November 2015 – zwei

Sie hat viel Angst. Vor allem im Dunkeln. Sie will ein gutes Kind sein, aber ihre Enttäuschung und ihre Wut werden immer größer und sie weiß nicht mehr, warum sie noch  länger gut sein soll. Sie muss immer nur warten. Vor dem Lageso, in der Unterkunft. In der nächsten Unterkunft. Die anderen ziehen an ihr vorbei, bei dem geht es schneller, die ist schon in einer Willkommensklasse, warum fangen alle ihr Leben an, nur sie nicht. Sie hat sich das anders vorgestellt, ihr Bruder hat sich das anders vorgestellt, der den Schleppern viel Geld bezahlt hat. Sie ist es nicht gewohnt, schlecht behandelt zu werden, z.B. von der Sozialarbeiterin der Unterkunft, sie ist eine Prinzessin. Sie ist was besonderes, das hat ihre familie ihr gesagt. Sie ist zur Schule gegangen, ein Großstadtkind, sie kann Englisch. Deutsch zu lernen fällt ihr leicht. Es gibt viele Menschen, die ihr helfen, sie in ihre Wohnung aufnehmen, ihr einen Computer schenken, ihr zeigen, wie man die Bibliothek benutzt. Sie ist in Berlin. Gemeldet. Sie kann nicht sehen, dass ihr viel Gutes passiert, dass sie einen Vorsprung hat. Sie weiß es, aber sie kann es nicht fühlen. Sie sagt nicht danke. Die ärztliche Untersuchung ergibt, dass sie volljährig ist. Sie sagt, sie ist 17 gewesen, als sie ankam. Si emag es nicht, eine Identifzierungskarte vorzuzeigen, auf der eine Lüge steht: ihr Geburtsdatum, das die Behörden eingetragen haben. Afghanistan wird demnächst vielleicht als sicheres Herkunftsland eingestuft. Sie  besucht jetzt eine Willkommensklasse, aber das geht nur, weil sich jemand persönlich für sie eingesetzt und die Schule sich bereit erklärt hat.

Er ist aus einer ländlichen Gegend. Er kann kein Englisch, nur Dari. Er lernt zuerst das Alphabet. Dann Deutsch. Aber das ist schwierig für ihn, noch nie hat er einen Fremdsprache gelernt, andere Lernmethoden als zuhause, eine andere Sprachstruktur. Er ist ein junger Mann, Anfang zwanzig, er könnte in Kabul leben, untertauchen in der großen Stadt, die Taliban die seinen Vater ermordet haben, würden ihn dort nicht finden, sagen die Behörden. Noch ist er geduldet. Er darf nicht in Berlin sein, er muss in Brandenburg in der Unterkunft sein. Aber in Berlin sind die Helfer, die Mentoren. Also ist er trotzdem in Berlin. Er geht in eine Hauptschule, weil sich jemand dafür eingesetzt hat, und die Schule ihn genommen hat, aber er wird den Abschluss nicht schaffen, es ist alles zu viel. Die Helfer sind enttäuscht und versuchen es nicht zu sein. Er wird hier geduldet sein, auf lange Zeit. Eine lange Zeit in der er nicht arbeiten darf, in einer brandenburgischen Unterkunft leben soll, und keinen Deutschkurs finanziert bekommt.

Wir schaffen das!

November 2015 – Entscheidungen

BVG-Abo für 2016 kaufen oder nie mehr U-Bahn fahren wegen Terrorangst?

Wegen Terror sterben oder wegen Fahrradunfall?

Einkaufszentren meiden? Supermärkte? Bibiliotheken? Kirchen ist einfach.

Wo würdest du zuschlagen, wenn du Islamist wärst?

T. sagt: Im Berghain.

 

November 2015 – Maki

Ich sehe zu, wie die Sojasauce aus dem Kussmaul des mitgelieferten Plastikfischs in den mit Paprika, Gurke, Kürbis und Spinat gefüllten Maki-Röllchen versickert, als wären es kleine Blumentöpfe.

Der Gartenzaun, der den eingelegten Ingwer und den Wasabi-Tupfen von den Röllchen trennt, ist aus grünem Papier. Die Röllchen schmiegen sich eng aneinander in ihrem Verschlag und wollen auch nicht gerne voneinander lassen, als ich sie eins nach dem anderen, die hintere Reihe von links nach rechts, die vordere von rechts nach links, mit den Stäbchen hochnehme und verputze.

Ich könnte sie auch nach Farben sortiert essen, oder die Reihen abwechseln, aber mir ist nicht danach. Ich will mein Essen mechanisch und effektiv, in der Hoffnung, es könnte sich auf den Rest des Tages und meine Arbeit auswirken.

