbereitung irgendeines Snacks verbracht habe. Am Herd stand. Abgesprochen mit T., mein support für seine Party. 

Ihre Verachtung dafür. Für die Frau in der Küche.

Diese ganzen Demütigungen. Das Gefühl, danach, später, vor seinen Freunden, vor ihr, vorgeführt worden zu sein. Dumm gewesen zu sein, naiv. Dooftreu. Needy. Voller Angst, ein vom herannahenden Auto geblendetes Tier, in kindlicher Verweigerung verharrend, um die längst beschlossene, längst gelebte, aktive Ablehnung, die Aggression nicht an mich heran, mich nicht erfassen zu lassen.

Der ferne Anblick einer sehr fremden Person schafft es, das alles aufzurufen als wäre es gestern gewesen. Als wäre sie noch sie, ich noch ich und T noch T. 

Ich bin noch ich. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Im TV

Baseball, Soccer, Turnen, Sumo, die Japaner lieben Sport.

Ein junger Sumo Ringer hat das Mai Tournament gewonnen, (Tickets zu bekommen unmöglich).  Er wirkt schüchtern. Die Antworten, soweit ich das beurteilen kann, bescheiden. Wie zur Hölle funktioniert das mit diesen Frisuren, die auf ihren Köpfen liegen wie das kleine Handtuch im Onsen, jederzeit, hat man das Gefühl, könnte sie herunterfallen. 

Die Sendung mit dem Koch. Er ist lustig, weil: dick (das zieht sich hier durch, dicke Leute sind funny). Außerdem hat er eine Frisur wie ein Beatle und trägt bunte Klamotten. Alle Signale auf Clown.  

Anscheinend funktioniert das so: Er wird von Leuten angeschrieben, die sagen, mein Vater macht die allerbesten Wagyu-Spießchen oder: in dem und dem Laden machen die beiden Betreiberinnen die besten Ramen-Suppe, und dann geht er hin und isst. Auf dem  Bildschirm sind dabei in kleinen runden Fenstern Leute im Studio zu sehen, B- und C-Promis, schätze ich, die, wie wir, dabei sind, das beobachten und kommentieren. Er geht da also hin und redet erstmal mit denen, die ihm geschrieben haben, die Töchter oder die langjährige Kunden, und dann bekommt er das Essen serviert und dann schauen alle ganz gespannt, wie sein Gesichtsausdruck ist und was er sagt, und jedes Mal wenn er sich den ersten Bissen in den Mund schiebt, macht er Geräusche und Grimassen, weil natürlich alles so überirdisch lecker ist, und dann sagt er so witzige Sachen, dass sich alle kaputt lachen und allen das Wasser im Mund zusammen läuft. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Fotos

Noch nie habe ich in so kurzer Zeit so viele Fotos gemacht. Alle sind schlecht. Ich renne vorbei und halte drauf, in Panik irgend etwas zu vergessen. Nichts wird was. Als ich später durch scrolle bei dem Versuch ein Album zu erstellen, scheitere ich. Das Foto kein Foto, ab und an eine Erinnerungshilfe. Irgendwie hab ich das irgendwie nicht auch noch geschafft. 

Mai 2024 – Japan im Mai – verkehrt rum

Alles ist verkehrt herum. Gelaufen wird links, gelesen wird von rechts, gefahren wird links, die Karten sind nach Süden ausgerichtet, also wer macht denn sowas?, der Schlüssel wird rechts herum gedreht, um sie zu öffnen. Wir gehen links die Rolltreppen in Tokio, in Osaka dann plötzlich rechts und in Kyoto bitte in Zweierreihen, um Fenster zu öffnen, drehen wir den Griff nach oben (unsere Kippstellung) …

Mai 2024 – Japan im Mai – Sento

Vor der Badeanstalt: Schuhe aus. Ab in den Spind. Da sehen wir uns noch, dann verschwinde ich hinter dem roten Vorhang mit dem chinesischen Zeichen für Frauen, U. hinter dem blauen für Männer. (der Vorhang heißt Noren, hängt an vielen Ladentüren, oft mit Aufdruck). 

Im Vorraum zum Bad. Ein Fernseher. Spinde. Darin: Körbe aus Plastik, weiß. Regale mit Manga. Eine Holzbank. Eine Spiegelwand. Ein einzelner Fön auf der Ablage darunter. An der anderen Wand: Zwei Trockenhauben. Alles irgendwie alt, auch die nette, gut gelaunte Dame, die alles managed.

Die Verschlüsse der Spinde, ein Rätsel, wohin mit meinen Sachen, ah, in die Körbe, ziehe ich alles aus, nehme ich das Handtuch mit in den nächsten Raum, hülle ich mich in das Handtuch ein, ab wo bin ich nackt, hier schon oder erst im nächsten Raum? Im TV über mir das Wetter – tenki,  mindestens so wichtig wie Sport hier. Magazine für Frauen auf einem Tischchen neben der Holzbank. 

Die alte Frau, die Bademeisterin, sitzt leicht erhöht wie in einem Stand, sie kann zu den Männern und den Frauen schauen. Manchmal hört man die Geräusche, die die Männer auf der anderen Seite machen. Die Frau lacht viel, wenn ich etwas frage, das ist gut für mich, nichts was ich falsch mache, ist wirklich schlimm, und am Ende scheinen doch alle individueller mit allem umzugehen, als man auf den ersten Blick denkt. 

Vom Vorraum geht es in den eigentlichen Baderaum, besser: Waschraum. Kacheln. Rosa Plastikhocker, gelbe Schüsseln, aufeinander gestapelt.

Die gespreizten Beine der alten Frau. Die Frau (mein Alter), die sich um ihre alte Mutter kümmert, ihr den rund gewordenen Rücken abreibt, das ist hier überhaupt sehr beliebt, sich einzuseifen und kräftig mit Tüchern abzuschrubben, später, im Vorraum dann, wird sie ihr etwas zu trinken kaufen. Weil ihr schwummrig ist. Das Getränk in der kleinen braunen Flasche, das ich später auch versuche. 

Aha, auf den rosa Hocker setzt man sich also, nackt, an einen der Plätze vor der Spiegelfront. Die ist auf entsprechender Höhe zum Hocker – also niedrig und geht die ganze Wand entlang. Am Boden eine Rinne, alles, alles gekachelt hier, alle barfuß, keine Latschen. Ausnahmsweise. Zwei Tretpedale am Platz, in der Rinne am Boden, links blau, kalt, rechts heiß, rot. Über mir außerdem: ein Duschkopf. Die Frauen mischen das kalte und heiße Wasser in der gelben Schüssel an und begießen sich damit. Über die Schultern, den Kopf. Viele haben – professionals eben – kleine Plastikkörbe mit ihren Sachen dabei, Seife, Handtuch, ich weiß erst nicht, wohin mit meinem Kram, nehme mir dann einfach eine zweite gelbe Schüssel, lege mein Handtuch da rein, naja, suboptimal, das hätte ich im Vorraum lassen müssen. Aber ich hab mich geniert. 

Ich drehe den Riegel am Duschkopf, nichts passiert. Ich schaue verstohlen zur Nachbarin, sie hat ihn auch nach rechts gelegt. Ich versuche den Duschkopf am Platz links neben mir, aha, der funktioniert. Ich rutsche mit Hocker und Schüssel nach links. Elegant ist was anderes. 

Alle, so habe ich den Eindruck, registrieren, dass ich nicht kapiere, wie alles funktioniert, aber keiner mischt sich ein.

Ich lasse also heißes und kaltes Wasser in der Schüssel zusammen fließen, gieße es über meine Schultern, den Rücken, den Kopf. Ich seife mich ein, das muss richtig schäumen, Signal für Sauberkeit, shampooniere die Haare, rasiere meine Achseln, meine Beine, das darf man hier, das macht man so, das Sento stammt aus einer Zeit, in der die Menschen noch keine Bäder in ihren Häusern hatten. 

Ich kauere auf dem Hocker vor dem Spiegel und sehe mein Gesicht, meine Brüste, meinen Bauch, will man das? Die Nähe zu mir selbst ist mir unangenehm. Auch wenn jeder in dieser japanischen Art bei sich bleibt, ein unsichtbares Raum-Zelt um sich herum: ich sehe die Frauen, die hinter mir an den Plätzen der anderen Spiegelwand sitzen, im im Spiegel vor mir, so wie sie mich, verborgen bleibt hier wenig. Faltige Haut, krumme Hüften, knochige Knie, Scheiden, Schamhaare, Brüste, man sieht sich, in Gleichheit und Abgrenzung, sieht, was man war und was man wird, das Schöne und das Knorrige, das Krumme und das Ehemalige, ich bin ein bisschen verschreckt, das ist viel. 

Der Körper im Bad ist als individueller sichtbar, gleichzeitig ist er Teil einer Gemeinschaft. Ein Gemeinschaftskörper. In Gemeinschaftlichkeit wird sich ihm gewidmet. Mit den Gesten von Waschung und Pflege wird er gesund gehalten, ihm soll Wohlbefinden zuteil werden, ein persönliches wie gemeinschaftliches Anliegen. Wie sich jemand wäscht und pflegt ist ein intimer Vorgang, dessen Zeuge wir sind, anders als bspw. in der Sauna. Gleichzeitig zeigen diese Gesten ein allgemeines, gemeinschaftliches Wissen um diese Vorgänge. 

Erst nach einer Weile komme ich rein, das Wasser überm Kopf, immer wieder, über die Schultern, nochmal einseifen, wie mach ich das mit dem Po, da sitz ich ja drauf. Viele, besonders die älteren Frauen, sitzen nicht auf den Hockern, sondern im Fersensitz auf dem Boden, also auf den Unterschenkeln, wie man es in Japan oft sieht. Auch die Gärtner zum Beispiel sitzen so, in den Wohnungen wird so gegessen, ist mir völlig unklar, wie man das lange aushält. 

