Rot lackierte Zehennägel vom Profi. Love that. Nach einer Weile wird’s noch besser, der Lack blättert, findet seine eigene Form: Einer sieht aus wie Hitlers Seitenscheitel, ein anderer wie Chaplins Diktator-Schnurrbart, der dritte macht einen auf Rothko und der vierte entscheidet sich für das allgemein unterschätzte Genre der Reißcollage. Das ist Nail Art, die kriegst du in keinem Studio, das machen Lack und Zeit von ganz alleine.
Monat: Juli 2020
Juli 2020 – in den nächsten Tagen
B. will jetzt endlich mal lernen, wie ein Smartphone funktioniert. Damit er endlich die ganzen Fotos, die mit diesen Dingern zu Tausenden von seinen Enkelkindern gemacht werden, instantan geschickt bekommen und sie wie die anderen Männer auf dem Marktplatz herumzeigen kann. Er kauft sich ein iphone. Er macht zum ersten Mal in seinem Leben ein Selfie. Von sich und M. Cool, sage ich, schick mal. Er geht zu dm, druckt es aus, steckt es in einen Briefumschlag, klebt eine Briefmarke drauf und bringt es zur Post. Dann ruft er mich an, um mir zu sagen, dass was mit der Post kommt. In den nächsten Tagen.
Juli 2020 – mit Analyse
Zu: Ohne Analyse
Nr. 1: Ich staune selbst, aber ich laufe beschwingt die Rolltreppen hinunter, weg von dort, über den Platz und weiter ins Büro. Es ist doch so. Ich hab mich krass was getraut.
Nr. 2: Ich hab zum ersten Mal nicht nur im Kopf gedacht, sondern glasklar erlebt, wie‘s laufen wird, in nächster Zeit. Das war der Auftakt zu einer langen Reihe von Körben, die ich kassieren werde wie unkriegbare Bälle beim Squash, die einem die Zähne ausschlagen.
Nr. 3: Niemand, der gleichaltrig oder jünger ist, begehrt ernsthaft eine Frau in meinem Alter. Das hat nicht einfach was mit Sexismus zu tun, das ist der Lauf der darwinschen Welthormone, die brutalste Angelegenheit von allen, ich nenne das Bio-Sexismus. Jungs kriegen einfach keinen oder nur mit Überbrückungsmethoden mehr hoch, wenn Frauen die 36 überschritten haben und das ist schon richtig hoch gegriffen. Außer die Frauen sind Heidi Klum oder Demi Moore oder sowas. Ich war noch nie hübsch, jetzt bin ich auch noch alt, und das Scham-Level wird jeden Tag höher und belastender. Es wird viele Anläufe und Überredungskünste brauchen, jemanden, den ich mag, davon zu überzeugen, dass man mich mögen kann.
Nr. 4a: Ich weiß, ich sollte etwas anderes sagen. Ich sollte etwas anderes denken. Schon aus feministischen Gründen. Ich sollte denken, Frauen im mittleren Lebensalter sind toll und sexy und überhaupt nicht alt und können jederzeit einen Mann abkriegen, der sie nicht nur respektiert und wertschätzt, sondern auch vögeln will. Tu ich aber nicht.
Nr. 4b: Anscheinend finde ich mich trotz aller von mir selbst überlaut wahrgenommenen Neurosen und Hässlichkeiten im Großen und Ganzen nett und interessant. Wie sonst ist es zu erklären, dass ich so oft erstaunt oder irritiert davon bin, dass es vielen Leuten anders geht. Ich muss mal meine Selbst- und Fremdwahrnehmung auf einen gemeinsamen Nenner bringen.
Nr. 5: Die Welt des Kennenlernens findet nicht analog statt. Wer‘s analog probiert, kommt rüber wie jemand, der eine Motz verkaufen will oder einfach den Schuss nicht gehört hat. Wenn du jemanden abchecken willst, dann geh gefälligst dahin, wo es sich gehört: Ins Internet! Außer im Club, das ist ne Ausnahme, da ist es dann aber auch gleich voll Sex konnotiert, mit Kaffee trinken und irgendwann mal vorsichtig Händchen halten, hält sich da keiner auf.