Es gibt drei Becken, nicht allzu groß, ähnlich den Eintauch-Becken, wie man sie aus der Sauna kennt. Ein rotes, ein mittleres, ein erstes. Gibt es eine bestimmte, heilige Reihenfolge? Ich nehme das Becken, in dem nur eine Frau ist, außerdem schaut sie mich einigermaßen freundlich an. Das Wasser ist herrlich heiß. Ich liebe es. Die anderen Frauen in den Becken haben sich noch gar nicht die Haare gewaschen, bemerke ich, aber so wirklich schlimm kann das nicht sein. Das Becken mit dem rot gefärbten Wasser ist mir suspekt, das meide ich. Die Frau darin guckt aber auch mürrisch. Bei der zweiten Runde finde ich das winzige Kaltwasserbecken. Da geht niemand rein. Aber ich! Das mag ich nämlich am Allerliebsten. Meine Haut ist rot, ich pumpe, so soll es sein. 

Schnell hab ich keine Lust mehr. Zu fremd ist das alles. Es gibt noch eine kleine Kammer, ist das ein Dampfbad? Niemand benutzt es, ich trau mich nicht rein. Ein Mädchen, vielleicht zehn, kommt  in den Baderaum, ihr Körper so anders in seiner Geschmeidigkeit, Festigkeit, es ist unfassbar. Rasch setzt sie sich ins Becken, schnell ist sie weder raus, sie bewegt sich so sicher hier, ist sie alleine da, zu wem gehört sie? 

Ich gehe durch die Glastür in den vorderen Raum zurück. Ich ziehe mich an, alles mit Bedacht, dann kann ich besser schauen, wie andere ihre Abläufe gestalten, außerdem hab ich das gelernt hier. Die Dinge, die man tut, ernst zu nehmen und sich Mühe mit ihnen zu geben.  

Ich föhne mir die Haare. Das Mädchen – ich verstehe jetzt, dass die Bademeisterin und das Kind sich kennen, sie muss die Enkeltochter sein – guckt ein bisschen nach mir. Zack ist sie wieder angezogen. Sie muss das alles seit sie ein kleines Kind ist tausendmal gemacht haben. 

Die Frau versucht mir etwas zu sagen, anscheinend habe ich irgendwas verpasst, vielleicht die Sauna, das Dampfbad, keine Ahnung. Es ist nicht schlimm, ich habe genug Abenteuer erlebt. Ich will jetzt auch so ein braunes Fläschchen trinken. San hyaku en (Dreihundert Yen) wiederhole ich, denn das hab ich verstanden, was mich freut, und ich betrachte die noch immer sehr ungewohnten Münzen in meiner Hand. Das Kind hilft mir, zählt die kleinen Münzen aus meiner Hand, die Frau lacht. Ich will raus mit dem Getränk, aber das Kind schüttelt energisch den Kopf, zeigt mir den Kasten, in den die leere Flasche gehört. Ich setze mich auf die Holzbank. Gut so. Nicht davon rennen. Langsam machen. Die süße Gummibärchen-Limonade trinken, die sich in der kleinen braunen Flasche befindet. Auch das mit dem Drehverschluss musste das Mädchen mir zeigen. Es hatte eine gute Zeit. 

Später, als ich draußen bin und auf U warte, bin ich ein wenig erleichtert. Es fühlt sich an, als sei ich nah an etwas herangekommen, vielleicht zu nah. Ein Eindringling bin ich gewesen. Das Bad war kein schickes Onsen, nicht auf Touristen ausgerichtet oder auf junge, urbane Japaner, es war ein kleines, altes Bad in der Nachbarschaft. Zu U werde ich sagen, dass ich es erstaunlich finde, dass man in dieser Nachbarschaft weiß, wie die Lehrerin nackt aussieht, die Frau mit den zwei kleinen Kindern, die in der dritten Etage im selben Haus wohnt oder die Frau, die am konbini hinter der Kasse steht. In der sich sonst so bedeckt gebenden Kultur in Japan würde man diesen im Bad plötzlich so offensiven Umgang mit Nacktheit und Körperlichkeit nicht vermuten. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Tourismus-Broschüre

In Kanazawa finde ich eine kleine Broschüre, die Touristen darüber aufklärt, wie sie sich verhalten sollen. So ist das hier. Das ist das Grundprinzip. Nicht-Japaner, Touristen, gaijins (Fremd-Menschen, höflich: gaigokujin: Fremd-Land-Menschen, aber das sagt eigentlich keiner) wissen nicht, wie man sich in Japan verhält. Man muss es ihnen erklären, beibringen, damit sie erträglicher sind, weniger Störfaktor in den Abläufen. So ist die Setzung, das ist die Basis. Bei uns wäre diese Haltung (Reizwort „Leitkultur“, die sollen sich anpassen) nicht denkbar, bzw. problematisch, weil sie als xenophob bis rassistisch empfunden würde.

Touristen, Ausländer sollen das Land nicht prägen, nicht verändern, sie sind willkommen, aber sie sollen auch wieder gehen. Sie sollen temporär anwesend sein, und wenn sie da sind, sollen sie sich einfügen, sich benehmen, damit niemand in seinem Alltag allzu sehr gestört werden. Es ist oft lustig, was die Fremden alles nicht wissen, was sie falsch machen, wo das doch so logisch ist, wie man es macht. Aber manchmal nervt es eben einfach auch, sie sind anstrengend, diese zur Rücksichtslosigkeit, zum Lautsein und zum ausgelebten Individualismus neigenden Anderen. Sie wissen nicht, dass man in der Ubahn den Rucksack nach vorne nimmt oder zwischen die Beine stellt, dass man nicht laut spricht, dass man im Café seine Tasche nicht auf den Tisch stellt, sondern in extra dafür bereit gestellte Körbe, dass man im Gehen nicht isst oder trinkt, dass man seinen Müll in der eigenen Tasche mit nach Hause nimmt. Also muss man es ihnen erklären, mit Schildern auf dem Markt und in der U-Bahn oder eben in dieser Tourismus-Broschüre, die über das „normale“, das erwünschte Verhalten aufklärt. Es muss also ein kollektives Wissen darüber geben, was dieses Verhalten ist. Ein Wissen darüber, was „Japanisch“ ist. Ich glaube nicht, dass das in Deutschland so ist. 

Mich entspannt das. Ich bin gerne die Fremde, die sich anpasst. Die lernt, wie man sich benimmt, die es unangenehm findet, es nicht zu wissen, der es gefällt, darüber aufgeklärt zu werden, wie man sich in bestimmten Situationen verhält, wie etwas „üblich“ ist. Für mich ist Japan ein Seminar, ein Kurs. Erst spät regt sich ab und an Widerstand bei mir und ich mache nicht immer meine Hausaufgaben.

Dass die Japaner Rassisten sind, darüber ist oft gesprochen worden. Doch wie immer ist auch das komplex und widersprüchlich, und Japan ist, wie alle Länder auf seine sehr eigene Weise rassistisch und xenophob. Shinzou Abe jedenfalls, der rechtskonservative bis rechtsextreme, jahrzehntelang immer wieder gewählte Premierminister Japans, hat das Land auch während der Flüchtlingskrise dicht gehalten und zwischen 2013 und 2018 laut Wikipedia 134 Flüchtlingen Asyl gewährt. 

Es ist natürlich ein Unterschied, ob man eine schön gestaltete, in freundlichem Ton verfasste Tourismus-Broschüre in der Hotelauslage findet oder einen abgelehnten Asylantrag in die Hand gedrückt bekommt. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Jazz

Kanazawa. Wir gehen in eine Jazz-Bar. Ich kann gar nicht fassen, wie schön die ist. Ich shazamme alle Titel, die an dem Abend aus zwei hervorragenden, gut aussehenden Boxen perlen und kratzen. Wir bestellen was zu essen, ich bekomme Home Made Pickles (wie ich später lerne: Tsukemono) und flippe total aus, weil die so unfassbar lecker sind und so wundervoll aussehen. Auch der Wein ist wunderbar ausgesucht und die kleine Margarita mit feinem Salzrand wird mir in einem Tropfenglas serviert. Später im Hotel höre ich den ganzen Jazz nochmal, lasse mich davon tragen, davontragen. Sex geht dazu auch gut. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Care

Kanazawa. Im Hotel Pacific, einen Namen, den ich liebe schon als ich zum ersten Mal das Logo sehe und das kleine Café betrete, das gleichzeitig als Rezeption des Hotels dient, leihen wir uns Fahrräder. Es hat gestern und am Morgen noch geregnet und die junge Frau, die die Räder für uns bereitstellt, bittet uns, vorsichtig zu sein, es könne noch rutschig sein. Sie fragt, ob wir Helme möchten. Nein, wir sind ready to go. Als ich schon auf dem Rad sitze und mich nochmal umdrehe, stehen dort der Chef, ein netter Typ um die 50 mit Peter Lustig-Latzhose und die beiden Mitarbeiterinnen an der Tür, um uns zu verabschieden Sie winken, machen ihre kleinen Verbeugungen. Mir kommen die Tränen. Ich kann mich nicht erinnern, je von von meinem Eltern so verabschiedet worden zu sein. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Im Flugzeug

Im Flugzeug zurück eine junge Japanerin, Studentin, in ihren 20ern schätze ich. Sie schaut Barbie ohne dabei über die gesamte Länge des Film auch nur eine Miene zu verziehen. Versteht sie die Anspielungen nicht, ist es schlecht übersetzt oder findet sie es nicht witzig? Wie kann man da nicht lachen? 

Die Japanerinnen lachen oft mit vorgehaltener Hand.

Mai 2024 – Japan im Mai – Fächerahorn

Ich bin verliebt in Fächerahorn. Wunderschön, wie das Licht durch die hellen, feinen Blätter dieser Bäume fällt. Sie wachsen hier überall. 

Erst spät fällt mir auf, dass man den Blättern auch als in Pflaster eingelassene Gehwegverzierung und als Logo begegnet, ähnlich wie das Maple Leaf in Kanada ein icon für Japan. 

Noch später, zuhause, fange ich an, Perfect Days zu gucken, einen Film, den ich vor Japan aus Spoileralarm-Gründen nicht sehen wollte, und relativ früh im Film, dem ich lieber mal von vorne herein schon mal ordentlich Kitsch und evangelisches Pathos unterstellt habe, Wim Wenders eben, gräbt die Hauptfigur, der Toiletten-Mann, einen kleinen Fächerahorn aus, um ihn mit nach Haue zu nehmen und ihn bei sich aufzuziehen. Ich bin hin und weg. Danach schalte ich trotzdem lieber erstmal aus. 

Mai 2024 – Japan im Mai – fernsehen

Ich glotz TV. Was ist hier eigentlich mit diesen Fernsehkanälen los, in den Hotels, Apartments nur fünf komische Programme plus QVC-artige Sender? Die paar Kanäle sind das Öffentlich-Rechtliche?

NHK heißt es, ich recherchiere es, kostet die Japaner genau wie uns Gebühren und das und das Programm werden schwer kritisiert. Es gab sogar mal eine Partei, die sich nur darauf fokussiert hat. Nun ja, kommt uns bekannt vor.

Mai 2024 – Japan im Mai – Eki ben

Man nimmt sich etwas zu essen mit in den Zug, ein Sandwich, eine Bento-Box! Die isst man dann, auf dem Tablett am Platz. Ein Platz, der so viel Beinfreiheit lässt, dass U. glücklich lacht und ich ein Foto von ihm mache. Der schönste Eki-ben-Laden ist in Tokyo, direkt unterhalb des Gleises von dem aus wir nach Hiroshima fahren. Bento-Boxen in allen Größen, ihre Beispiel-Plastiken hübsch einzeln platziert in den Vitrinen rund um das Ladenfenster. Man soll nichts nehmen, was starke oder unangenehme Gerüche verbreitet, lese ich, knisternde Tüten hört man hier im Zug nicht, alle essen artig. Die Toiletten wie immer ein Traum, das Internet geht allerdings auch hier nur sporadisch und das Design der Polstersitze wirkt angestaubt. 

Zum ersten Mal fühlen wir uns orientierungslos, allein gelassen, wie heißen die Haltestellen, wann werden wir sie erreichen? Google, was wären wir alle ohne maps, lens und translate? Noch hilflosere, nervige Deppen. 

Der Shinkansen derweil unbeirrt vorbei am Häuschenmeer. Irgendwann ein paar Reisfelder, kleine, abgesteckte Areale, trocken heute, doch dann wieder Häuser, Häuser als Landschaft bis zum Horizont. Die kleinen Orte voller Eigenheime, wie bei uns. 

Die Züge fahren so schnell, dass ich öfter mal enttäuscht bin, gerade erst haben wir uns gesetzt, nun müssen wir schon wieder aussteigen? 

Mai 2024 – Japan im Mai – Dörrie

Ich lese Leben Schreiben Atmen von Doris Dörrie, mein Buchtrack zur Reise, erstaunlich passend, weil sie so ein Japan-Fan ist, erstaunlich anrührend, weil es um Verlust geht und sie mich damit trifft.

Ich frage mich, warum ich sie immer so beiseite geschoben habe, man könnte auch sagen, sie überheblich ignoriert habe. Vielleicht wegen ihres München-Appeals, das aus der Berliner Perspektive ja immer schön oberflächlich mit oberflächlich assoziiert ist, konservativ, kommerziell; vielleicht wegen ihrer auffallenden Brille, die für mich immer auf eine unangenehme, generationell verortbare, sprich irgendwann veraltete Art war, „Kunst“ und „ich bin ne ganz Verrückte“ zu schreien, wie so ein roter Schal. Vielleicht wegen ihrer Filme, die mir immer seicht vorkamen oder zu sehr auf die Zwölf, ohne dass ich natürlich je mehr drei ihrer Arbeiten gesehen zu haben, nicht einmal Hanami mit Wepper. Vielleicht wegen ihres Hangs zum Spirituellen, das mich an die Frauenbewegung der 80er erinnert und an die Regale mit „Frauenliteratur“, die damals in jeder Buchhandlung standen und in denen direkt neben dem „Emanzipationsbuch“ der Tarot-Ratgeber einsortiert wurde. Möglicherweise ist an all dem was dran. Dennoch schäme ich mich. Denn unterm Strich ist Dörrie doch ne Sis! Eine dieser älteren Schwestern, ohne die wir nicht wären, wo wir sind. Eine die mutig war, ohne ein Macho zu sein, eine die sich mit bewundernswertem Selbstverständnis und erstaunlicher Kraft in der verdammten mens mens world des Films und des Schreibens bewegt hat und als nun ältere Frau noch immer bewegt. Eine, die ganz anders als ich feige Kuh, um die Welt gereist ist, mit einer solchen Lebenslust, Offenheit, Neugier und einer Fähigkeit zu Freundschaft und Liebe, dass ich mir (sagen wir beinahe) wünsche, ich hätte mich in München an der Filmhochschule beworben und wäre in den Genuss ihres sicher hervorragenden, zugewandten Unterrichts gekommen. Eine Mentorinnen-Figur, wie ich sie mir immer vergeblich gewünscht habe, die mich gesehen und verstanden und unterstützt hätte, wäre sie vielleicht gewesen. Aber wer weiß, vielleicht hätten wir uns ja auch NULL verstanden. 

Ihr Buch jedenfalls war so, dass ich all das gedacht habe und noch dazu eine Menge anderes.

Mai 2024 – Japan im Mai – Natur

Naoshima. Als U, der sich wundert, wie man angesichts einer solchen Meeresbucht bei bestem Wetter auch nur eine Sekunde außerhalb des Wassers bleiben kann, die junge Frau an der Rezeption fragt, weshalb die Japaner eigentlich nicht im Meer baden, sagt sie: too cold und reibt sich mit den Händen über die Oberarme. U. irritiert das zutiefst. Hier und sonst. Die Japaner sind Drinnies. So so langsam der Eindruck. Eine starke Verbindung zur Natur scheint es bei den Japanern zu geben, gleichzeitig fürchten sie sie enorm. Das Meer gibt zu essen, Bäume werden liebevoll gestützt und gepflegt, die Erde wird bepflanzt, Gärten kultiviert, die Blumen gehütet, jedes verdorrte Blütenblättchen mit der Pinzette weggemacht, auf den Knien der Rasen gestreichelt und gekämmt, ich schwörs, wir haben’s gesehen. Natur ist wertvoll und bedrohlich zugleich. Vor aggressiven Raben wird gewarnt, die Fenster bitte geschlossen halten, sonst kommen Insekten rein, die Schuhe nicht draußen lassen, sonst holt sie der Waschbär. Natur wird kultiviert, zivilisiert, gebändigt. Vielleicht ist das die Antwort auf Erdbeben und Tsunami. Baden gehen kann man im Onsen oder im Sento. Da ist es niemals too cold, die Abläufe sind klar, es gibt nichts Unberechenbares. 

Als wir einige Tage später in Kanazawa an den Strand fahren, liegt dieser tiefe, aus wundervoll seidigem Sand bestehende Strand alleine da. Wir mussten lange fahren und laufen, um ihn zu erreichen, das erste Bild, das wir von ihm sehen, ist von einer Autobahnunterführung gerahmt. Gut, es regnet ein bisschen und ist windig, doch generell scheinen sich außer ein paar Surfern und verrückten Touristen niemand von den Einheimischen für ihn zu interessieren. Was wäre an so einem Strand in Europa los!  

Warnungen Informationen Verhaltensweisen. Wie ist den Dingen zu begegnen. Wie lässt sich über Verhalten das Entsetzliche, das jederzeit herein- oder herausbrechen kann, bändigen, wie kann man dem Unbändigen, dem Unberechenbaren Herr werden. Auch eine Bombe ist ihnen vom Himmel auf den Kopf gefallen. Was mich wundert, nirgendwo finde ich Anweisungen zum Verhalten bei Erdbeben oder Tsunami. Ich fühle mich sicher, in diesem Land, das meine Ängste zu teilen scheint, mich für alles rüstet, mich beständig freundlich aufmerksam darauf macht, wohin ich gehen, wie ich stehen soll. Doch die ganze Zeit beunruhigt mich, dass ich nicht weiß, was ich tun soll, wenn die Erde bebt. Wei en Tabu kommt mir das vor. Alle müssen das hier mit der Muttermilch aufgesaugt haben. Erdbebenübungen schon im Kindergarten. Vielleicht deshalb? Aber so ganz passt das nicht. Touristen werden Bringt es Unglück, darüber zu sprechen? 

Mai 2024 – Japan im Mai – Water Lilies

Man bittet uns, die Schuhe auszuziehen. Es liegen Pantoffeln bereit, ich nenne sie mal so. Weiches Leder, schmale Sohle, vorne eine rundliche Haube. Sogar die Hausschuhe sind hier edel, sie passen zum Boden, auch farblich (helles Beige). Auf einer langen Bank, die mich an den Turnunterricht erinnert, sitzen wir neben anderen An- und Ausziehern. 

(Man lernt ja auch immer was über andere Kulturen auf Reisen, weil einem die fellow tourists auf Schritt und Tritt begegnen, die gleichen fragenden Blicke in ihren Gesichtern, die gleiche schäfchenartige Bereitschaft, sich lenken und mit den Regeln vor Ort konfrontieren zu lassen, in ihrem Touri-Sein dennoch kulturell wiederum sehr unterschiedlich. Die Asian tourists voll gewöhnt an die Schuhsache, wir Europeans eher immer so, echt jetzt, schon wieder der Hassel? Unangenehm, die Sneakers auszuziehen, die dampfen könnten, unangenehm, sich der Welt in Socken zu präsentieren, entmachtet fühlt man sich.)   

Dann dürfen wir rein. Ich weiß gar nicht „wo rein“, keine Ahnung, was genau mich erwartet, bis hierher war es anstrengend, ein Hin und Her zwischen zwei Kunsthäusern, Chichu Museum, Benesse Art, zurück zu Chichu, weil unser Plan, in einem der Gebäude zu frühstücken, nicht aufgegangen ist. Ich habe den Überblick verloren. Ich gehe also mit meinen schlecht sitzenden Pantoffeln in Richtung der jungen Frau, die, mit diskretem Blick kontrolliert, ob wir die Pantoffeln tragen und mit freundlich leitender Geste und angedeuteter Verbeugung auf den vor uns liegenden Raum verweist. Eine Geste, die ich inzwischen aus anderen touristischen Situationen gut kenne. Ich wende mich dem offen vor mir liegenden Raum zu – und für einen Moment stockt mir der Atem. Ich höre mich irgendetwas Absurdes sagen, wie „Die haben hier die Seerosen“, weil ich so verblüfft und erfasst bin vom Anblick von Monets Bild (Water Lily Pond) an der hinteren, mir gegenüberliegenden Seite des Raums. Ich sehe jetzt, dass der Raum sich in einen vorderen und einen hinteren unterteilt. Die Öffnung des hinteren Raums, das Gebäude selbst also, gibt den Seerosen von hier aus betrachtet, einen Rahmen, betont ihr Cinemascope-Format (2mal6 Meter). 