Nr. 6: Als ich ihm da so frontal ins Gesicht schaue und er krass das Gesicht verzieht und sagt, was er sagt, denke ich: Was für ein Depp. Als mir das vor Monaten mal anders herum passiert ist und mich jemand angesprochen hat (ich hab‘s hier irgendwo notiert), war ich nett zu dem und habe versucht zu signalisieren, dass ich weiß, wie viel Überwindung das kostet und dass ich mich geschmeichelt fühle, auch wenn ich kein Interesse habe.
Nr. 7: Ich finde, es ist nicht leicht, heute ein netter Mann zu sein. Wie soll mans anstellen, mit dem Ansprechen, wenn man unter allen Umständen vermeiden will, den Eindruck eines weiteren predators zu machen, der jede Sekunde sein dick pic rausziehen, sie heimlich auf dem Klo ausspionieren oder ihr mal schnell unter den Rock fotografieren könnte. Deswegen finde ich es sehr nett und genderpolitisch korrekt von mir, dass ich diese Bürde des Ansprechens übernommen habe, und wenn er einigermaßen klug wäre, hätte er das kapieren und mir einen netten Korb geben müssen.
Nr. 8: Ich dachte, er hat mich angeguckt. Ich dachte, er mag mich. War aber alles ganz anders. Einmal mehr bleibt vor allem eins: Irritation darüber, dass ich nicht weiß, wie die Welt funktioniert. Dass ich Menschen und Situationen falsch einschätze.
Nr 9: Ich weiß nicht, ob sich das lohnt. Ich hab vergessen, wofür ich das machen soll. Ich kenne das Bedürfnis, jemanden bei mir und um mich haben zu wollen, jemanden, der ein Ort ist, ein Bezugspunkt, das kenne ich sehr. Aber den Weg dahin, das Spiel, das nötig ist, das macht mir keinen Spaß. Warum also soll ich es spielen. Es fühlt sich nicht an wie ein Spiel, es ist beschissener Ernst, es ist Arbeit, es ist noch was auf der Liste, noch ein Marathon, den man beharrlich und geduldig und mit viel Überwindung gegen Ängste und mit viel Kampfeswillen und Bereitschaft zum Einstecken laufen muss. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis des Spiels ist, dass jemand bleibt, tendiert gegen Null. Aber als ich mir ausgedacht habe, dass der Typ mich mag und ich ihn, und ich ganz aufgeregt wurde, da hab ich T. vergessen. So sehr wie lange nicht.
Juli 2020 – ohne Analyse
Ich sitze in einem Café-Restaurant, das ich wegen seines Trash-Faktors und seines Standorts hoch über der Stadt, gerne mag. Draußen regnet es. Ich tippe ziemlich vertieft irgendwelche Mails und als ich kurz aufsehe, schaut mir ein Typ, der sich an den Nebentisch gesetzt hat, direkt in die Augen. Ich kriege einen Riesenschreck und gucke schnell weg: Shit. Er gefällt mir.
Er wendet sich wieder seinem Kaffee, seinem Handy und seiner Zeitung zu, ich tippe harmlos vor mich hin, schreibe lubdibubarbrueid dihäät und mustere ihn heimlich. Ich bin total aufgeregt, alles pumpt. Kann aber auch sein, dass das vom Filterkaffee kommt, der durch meine Adern fließt.
Er sitzt so in meiner Blickachse, dass ich ihn von der Seite sehen kann. Ich überprüfe in den nächsten 3, 5, 10 Minuten immer wieder, ob er mir wirklich gefällt oder ob es ein Irrtum war. Er dürfte ungefähr mein Alter sein, bisschen jünger vielleicht, der blaue Pulli steht ihm gut, ich mag seine Haare, ich guck mir seine Schuhe an, die Jeans, die er trägt, er macht was, was ich auch gerne mache, hier, in diesem Café sitzen, Kaffee trinken, Zeitung lesen und warten, bis der Regen vorbei ist.