Ich gehe auf die Seerosen zu, nähere mich ihnen. Alles um mich herum ist weiß, ein weißes Meer aus Boden, Wänden und Decke, alles streichelt mit seiner hellen, seidigen Wärme meinen Blick. Ich gehe auf die Seerosen zu, komme ihnen näher. In all dem Weiß sieht das Bild aus als würde es schweben, sein Blau noch blauer. 

Der Boden über den ich gehe, besteht aus unendlich vielen kleinen, weißen Kacheln mit schmalen, feinen grauen oder schwarzen Schlieren darin. Marmor. Später lese ich in den kleinen Katalog des Museums, dass er aus Italien importiert wurde, aus der Carrara Region, aus der Michelangelo seinen Marmor hat liefern lassen. Kein Wunder also, dass wir hier nur mit Hausschuhen reindürfen. Die Ecken der Kacheln sind leicht abgerundet, ich folge meinem Impuls, beuge mich hinunter und berühre sie. Sie sind weich, sehr weich. 

Ich nehme (wer hat mir beigebracht, das zu tun, mein Vater) unterschiedliche Abstände und Perspektiven aufs Bild ein. Man darf hier nicht fotografieren, ich versuche mein Gedächtnis zu benutzen wie einen Fotoapparat, natürlich wird das nichts nützen und es schmerzt mich, gleichzeitig bin ich froh, dass ich nicht fotografieren darf, ich würde etwas anderes erleben. 

Als ich an die Decke schaue, wird mir klar, dass der Raum mit einer Art transparentem Plexiglas bedeckt zum Himmel offen ist. Das Licht, das auf Monets Seerosenteich fällt, ist natürliches Licht. Wie mag er aussehen, sich verändern, wenn der Himmel in Naoshima mit dunklen Wolken bedeckt ist oder die Sonne bei klarem Himmel in der Mittagszeit steil in den Raum fällt? Tadao Andos architektonische Entscheidung fügt dem Bild – und den zwei weiteren Seerosen-Gemälden, die in diesem Raum hängen – den Außenraum hinzu. Er verändert die Bilder je nach Wetterlage, wie das Wetter es eben tut, wenn wir an einem Teich stehen. Mit dem Weiß der Wände lassen sich Häuser in mediterranen Regionen assoziieren, die Kacheln an einen Pool denken, mit dem sich das Blau des großen Bildes nüchterner verbindet, dem Blick darauf etwas Kühles verleiht.  

Was mich berührt: An vielen Stellen kommt mir das Bild schattig und unklar vor, als habe jemand dort Klarheit, Deutlichkeit gesucht, jedoch lediglich diese flirrende Diesigkeit gefunden und sie dann auch abgebildet. Vielleicht sind es nur die Weiden, die sich in der Abendsonne auf dem Teich spiegeln, aber mir kommt Monets Augenkrankheit in den Sinn, die hier vielleicht schon eine Rolle gespielt hat, so sehr bildet sich eine Dynamik des Gegenhaltens, des dringlichen Festhaltens im Bild ab. Plötzlich erzählt das Bild auch davon. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Schreiben

Es passiert so viel, jeden Tag, dicht an dicht, dass ich den Stift nehme und es aufschreibe, abends, spätestens am nächsten Tag. Damit nicht alles Flöten geht. Zwei Heftchen voll sind es am Ende. Ich finde das schön. Und dennoch ärgere ich mich später, dass ich nicht gleich hier reingeschrieben habe. Nun macht es umso mehr Mühe.

Wie immer sehe ich die Heftchen in den Händen derer, die einst meine Wohnung ausräumen werden und sie in den bereitgestellten Container werfen. Aber so ist der Lauf der Dinge. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Miyajima

Quer durch Hiroshima mit der Tram bis zum Hafen. Auf die Fähre, die schon wieder anlegt, kaum hat man sich an Deck begeben, um aufs Meer zu schauen. Gleich wenn man aussteigt und die belebte Promenade betritt, sieht man sie: Rehe. Verblüffend, ihr Anblick. Sie bewegen sich selbstverständlich unter den Passanten, kommen ihnen nah, und sind dennoch mit dieser merkwürdigen Abstands-Aura ausgestattet, wie jedes wilde Tier. Ich mag sie nicht, sie machen mir Angst. Ihre Forschheit, ihr Drängen. Ihre Unberechenbarkeit. Ich mag nicht, dass die Leute sie füttern und fotografieren. Doch auch ich werde sie fotografieren. 

Wie Profis posieren die Rehe, die hier heimisch sind, vor diesen Rechtecken, die man ihnen vor die Nase hält, sie scheinen Posen einzunehmen, den Hals noch etwas eleganter zu legen. Offiziell soll man sie nicht füttern. Im Gegensatz zur sonstigen Hinweis-Wut gibt es hierzu aber nur wenige, versteckte Schilder. Der Reiseführer hatte die Rehe für Nara angekündigt, weswegen ich gar keine Lust hatte, dorthin zu fahren. Nun sind sie auch hier. 

Als ich später eines am Strand sehe, bin ich zunächst beruhigt. Vielleicht weil der Strand, trotz Spaziergängern, Hafenpanorama im Hintergrund, wie ein natürlicheres Habitat wirkt. Das Reh frisst Seegras, wenigstens irgendwas, was nicht aus Tüten oder Taschen stammt. Ich fotografiere das Reh. In diesem Moment fällt mir eine Fotografie von Wolfgang Tillmanns ein und ich bin geschockt. Tillmanns Foto (es heißt Deer, ich recherchiere es später) geht so: 

Ein Hirsch, schlank und schmal, nicht so gewaltig wie die Hirsche, die es in unseren Wäldern gibt, und ein Mann – Tillmanns selbst? – stehen auf einem ansonsten leeren Strand einander gegenüber und schauen sich an. Der Mann hat die Hände ausgestreckt, gespreizt, ein bisschen als wolle er das Geweih des Hirsches nachbilden. Die beiden scheinen zu kommunizieren. Ein magischer, rarer, wunderschöner Moment des Kontaktes, verletzlich und mutig zugleich. Der Mann ist barfuß, die Hosenbeine sind hochgekrempelt, neben ihm steht ein Rucksack am Boden. Weit im Hintergrund sind links ein paar Häuser zu sehen, undefinierbar, ich jedenfalls habe ihnen nie Beachtung geschenkt. Ich habe diese Fotografie immer geliebt. Doch in diesem Augenblick wird mir klar, dass das Foto wahrscheinlich hier oder in Nara entstanden ist. Mir wird klar, dass ich es immer falsch gelesen habe, falls es so etwas gibt. Der Moment ist viel weniger magisch als ich dachte, weniger witzig auch. Denn jeder hier geht in Kontakt mit den Tieren, jeder hier hat einen Fotoapparat, um diesen Moment festzuhalten. Das Foto bekommt plötzlich einen Shift hin zu einer ganz anderen Bedeutung, plötzlich ist seine Erzählung eine andere. Es ist ein Foto über Tourismus. 

Ich fühle mich betrogen und beschämt zugleich.  

Mai 2024 – Japan im Mai – Kürbis

Naoshima. Ich spaziere ans Ende der kleinen Bucht, zu Kusamas gelbem Kürbis, der von seinem leicht erhöhten Platz aus so friedlich wie keck aufs Meer schaut. Von unserem Wohnwagen aus haben wir ihn die ganze Zeit schon gesehen, jetzt will ich mal auf Tuchfühlung gehen. 

Wie alle anderen – der Kürbis ist selten allein – bin auch ich gekommen, um ihn zu fotografieren. 

Eine Frau spricht mich an, fröhlich klingt sie, freundlich, mittleres Lebensalter wie ich, eine hübsche, sympathische Frau, einen Rock trägt sie, die Sonnenbrille in die langen, hellen Haare gesteckt. Sie fragt mich, ob sie ein Foto von mir vor dem Kürbis machen soll, ich zögere. Would maybe funny, because I am wearing my polka dot dress, überlege ich. Right!, ruft sie, und: Oh, of course you need a picture! und nimmt mein Handy entgegen. Sie macht drei Fotos von mir im schwarzen Kleid mit weißen Punkten vor dem gelben Punkte-Kürbis, wie schon befürchtet, gibt das ein verkrampftes hässliches Bild ab, das ich so schrecklich finde, dass ich später alle drei Versuche lösche und darüber nachdenke, das Kleid nie mehr anzuziehen, überhaupt kein Kleid,  und mich ganz konsequent einfach nicht mehr fotografieren zu lassen. Dann tauschen wir. Kann gut sein, dass das der Grund war, warum sie mich eigentlich angesprochen hat, weil sie ein Foto von sich vor dem Kürbis wollte. 

Ich mache drei Fotos von ihr, sie sieht gut aus in ihrem Rock und ihr Lächeln ist auch nicht so ein verzerrtes Horror-Grinsen wie meins. Bestimmt hat sie Kinder, denke ich. Und vielleicht einen Ex-Mann. Nun reist sie allein durch die Welt, denn das tun sie, die Frauen im mittleren Lebensalter: Ihre Kinder sind aus dem Haus oder liegen beim Therapeuten auf der Couch und schimpfen über ihre Mutter, also sie, die Männer sind bei Jüngeren, mit neuen Jobs und neuen Herausforderungen beschäftigt und die nun allein stehenden Frauen, was für ein Wort, entwickeln ungeahnte Kräfte und denken sich, soll ich jetzt heulen und depressiv werden oder soll ich das  ganze Geld von meinem Mann nehmen und mich der Kultur widmen und Reisen machen und eine nie gekannte Form der Zufriedenheit finden. Oder beides im Wechsel. 

Wir sprechen kurz. I dont recognize your accent …? sagt sie. Das scheint die zur Zeit anerkannt korrekte, am wenigsten als offensive geltende Frage nach der Herkunft zu sein, das hab ich jetzt schon öfter gehört von Englisch sprachigen Reisenden. Sie erzählt, dass sie aus Neuseeland kommt oder dort zumindest schon lange lebt, ihre Eltern sind aus Australien. Ah, sage ich, interesting, und dass es mir so vorkommt, als seien viele Australier in Japan unterwegs? Sie wird ganz aufgeregt, wedelt protestierend mit ihren schlanken Händen, sie sei aus New Zealand!, sagt sie dreimal, New Zealand!, completely, really completely different country! So war das gar nicht gemeint, bin nur beim Stichwort Eltern/Australien dumm hängen geblieben. Ich sage ihr, dass ich das sehr genau weiß, dass das zwei very different countries sind, spätestens seit ich Flight of the Conchords gesehen habe. (Ach, mein Bildungsfernsehen). Ooouh! staunjubelt sie, you know Flight of the Conchords? Did you like it? (Das findet sie verwunderlich, dass ich das liken könnte, vielleicht weil ich aus Deutschland komme). I found it hilarious, sage ich. Und erkläre nochmal, dass ich seither sehr genau weiß, dass Australien und Neuseeland two very different countries sind. Ah!, jetzt fällt der Groschen und sie lacht. Wir reden kurz über Jermaine und wie hieß der andere, nur Murray fällt uns noch ein, was aber glaub ich der Agent und nicht der buddy war. Ich erzähle, dass die beiden, Jermaine und der buddy, als ich damals in New York war, sogar eine Show auf dem Broadway hatten. 

Dann verabschieden wir uns. Sie bleibt noch ein bisschen beim Kürbis. Der Kürbis, der das alles mitgehört hat. Ich kann ihn ja noch am nächsten Tag streicheln, weil ich praktisch neben ihm wohne. 

Als wir zwei Tage später Richtung Fährhafen zurück fahren, zwischen Koffer und Rucksack im Bus eingequetscht wie auf der Hinfahrt, steigt sie an einer der Stationen zu. Sie spricht fröhlich mit zwei Frauen, ach, denke ich, doch mit Freundinnen unterwegs! Doch später am Hafen sehe ich sie ohne die Frauen, die längst ihrer Wege sind und ich höre, wie sie ein Ticket nach Taeshima bucht. Ihre Reise geht allein weiter. 

Warum fand ich allein essende trinkende reisende Frauen früher so wahnsinnig cool und stark und heute finde ich sie so wahnsinnig … einsam? Warum ist etwas, das mir unglaublich emanzipiert, um mal dieses alte Wort aus alten Zeiten zu benutzen, unabhängig und selbständig vorkam zu etwas verkommen, was auf mich wie ein tragisches Schicksal wirkt. Bin das nur ich und mein projiziertes Selbstbild oder bin das ich im Namen einer misogynen Gesellschaft, die die älter werdende, von allen verlassene, nicht mehr begehrbare Frau nur als unglückliche begreifen kann? Deren Beteuerungen, es sein eine große Zeit der Befreiung niemand ernst nehmen will.   

Ich stelle mir vor, dass sie ein schönes Haus hat und Freunde, die sie auf ihre Terrasse einlädt. Und einen Hund. (So kenn ich das aus australischen Serien). Ich bin ein bisschen traurig, weil sie eine dieser Frauen ist, die mir das Gefühl geben, nicht erwachsen geworden zu sein. Wir könnten nicht befreundet sein. Aber als ich sie so alleine weiter reisen sehe, bin ich ein bisschen versöhnt. Noch so ne Frau, die einfach versucht, irgendwie klar zu kommen. Ihre professionelle, leicht überhebliche Freundlichkeit, nach meiner Erfahrung typisch für soziale Interaktion mit englischen Muttersprachlern, ist eben auch nur: professionell und hilft durchs Leben. 

Vielleicht sollte ich auch mal nach Neuseeland fahren. Wenn da alle so nett sind. Aber der Flug ist ja noch länger. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Naoshima 2

Natürlich habe ich Angst. Dass der Waschbär kommt, wenn ich nachts aufs Klo gehe, dass ein Mann mir auf die Toilette folgt und versucht mich zu vergewaltigen, dass ein Tsunami kommt und den kleinen Wohnwagen in dem wir in Doppelstock-Betten schlafen (ich oben, weil das Bett nur bis max. 70 Kilo hält), wie ein Spielzeug nach oben wirft, ihn dort kurz tanzen lässt, um ihn dann in seinem riesigen Maul mit sich in den Abgrund zu reißen. Ich habe Angst, eine riesige Spinne zu sehen, eine riesige Kakerlake, eine riesige Hornisse, ich habe Angst, von einer Mücke gestochen zu werden, die eine böse, von unseren schlecht geschulten Ärzten zuhause über lange Zeit unentdeckte Krankheit überträgt, ich habe Angst, dass der Flug eine Thrombose bewirkt haben könnte, eine Embolie, die jetzt, wo wir auf einer Insel sind, weit weg von medizinischer Versorgung, meine Lunge blockiert, ich habe Angst, dass U etwas passiert und ich nicht damit fertig werde, weil ich nicht mal die einfachsten Dinge von ihm weiß, wie bspw. die Telefonnummer seiner Töchter, Mütter, Brüder, Frauen. Es ist schön hier. Deshalb habe ich Angst. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Naoshima 1

Als wir aus dem viel zu kleinen, mit Touristen und ihren Koffern viel zu vollgedrängelte Bus steigen und ich die kleine Bar mit den paar Tischen und Stühlen unter Kiefern vor der Meeresbucht sehe, ist alles gut. 

Dieser Ort wird sich in mein Gehirn einbrennen. Ein Trost-Ort. 

Das Essen, das wir in dem kleinen Restaurant von den beiden Frauen bekommen, ist das beste der ganzen Reise. Im Tablett serviert, die einzelnen Tellerchen, Schalen gestellt gedreht gerichtet und gerückt, jedes für sich, jedes für dich. 

In meiner Suppe schwimmt ein einzelnes längliches Fischlein wie zur Deko, nun wieder Barthes: ein Zeichen. Der Fisch als Ausdruck seiner Essenz, die Suppe, klar, besteht aus ihm und seinesgleichen, der Fisch markiert sich selbst, signalisiert sein Fischsein, den Vorgang, den Prozess, die Welt, die diese Suppe aufruft bis hierher. 

Auf meinem Reis in der Schale winzige weiße Geschwister von ihm, white bait, wie Nudeln mit winzigen Augen, proteinreich, hängen geblieben im Schwarm, in einem Netz, so fein, muss es gewesen sein. Und natürlich, ein wenig Gemüse, eingelegt, wie meistens hier, mit starken Farben versehen, ihre Ursprungsfarbe ausgebleicht darunter, ohne noch etwas mit ihr gemein zu haben. 

Ich sitze zwei Stunden lang am Wasser unter Kiefern, schaue aufs Meer, die Brise leicht, die Wärme warm, und lese. Das. ist der richtige Ort. Für einen  Moment. 

Das Gehen im Sand ist wie die Auffrischung einer ungeheuerlichen Erinnerung.

Zu selten! 

Mai 2024 – Japan im Mai – Notes 2

In Kanazawa. Wir sind mit dem Rad am Fluss entlang gefahren, jetzt schauen wir aus dem Fenster eines Cafés. Rechts von uns sind Wohnhäuser zu sehen, Neubauten, noch nicht lange erschlossen, so scheint es. Wir sind in einem Wohngebiet. Auf der Straßengabelung steht ein kleines torii, ein Tor, das einen Schrein markiert. Ein Mann kommt angelaufen, eine noch leere Einkaufstasche in der Hand. Er macht eine kurze Verbeugung vor dem Tor, bevor er hindurch geht. 

Immer diese kleinen Überraschungen.

In Hiroshima morgens in der Tram keine freundlichen Gesichter, müssen die Jetzt! zum Bahnhof fahren mit ihrem ganzen Gepäck, jetzt?, mitten in der Rush Hour wo wir wie die Zombies, Anzug an Anzug an Kostüm dicht an dicht stehen. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Hiroshima

In der Ausstellung zum Atombomben-Abwurf höre ich Besucher weinen. Ich will auf keinen Fall weinen, es scheint mir wie so oft keine angemessene Reaktion. Ich kann aber auch nicht so ganz anders. 

Irgendwo zwischen den Zitaten von (kurzzeitig) Überlebenden, ein Junge. „Ich war bereit, dem Feind entgegen zu treten“. Das bleibt mir im Gedächtnis. Es ist das einzige Zitat, dass offen patriotisch ist. An diesem Tag waren viele Jugendliche (ab 13) in Gruppen in diesem zentralen Bereich der Stadt unterwegs. Sie sollten als Baustellentrupps dabei helfen, Schneisen zwischen die Häuser zu schlagen, damit das Feuer bei Bombenangriffen nicht so leicht übergreifen kann. Besonders viele junge Menschen sind deshalb an diesem Tag gestorben. 

Auch die Aussage eines Fotografen bleibt haften. Er erzählt, dass er angesichts dessen, was er gesehen hat, als er am Ort des Einschlags ankam, seinen Fotoapparat hoch hielt, aber zunächst nicht fotografieren konnte. Er beschreibt, was er gesehen hat. Es war die Hölle, schließt er. Dann erst. Dann. Hat er angefangen zu fotografieren. Es sind die Bilder, die wir sehen. 

In der zweiten Abteilung des Museums sind an Schautafeln die historischen Abläufe dargestellt. Von den wissenschaftlichen Ursprüngen der Atombombe übers Manhattan Project, die Entscheidung der Amerikaner, die Atombomben zu werfen, bis hin zu den japanischen Bemühungen für Abrüstung und den Bann der Atombombe einzutreten. 

Von der Verbindung zu Deutschland im Nationalsozialismus und dem sehr spezifischen japanischen Faschismus keine Rede. Vielleicht ist es richtig, sich angesichts eines Atombombenabwurfs auf eine Ebene der Grundsätzlichkeit (Frieden, Abrüstung, nie wieder) zu begeben, aber das nicht zu erwähnen, finde ich problematisch. Es kommt einem doch sehr ausdrücklich vor. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Kleidung

Die Kleidung locker, bequem, irgendwie „gesund“, auch hier den Bedürfnissen des Körpers gegenüber zugewandt, sorgend. Leinen- und Baumwollstoffe, Hüte und Schirme, gegen Sonne und Regen. Weite Schnitte, keine Enge für Brust, Taille, Hüfte. Socken und Schuhe mit Platz für Zehen, die Sohlen weich. Das Haar gut geschnitten in klaren Frisuren. Angenehm, praktisch, komfortabel, das ist die Ausrichtung. 