Ich kritzele meine für solche Zwecke von langer Hand vorbereitete und noch nie eingesetzte Mailadresse auf eine Serviette und spiele durch, was ich sagen könnte. Im Kopfkino erzähle ich mir die Geschichte schon mal aus der goldenen Hochzeits-Retrospektive: Und dann hab ich ihm meine Mailadresse auf die Serviette gekritzelt und ihn angequatscht und dann hat er mir geschrieben und wir haben uns für unseren ersten gemeinsamen Kaffee verabredet, natürlich da, wo alles begann, ist ja klar. Könnte funktionieren, das Storytelling ist ja immer wichtig.
Die von langer Hand vorbereitete Serviette finde ich plötzlich blöd. Er rührt sich irgendwie, packt die Zeitung weg, nicht, dass er mir jetzt einfach abhaut. Nein, er scrollt auf dem Handy herum. Der Regen regnet immer noch. Der wäre vielleicht noch ein Aufhänger. Oder die Zeitung, tschuldige, brauchst du die noch. Ich zerknülle die Serviette und werfe sie in meine Tasche, stecke stattdessen einen Stift griffbereit in die Jackentasche, falls ich meine Adresse aufschreiben darf, und die Kaffeequittung, falls er nichts zum Draufschreiben hat. Mit der kann er sich noch einen Refill holen, vielleicht könnte ich daraus einen Witz machen, haha, besser nicht, keine Witze. Ich stehe auf, räume laaangsam meine Sachen zusammen, kontradiktisch zum Pochen.
Plötzlich stehe ich vor seinem Tisch und sage: Hi, ähm, entschuldige, dass ich dich so anspreche, aber ich dachte, ich frag dich einfach mal, ob du vielleicht Lust hast, irgendwann mal einen Kaffee mit mir zu trinken.
Alles rauscht. Er guckt mich an, braucht einen kurzen Moment um die Gesamtsituation zu prozessieren. Dann verzieht er in einer Mischung aus Befremden und Abscheu das Gesicht und sagt:
Ich glaube nicht.
Juli 2020 – Teenage Happiness
In der Tram zwei vielleicht 11jährige Mädchen. Sie sitzen dicht nebeneinander, plappern aufgeregt, durchdrungen von ihrem Abenteuer, allein unterwegs zu sein und sich einen schönen Tag machen zu dürfen. Sie listen auf, was noch alles passieren soll heute. „Und dann“, sagt die eine, am krönenden Ende der Aufzählung angelangt, „gehen wir zu mir und machen dir einen Tik tok Account!“
Juli 2020 – Österreich
Die Kärntner Landschaft irgendwas zwischen Adria und verknöchertem Schwarzwald.
Das Haus funktioniert gut, es bietet Orte und Plätze zwischen denen ich wechseln kann, von hier nach dort und drüben und schon ist alles anders und das Schreiben schreibt sich. Auch weil ich barfuß bin, im hohen, hohen Gras, die Nägel rot lackiert zwischen den Schmetterlingen.
Warum ist nicht immer Sommer.
Juli 2020 – immer dabei
In der U9 sehe ich eine Frau, die ihren polnischen Reisepass rechts auf dem Ohr trägt. Sie hat sich dreimal Tesa um den Kopf gewickelt, damit er hält.
Man kann viel lernen, von den Verrückten.
Juli 2020 – T46
Beim Therapeuten gewesen,
den Therapeuten nicht vorgefunden.
Juni 2020 – negativ
Du bist immer so negativ.
Was soll ich denn sonst sein. Positiv?
Ich bin nicht bereit, mich diesem Sicherheitsrisiko auszusetzen.
Juni 2020 – Kurt und ich
Ich treffe S. auf einer Party. Er macht mir Komplimente für meine hell gefärbten Haare. Grade kürzlich hätte er auf Youtube mal wieder einen Dokfilm über Nirvana gesehen, der hätte die Haare ja auch gerne so getragen. Toll, ich sehe also aus wie Kurt Cobain. Wenn er wenigstens Courtney Love gemeint hätte.
Zuhause gucke ich im Internet. S . hat recht, frisurentechnisch gibt es Ähnlichkeiten zwischen Kurt und mir. Und ich finde, er sieht viel besser aus als Courtney Love. Also gut, ich füge mich in mein Schicksal. Ich hab Haare wie Kurt Cobain.