Die Signale der Individualität bei den kichernden Costume Teenies dann ganz anders: Plastik, Synthetik. Die Kleidung als Verkleidung, die Feier des Schrillen, die Lust am skill des Aufbrezelns. Färben, Drehen, Binden der Haare, die Kleidung als Beschäftigung. 

Die Hipster-Jungs gerne cool in Dunkel, interessante, eher kastenartige Designer Schnitte, weite Hosen, dicke Sohlen, gerade Shirts aus dichtem, wertigem Gewebe, Caps und hats. 

Vor allem und zunächst mal: Der Anzug und das Kostüm. 

Die Masse der Angestellten lassen an Kracauer denken. Stumm sitzen und stehen sie in den Ubahnen, jeder in seiner selbst erzeugten Kapsel aus In Ears und Handy und diesem erstaunlich untrüglichen Gefühl für Abstände, eine Verhaltenheit in den Körpern, noch bei höchstem Menschenaufkommen. (Wie die inneren Kämpfe der Angepasstheit aussehen müssen, wie der Körper sich ausufernd Bahn bricht oder zumindest die Fantasie davon, kann man erahnen, wenn man die Frauenabteile in der Ubahn sieht, die zu bestimmten Tageszeiten, erstaunlicherweise nicht nachts, installiert werden. Abends und am Wochenende dann wird der Anzug abgelegt (zur Reinigung gebracht, gebügelt, gehängt?), man kommt zu sich selbst, auch in seiner Kleidung. Die Tracht, der Kimono bei Frauen wie Männern durchaus beliebt und sichtbar. Das Sonntagskleid, die Freizeithose wird gegen das Arbeitskostüm getauscht wie Identitäten, die man sich anziehen kann. Kleidung ist weniger sich ausdrücken als vielmehr Anlegen, Ablegen. Das Kleid macht dich, es ist die Facette deines Ichs, deines Lebens, das jetzt gerade angesagt ist, zu dem du angehalten bist. 

Wie man sich vorstellen kann, wie sie gestern Abend noch in der Izakaya saßen, in Chinos und Sneakern oder locker fallenden Sommer-Hängern, und mit ihren Freunden gelacht, getrunken, gesprochen,  gegessen haben. Nun stehen sie still in ihren eng anliegenden Anzügen, stecken in ihren taillierten Kostümen, auf dem Weg zur Arbeit. 

Mai 2024 – Japan im Mai – birru

Das Bier ist hier so lecker luftig leicht und wird meist in so hübschen kleinen ladyliken Gläsern serviert, dass ich in den 17 Tagen erstaunlich häufig „birru o kudasai“ bestelle. Wo ich doch Bier gar nicht mag!  

Mai 2024 – Japan im Mai – Taito Store

1

Shibuya. Ich will so ein verdammtes Stofftier aus einem dieser verdammten Kraken-Automaten gewinnen! Crane oder Claw Machine heißen die glaub ich offiziell. Es gibt sie in großen, lauten, mit Neonlicht clean ausgeleuchteten Läden über zwei oder drei Etagen verteilt. Die Stufen zu ihnen sind oft leicht abgeschrägt und mit Metall beschlagen, es ist immer ein bisschen, als betrete man ein Fahrgeschäft auf der Kirmes. Die Musik ist lauter J-Pop. 

Es gibt kleine süße Stofftiere und riesige kuschelige. Die meisten sind, das muss man sagen: krass hässlich. Egal. Ich werfe ein 100 Yen Stück nach dem anderen ein, positioniere den Greifer, ich lass mir Zeit, ich mach das richtig gut, finde ich. Dann drücke ich den Knopf, die Krake fährt nach unten, greift, fährt hoch, das Stofftier schwankt – und fällt zurück ins Weiche, auf seinen Berg an Kumpels, statt runter in die Öffnung, also zu mir. Mir erscheint die Sache aussichtslos. Wie soll das gehen, rein physikalisch, wie viel Geld muss man da reinwerfen, damit da endlich mal was rauskommt? 

Ein Junge, etwa 14, dunkle Jeans und Shirt, die übliche lässige Pony-Frisur, bearbeitet die Maschine ein paar Meter weiter. In der Plexiglas-Vitrine vor ihm eine Horde aus unanständig über- und quer zueinander liegenden riesigen Puh der Bärs. Eine fröhliche Orgie in Knallgelb. Jedesmal, wenn die Krake einen von ihnen bewegt, gehen kleine Rucks durch ihre Formation, liegen sie in neuen Konstellationen beieinander. (Ach, du! auf dich hab ich ja schon von da drüben ein Auge werfen können. Vor fünf Minuten lag ich mit meinen Kopf in deinem Schritt. Wenn du nicht bald mal dein Bein von meinem Gesicht nimmst.) 

Ich versuche es noch einmal mit meinem Bunny, dann gebe ich auf. Als ich mich zum Gehen wende, steht da der Junge vor seiner Maschine und hat einen Puh der Bär in der Hand. Yes! rufe ich, mache beide Daumen hoch und lache. Er ist irre stolz, jubelt jetzt auch, beide Arme hoch, den Puh triumphierend hoch gereckt, wir gehen spontan aufeinander zu und machen High Five. Für einen kurzen Moment spüre ich seine trockene, überraschend kleine Hand. Er sagt irgendwas auf Japanisch, was ich nicht verstehe, ich irgendwas auf Englisch, das er so ungefähr versteht, so von wegen Oh my god, wow, how did you do that? 

Seine Technik bleibt ungeklärt. 

Da geht er hin, der dunkle Teenie-Junge, mit seinem Puh der Bär.

2

In der Nähe der Ueno Station gibt es lange Reihen mit Imbissen, kleinen Shops unter den Ubahnbögen, alles etwas rauer, räudiger, aufregend. Wir essen zwischen Häusern auf Plastikhockern, es gibt mit Käse überbackene Lobsterbeinchen, na sowas. 

Wir bleiben in einer Ausschank-Bar an einer Kreuzung hängen, setzen uns dort an den Tresen. Es ist schon später jetzt, die Läden haben zu, die Restaurants und Bars noch offen. Ein junger Mann  kommt, ich sehe ihn von hinten und schließt die storage Tür zu seinem kleinen Laden wieder auf. Dort liegt ein weißer Stoffbär, groß, den er wohl beim Taito Store ergattert und hier nach Feierabend vorübergehend zwischengelagert hat. Er nimmt ihn und stopft ihn kopfüber in den Rucksack. Geht nicht, zuvor muss er den blauen Bär, den er schon im Rucksack hat herausholen! Was zur Hölle mache ich falsch?! Alle haben Bärchen. Wie schaffen die es, diese Maschinen davon zu überzeugen, ihnen Bärchen zu geben? Und was macht er jetzt damit, schenkt er ihn seiner Freundin, seinem Freund, er dreht sich um, der junge Mann, den dick gefüllten Rucksack mit dem weißen und dem blauen Bär auf dem Rücken, nein, er sieht aus, als habe er Dutzende Bärchen zuhause, eine Sammlung, auf dem Sofa, im Bett, er ist selbst ein Bärchen. Er schließt die storage Tür zu. Jetzt aber wirklich: Feierabend. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Wäscheleine

Die Wäsche wird so akkurat aufgehängt wie ich es noch in keinem Land gesehen habe. Die kleinen Wäscheständer auf Balkonen und Terrassen zeigen eine abstrakte Abfolge an klaren, geometrisch wirkenden Flächen: Shirt, Hose, Handtuch werden an äußeren Enden mit Klammern befestigt und in exakt gleich groß wirkenden Abständen so gerade und straff gehängt, dass man sie durchblättern könnte wie Seiten in einem Buch. 

Das fasziniert mich. Ich kann nicht aufhören auf diese Wäscheständer zu starren. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Was wenn

Was wäre gewesen, wenn ich Ende der Neunziger hier gewesen wäre, als ich begeistert war, von allem, was mit Japan zu tun hatte? Was in den frühen Nullern, als ich Japanisch gelernt habe? Was, wenn ich mit T. hier gewesen wäre? Der Reise haftet etwas Nostalgisches an, als sei ich schon einmal hier gewesen oder als sei sie ein Rückblick auf eine Zeit in meinem Leben oder die Erforschung von etwas Verpasstem. Die ganze Zeit bleibt sie etwas, das endlich gemacht werden musste. 

Zugleich ist es, als fände sie im einzig richtigen Moment statt.

Mai 2024 – Japan im Mai – Pachinko

Ein Blick in eine Pachinko-Halle heilt mich ein für alle Mal von meiner aus der Ferne gepflegten Faszination. Der Anblick ist erschütternd. Zombies sitzen vor Maschinen. Das ist Armut, Elend. Jeder Knopfdruck eine Wiederaufführung von Kapitalismus-Erfahrung. Spielhölle. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Safety

In Shibuya dann zum ersten Mal ein leicht nerviger Durchgeknallter, allerdings der japanisch-sanften, nicht der herben Berlin-Sorte, der unruhig vor sich hin quatscht, zwei Touristinnen anspricht. Wir laufen auf der kleinen ruhigen Straße, statt auf dem schmalen, mit einem Geländer abgegrenzten Gehweg. Dann kommen wir in seinen Fokus. Ich gehe schon in die übliche Berlin-Deckung. In diesem Moment kommt ein Auto langsam von hinten, Safety! ruft er, unser Fehlverhalten kommentierend, Japan is Safety! Er selbst geht quer über die Straße von dannen.

Wie sehr kann man leiden unter der hohen Regulierungsfreude dieser Gesellschaft? Die wir ja gerade mal an der Oberfläche streifen, weil wir nicht hier leben, lieben, arbeiten. Doch auch die Ekstase und das Verbrechen haben in Japan ihren Platz, hier in Shibuya zum Beispiel. 

Diese Orte des Amusements für welche der Freiheit und Regellosigkeit zu halten, ist ein gängiges Missverständnis.

Mai 2024 – Japan im Mai – Code inconnu

Einmal landen wir nach einem Kinobesuch (Toho Cinemas, Godzilla vs Kong, Monstergetöse, beim Abspann bleiben alle sitzen bis noch der letzte Mitwirkende, der letzte Song genannt ist!) in einem Viertel mit meterhohen Bildern von Jungs. Hübschen jungen Jungs, Solo oder Boygroup artig zusammengestellt. Dieselben Exemplare scheinen uns auf den Straßen zu begegnen, sie sitzen in den auffallend vielen Friseur- und Kosmetiksalons, Style, Frisuren, oben an den Wänden und unten in den Straßen identisch, was ist hier los? Wird hier in den Bars hinter den versteckten  Türen, in den ersten Etagen, die man nie auf dem Schirm hat, gesungen, wird sich hier prostituiert oder beides, werden hier Weltstars geboren oder Jungs missbraucht? 

Irgendwo macht ein älterer Typ U einen Antrag, ruft von einem Treppenabsatz herunter, dass er gerne seine Couch mit ihm sharen würde. Dann ein junger japanischer Mann, high?, der zwei junge Frauen anspricht, sie gehen weiter ohne zu antworten, ein älterer japanischer Mann, der eine Weile neben einer jungen Frau hergeht, auf sie einredet. Sie bleibt bei ihrem Tempo, geht Richtung Ubahn. Später sitzt sie in der Bahn uns gegenüber. Sie erinnert mich an eine japanische Emma Stone. Sie isst ein paar Nüsse aus einer kleinen Tüte, steckt sie in die Tasche als die Ubahn losfährt, essen ist in der Ubahn verboten. Was hat sie erlebt, was hat sie gesehen in den letzten Stunden und wohin geht sie jetzt? Ist sie irgendwie als Prostituierte erkennbar, waren die beiden jungen Frauen als solche erkennbar oder sind sie einfach nur junge Frauen, die im und durch den Kontext des Ortes legitimiert angesprochen werden. Ich weiß es nicht. Ich verstehe nichts. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Notes

Yuzu Limonade, unten kleine Stückchen drin, süßer Sirup, aufgegossen auf Eis mit Soda. 

Lemon Sour: Shochu, ein japanisches alkoholisches Getränk, dem Gin nicht unähnlich, auf Eis mit Zitronensaft und Soda. Herrlich

Kleine Spießchen vom Grill, chicken, beef, Schweinebauch, deftiges Fleisch, kein Paradies für Vegetarier. Für mich schon. 

Der Junge in der Tram in Hiroshima, vielleicht elf, Schuluniform, knielange Hosen. Die Schiebermütze keck ins Gesicht geschoben, darunter das dichte lange Manga-Haar. Wie Haar nur so fallen kann, in diesen schwarz-glänzenden spitz zulaufenden Zacken! Ich meine den Wind zu sehen, der im Anime immer weht, um diese Frisuren, diese Figuren lebendig wirken zu lassen, den Glanz zu betonen, der in blauen Streifen auf den schwarzen Farbflächen liegt. Er merkt, dass ich mich  für ihn interessiere, guckt abwesend-überheblich, Model Blick. Ich drücke ab.

Gyoza, Gyoza, Gyoza. Google Translate: Knödel Knödel Knödel

Oktopus-Bällchen im Yoyogi-Park. Calpico dazu. 

Im Zen Garten des Silver Pavillon in Kyoto gehen wir artig mit allen anderen die Wege ab. Vor uns ein junges japanisches Paar im Kimono: Es ist Sonntag. Er die Sonnenbrille cool von den Ohren aus nach hinten in den Nacken gehängt, sie mit Tussi-Täschchen von Gucci. Ich drücke ab. People from behind. 

Der Rausch der Ubahn. Beschallung, freundliche weibliche Stimmen: Stimmen der Information. Es gibt viel zu sagen, Nummern, Strecken, Linien, Richtungen, Stationen. Always at your service, immer auf Nummer sicher. Zurückbleiben. Warten. An der Linie, bis die nächste kommt. Denn die kommt in drei Minuten. Nicht rennen, hechten, drängeln. Durchgehen, weitergehen, aufrücken. Sumimasen. Stimmen der Regulierung auch, was würde Foucault dazu sagen, nicht Barthes. Gleichzeitig: Stille. Es wird nicht gesprochen, gegessen, getrunken, gekichert, gelacht, diskutiert. Jeder schaut in sein Handy (Manga, Baseball), die In Ears drin, die Abstände, auch bei voller und vollster Ubahn, seltsam gewahrt. Wer mit dem Kollegen, der Freundin spricht, tut es leise, verhalten. Einer hört zu, nickt immer. Höflich. Was denkt er sich? Heimlich.  

Grapefruitsaft, mit Soda leicht verdünnt. Auf Eis! 

Die Abwesenheit von Müll auf den Straßen. Bei gleichzeitiger Abwesenheit von Mülltonnen im öffentlichen Raum. Müll wird in einer Plastiktüte gesammelt, die man in der Handtasche bereit hält. Zuhause dann wird er sorgsam getrennt und entsorgt. Bis 8 Uhr morgens müssen die Tüten neben den Häusern auf dafür vorgesehenen Plätzen abgestellt werden, jede Sorte Müll an einem anderen Tag. 

Schirme. Die Läden stellen sie raus, sobald es regnet, stellen sie: Zur Verfügung. Große, durchsichtige Schirme mit festem Griff keine Knirpse, der Wind zu stark? Beim nächsten Laden stellen wir sie einfach wieder ab. Nichts wird nass. Nichts im Laden, nichts in meiner Tasche, ich nicht. Bedürfnisnah, gemeinwohlorientiert, logisch, praktisch. Komfortabel.

Priority Seating in der Ubahn. Nicht: Business class, sondern ausgewiesene Plätze für Alte, Kranke, Schwangere und Menschen mit Kleinkindern. 

Die Zugbegleiter. Stolze Diensthabende in Uniform. Ihre weißen Handschuhe, nun doch Barthes: ein Zeichen. Der Dienst an der Sache, der Dienst an der Allgemeinheit. Eine von ihnen geht durch den Waggon im Shinkansen. Die kleine Drehung am Ende, vor der Abteiltür, uns zugewandt nun, die Schiebermütze auf dem Kopf, das Hemd weiß unter dem dunkelblauen Jackett: Eine kurze Verbeugung, vor uns, den Fahrgästen und weiter, ins nächste Abteil. Hab ich das jetzt richtig gesehen? Die beiden Zugbegleiter, Kollegen, die am Bahnsteig auf den Zug warten, um ihre schicht anzutreten. Wie alle geduldig an der Tür warten, bis alle ausgestiegen sind, die aussteigenden Fahrgäste mit ihrer nickenden Verbeugung grüßen. Wir alle sind hier an einer ehrenwerten Sache beteiligt. 

Ich stelle mir vor. Es muss Spaß machen, für eine Bahn zu arbeiten, die funktioniert. Auf die Sekunde kommt der Zug, auf ein Mü hält er so, dass Wagen 3 vor den Bahnsteigtüren zu Wagen 3 zum Stehen kommt. Alle Türen auf, die Leute in Reihen nach rechts und links raus, dann perlenschnurt sich die Warteschlange auf dem Gleis von links und rechts in den Waggon rein. Wer nicht mehr rein kommt, wartet, als zarter Kopf der nächsten Schlange. 

35 Millionen und ich bin so entspannt.

Der schüchterne junge Sumo-Ringer, der das Mai Tournament gewinnt. Alle seine gestandenen Gegner hat er weggedrückt. Im Fernsehen gibt er ein Interview. Wie funktioniert das bloß, dass diese Haardeckel mit Schlaufe auf ihren Hinterköpfen liegen bleiben. Wie die kleinen Handtücher, die man im Onsen auf dem Kopf balancieren muss und die nicht ins Wasser fallen dürfen.  

Die Toiletten! Wie werde ich sie vermissen. Sie sind sauber, kostenlos und überall, auf jedem UBahnhof, im Konbini, im depaato, im Park, beim Schrein, nie hab ich mich blasentechnisch so entspannt und frei gefühlt, nie zuvor untenrum so sauber. 

Ein Armaturenbrett neben der Toto (das häufigste Modell, diese Firma muss reich sein, wie Roca in Spanien) stellt zur Verfügung: Vogelgezwitscher gegen Geräusche sowie zwei verschiedene Wasserstrahl-Modi, einen für den Po, eine für „die Dame“. Das Icon für den Po ist meist ein sanft gerundetes W, das auf einer kleinen Wal-Fontäne sitzt. Bei der Frauen-Funktion sehen wir die gleiche Fontäne, mit dünneren, dichteren Strichen als sanfter angekündigt und obendrauf sitzt bzw. steht, um nichts Indiskretes abzubilden, eine ganze Dame. Die Stärke des jeweiligen Strahls lässt sich ebenfalls regulieren. Als ich alles zum ersten Mal ausprobiere staune ich, dass der Frauen-Strahl irgendwie verschämt nicht von vorne kommt und sich von seiner Verteilungsarchitektur her im Grunde genauso anfühlt, wie der Po-Strahl. Man muss sich ein bisschen rein lehnen. Toilettenpapier gibt es auch, das darf ins Klo. Toilettenbürsten gibt es im öffentlichen WC nicht. Spült man zweimal nach Number two ist wirklich alles weg, was sich an Schmierigem noch im Becken befunden hat, wie schafft die Toilette das nur?

Das Beste aber: Die Toilettenbrille ist angewärmt. Auch an diesem Ort also kehrt Ruhe ein und wird eine Freundlichkeit anfallenden Bedürfnissen gegenüber eingenommen, die ich erstaunlich finde. Nie war ich so entspannt auf Klo. 

Shibuya Crossing eher eine leicht irritierende Enttäuschung, wo sind die 3D-Werbungen,Japan liegt nicht mehr vorne was den Futurismus angeht, I guess, nicht dass ich je in Singapur oder sowas gewesen wäre. 

Doch dann, beim nächsten Mal, zur Abenddämmerung und in anhängenden und weiteren Gegenden entfaltet sich die Atemlosigkeit: Lichter, Masse, Höhe, Dichte. Die Sound-Kulisse ist gewaltig, die Straße rauscht, wird zum Meer. Man kann sich vorstellen, wie man hier auf- und untergehen kann. Meterhohe Bildschirme auf denen Werbung läuft in Bild und Ton, Protagonistinnen, die von oben mit uns sprechen, lachen, Songs deklamieren und immer wieder dieselben Claims in diese Welt aus Hochhäusern schicken, in die Straßen, über die Kreuzungen. Dann wieder winzige Shops, Bars, räudiger hier, ärmer dort, Ueno Station, jedoch immer noch alles irgendwie geordnet, organisiert, aufgeräumt. Üblich. 

Automaten. Getränkeautomaten mit Limonaden oder Bier (!) oder Cold Coffee-Dosen. Manchmal einer allein, weit und breit sonst nichts, manchmal zwei nebeneinander, Brüder im Geiste, vor einem konbini. Falls der mal geschlossen hat, hat er aber nie. Automaten im Ramen-Restaurant, um die Bestellung abzugeben, Automaten mit Mikrowellengerichten auf dem Campingplatz, falls das Restaurant nicht geöffnet ist. Automaten, Automaten, der Automat charakteristisch im Straßenbild.

Das Thunfisch Nigiri auf dem Fischmarkt – media fat tuna – ist das klarste, rohste und weichste, das ich je gegessen habe. I swear. Noch.nie war ich einem Thunfisch so nah. Sorry. 

Wer sich krank fühlt oder die anderen krank wähnt, trägt Maske. Man sieht sie noch viel. Besonders beim Service Personal. 

Die Autos sind kleine Boxautos, sie passen noch in jede Lücke. Ich muss lachen, wenn ich sie sehe. So eins hätte ich auch gerne. 

Mai 2024 – Japan im Mai – Erstes

Am Flughafen arbeiten wir den üblichen Algorithmus der Ankommenden ab: Geld abheben, Suica Card kaufen, sim-Karte erwerben. 

Hinterm sim-Karten-Tresen zehn junge Menschen auf engem Raum, die bereit sind, uns behilflich zu sein. Personal kommt hier selten in der Einzahl vor.

Vom Flughafen in „die Stadt“, welche Farbe hat Japan? Links und rechts der Keikyo-Line: hell, weiß, grau. Kästchenhäuser, dicht an dicht, erstaunlich kleinteilig, zwischendurch mal was Hohes, selten was Breites, Tausende von Stromleitungen charakteristisch zwischen den Häusern, als hingen sie alle nach einem geheimen Prinzip zusammen, seien ein Organismus, als fütterten sie sich, ein logisches Gewirr aus Nabelschnüren.

Bedienungsanleitungen, Gebrauchsanweisungen, Regelwerke, Verhaltensempfehlungen, Durchsagen. Love it! 

Im Apartment braucht es dann trotzdem einen Moment bis wir die Dusche zum Laufen bekommen. Hot water! in winziger Wanne nach 24 Stunden unterwegs sein. 

Wir wohnen an einem kleinen Kanal. In der Abenddämmerung, wenn die Lichter angehen, stehen die Leute am Bahnübergang. Ein Ozu Film. Männer in Anzügen, Kinder in Schuluniform, junge Leute auf Rädern, Frauen mit Schirmen (Regen, Sonne). 

Alles hat einen anderen pace hier. Ich werde ruhig. 

Im Ramen-Laden verstehen wir: Nichts. Am Automat drücken wir auf Knöpfe mit Zeichen und hoffen das Beste. Das Beste kommt. Wir verstehen nur langsam. Beobachten, gucken ab. Der Mann neben uns holt sich gohan aus einem großen Reiskocher. Aha. Gibts for free. Die Suppe gibts in drei Varianten von thickness. Die Nudeln sind in drei Stärken zu wählen. Auf dem Tisch geheimnisvolle Soßen und Gewürze. Wir probieren uns durch. Japan ist nichts für Vegetarier

Jeder Schritt ein Abenteuer. Gleichzeitig alles total entspannt, schreibe ich nach Hause. 

April 2024 – M im Heim

Jetzt ist es so weit. Alles in allem ein Glück: Eine Entscheidung, nicht generiert durch eine Katastrophe – Sturz, Erkrankung, Infarkt – sondern durch die Einsicht, dass es nicht mehr anders geht. Zwei Infektionen haben dich immobil gemacht. Es war die Entscheidung deines Mannes, der dich seit Jahren pflegt, eine Entscheidung auch über sein Leben. Du triffst lange schon keine Entscheidungen mehr über deins. Ein Platz, überraschend schnell – mit der Unterstützung von anderen, die dich seit Jahren pflegen, deine Situation und die deines Mannes kennen – im nahe gelegenen Wunschheim, also kein Auslagern an einen schwer erreichbaren Ort in irgendeine schlecht beleumundete Einrichtung. 

Als ich komme, sitzt du in einem Rollstuhl am Tisch. Tief gebeugt über einen Teller, in dieser konzentrierten Art essend, die ich schon von dir kenne. Lustvoll im Grunde, das Essen als Attraktion wahrnehmend, als Ereignis. Als Aufgabe, der sich dein Körper noch immer stellt, die er abarbeitet, noch immer wissend, was zu tun ist, wenn da vor einem ein Teller steht. Du willst essen, doch es ist kompliziert, mühsam, mit all den Hürden, die dir das Besteck und deine Hände, knotig und steif, in den kurzen Weg zwischen Teller und Mund legen. Es dauert zu lange, du kannst nicht mehr ganz alleine essen. Du würdest nicht genug Nahrung aufnehmen. 

Dir gegenüber und am Nachbartisch andere Frauen. Ich sehe in ihnen die Entscheidung, die jemand für sie getroffen hat. Mutti muss ins Heim, hat jemand gesagt. Wie allen sieht man auch dir an, wer du mal warst. Noch immer bist. Es lässt sich erahnen, wie du und diese Frauen einmal gewesen sind, wie sie gesprochen, gelacht, gedacht haben könnten. Wie sie aufgestanden sind, von Tischen wie diesen, rasch Dinge geholt und sich wieder gesetzt haben, als wäre es ein Leichtes. Jeden Moment könnte es passieren, denkt man, die Bewegung, die Regung ist aufgehoben in ihren Körpern, die Impulse hängen noch im Raum, als sei die Zeit nur mal kurz um die Ecke gebogen und gleich zurück. Doch es passiert nicht und wird nie mehr passieren. Die Menschen wirken wie aus dem Kontext gerissen, aus ihrem Kontext. Sie sind hier gelandet, auf diesem Planeten, ohne ihr Zutun. Sie sind abgekoppelt von dem, was sie waren und doch ist das, was sie waren, in ihnen und an ihnen noch immer präsent. 

An der Kleidung, den Haaren, diesen äußeren, bei aller Egalisierung durch Alter und Pflege, sich hartnäckig haltenden Signalen von Milieus, Klassen. Man sieht auch, ob es jemanden gibt, der sich neben dem hier arbeitenden Personal noch kümmert. 

Wir schieben dich in dein Zimmer, das ich hell finde, etwas zu laut, aber dich scheint es nicht zu stören. Ich reiche dir Essen. Füttern sagt man nicht. Es geht gut. Man muss sich tief zu dir hinunter beugen, um deine Augen zu sehen. Du schaust nicht zurück. Doch wenn ich lache, lachst du ein bisschen mit. Denn das hast du immer gerne getan, mitgelacht. Es hat bedeutet, dass die Stimmung gut war und hell, dass alles in Ordnung war, was du mochtest. Lachen ist ansteckend, auch das weiß dein Körper noch, in seinen Rudimenten funktionierend bis heute, also ansetzt, zu deinem Lachen. Du bekommst im Gegensatz zu allen anderen hier keine Medikamente. Wie machst du das nur? 

Zufällig kommt der betreuende Arzt. Er untersucht dich nicht, spricht mit deinem Mann, lässt sich von ihm erzählen, wie es dir geht. Ich teile meine Beobachtung, dass du Kontraktionen bekommst, er erklärt, dass das im späten Stadium häufiger wird. Ob man etwas dagegen tun kann, ob er dafür sorgt, ob das Heim dafür sorgt, dass du regelmäßig bewegt wirst, wo du nun viel mehr sitzt und liegst, bleibt offen. 

Als wir gehen, drehe ich mich noch einmal zu dir um. Hinter dir läuft leise das Radio. Es steht auf einer Kommode neben einer Vase mit Trockenblumen, das ist nicht das Schlechteste. So wie du, zumindest temporär, bei meiner Stimme warst, bist du nun bei der Musik des Radios. Du hältst etwas in der Hand, an dem du nesteln, das du berühren kannst. In der Küche klappert Geschirr, man hört die Stimmen der Frauen dort. Es ist schön, wenn was los ist. Doch müde macht es auch. Und wenn es zu viel ist, kann man sich nicht wehren. 

Ich mache ein Foto von dir an diesem Tisch im Heim, wie immer wenn ich gehe mit der leisen Angst, dass es der letzte Anblick ist, den ich von dir haben werde. 

März 2024 – Post its

Die Bücher durchdringen 

durchwandern 

Markierungen setzen 

Kleine Post its 

Unterstreichung Hervorhebung Randbemerkungen

Kringel Verbindungslinie Fragezeichen

Reisen durch Räume, Orte

mit Schildern versehen 

dreidimensional

wissend dass sie vergessen werden

doch für die Dauer

sind sie voller Bedeutung, Anregung 

Dokument 

sagt die Markierung

ich bin da gewesen ich habe das hier gelesen ich habe gedacht

kein Pfad

eine Spur

Februar 2024 – Die Rache

Ich erinnere mich, wie meine Mutter einmal, ich war Ende dreißig und seit längerem mal wieder zu Besuch, sagte: Tja, Ellichen, bald kommst du in die Wechseljahre. 

Wie oft sie, hübsch verpackt, gehässig oder abwertend mir gegenüber war. Für was war das die Rache? Für ihre Enttäuschung?

Februar 2024 – Die einzige Kunst

Es ist etwas an mir 

das die guten Dinge unmöglich macht 

Es liegt an mir nur an mir 

dass die Dinge verbrennen unter meinen Händen

dass sie verdorren

verfallen

verhungern

Das denke ich 

das denken heimlich 

meine Freunde

Es tut mir leid

Ich entschuldige mich

Ich höre nicht auf

die Dinge anzufassen

Es ist die einzige Kunst