November 2015 – Paris

Wir würden z.B. in der Weserstraße sitzen, wie wir das manchmal tun, in einer Bar, draußen, weil es noch so schön ist. Ungewöhnlich warm für November.

Wir würden quatschen und lachen und was trinken, eine Zigarette rauchen und uns über die aktuelle Flüchtlingssituation oder die Wohnungssuche oder Beziehungsprobleme unterhalten. Die Passanten würden im Vorbeigehen auf unsere Tische gucken, ab und an würde ein Radfahrer vorbeifahren oder ein Auto versuchen sich in eine Parklücke zu quetschen.

Dann würden drei Leute herbeilaufen, plötzlich, wie aus dem Nichts kommend, und schon wegen ihrer Geschwindigkeit, wegen des Adrenalins, das sie verströmen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und ein absurdes Bild abgeben, denn sie sind mit Maschinengewehren bewaffnet.

Sie würden Allah Akbar brüllen und obwohl sich der ein oder andere hier doch gerade noch eine Zigarette angezündet oder einen Schluck seines Getränks genommen oder einen Satz oder Gedanken noch nicht beendet hat, würde eine ohrenbetäubende Salve an Schüssen aus ihren Gewehren kommen und du würdest den, der dir gegenüber sitzt, aufplatzen und zusammensacken sehen, das gleiche Staunen im Gesicht wie du, der du eine Sekunde später getroffen wirst.

Für einen Moment hast du noch Zeit, alle Angst dieser Welt zu haben, und vielleicht im Abklang sogar noch einen Funken Hass.

Und das war’s.

 

November 2015 – Miranda

Ich war bei Miranda July.

Ich war sogar oben bei ihr, auf dem Podium, um ein Buch signieren zu lassen, das mir gar nicht gehört. Ich bin in der langen Schlange angestanden, um sie zu sehen, um ihr dabei zuzusehen, wie sie in das Buch ihren Namen schreibt. Ich hab sie angeschaut, ein bisschen verstohlen von unten rauf wahrscheinlich, wie das so ist, wenn man jemand gerne anschauen will und es einem peinlich ist, weil es ist wie eine kleine Gier.

Ich hab gestaunt über ihre Schminke, die ihr Gesicht so flächig, präzise und puppenhaft japanisch wirken lässt, über ihre Konzentration und ihre typisch amerikanische Anstrengung mit Leichtigkeit professionell, sprich sozial, sprich witzig zu sein.

Erstaunlich auch: Sie hat dem Typen auf dem Podium, den der Veranstalter ihr als Moderator zur Seite gestellt hat, immer wieder die Handkante gegeben, ihn mehrfach abgewatscht, in einem offensichtlichen Gender-Kontext, anti die männliche Selbstgefälligkeit –  was ich von ihr, trotz ihrer Texte, nicht vermutet hätte.

Und der ganze Laden voll mit Frauen. Frauen auch am Mikro, zu dem man vorlaufen muss, und in das man auf Englisch Fragen stellen muss. Und dann da oben sie. Eine Frau, allen voran. Ein VORBILD. Wann haben wir das zuletzt erlebt. Ich fand’s herrlich.

Die Amerikaner glauben an Vorbilder. Ich hab früher nie daran geglaubt, das liegt an meinem deutschen Autoritätsskeptizismus, heute tu ich das. Es ist gut, sich ab und an eine Frau anzugucken, die vorne oben ist, die Orientierung bietet, Trost, Halt, und ein bisschen Neidpotential, nicht so viel, dass es einen abwürgt, sondern so viel, dass es einen motiviert, und die ein Wissen darüber hat, was und dass es auf dieser Welt als Frau nicht einfach ist. (Zumal wenn man keine Mutter vor der Nase hat, die irgendetwas davon bietet).

Mutter, Schwester, Freundin, Geliebte, Miranda. Komm gut nach Hause! Und es tut mir leid, dass ich auf deine Frage: How are you? vor Aufregung nicht geantwortet habe. I’m good. Thank you.

November 2015 – irre gut

Heute großartiger Text von Rainald Goetz in der FAZ. Genauer: verschriftlichte Rede anlässlich des Georg Büchner Preises.

Einer, der anders als all die anderen immer wieder so wahnsinnig begeistert, wahnsinnig traurig, wahnsinnig wütend ist, über alles, was ihm begegnet.

Ein Brenner, Verbrenner. Einer um den man sich sorgt, aber um den man sich keine Sorgen machen muss, er ist ja am Leben.

Aktuell gehts um Jugend und Altern.

Ich zitiere a:

Diese gigantische Kaputtheit : entsteht aus lauter kleinen schlechten Erfahrungen, die  man dauernd mit sich selbst und anderen macht, und es werden im Lauf des Lebens immer mehr. Das schlimmste an ihnen ist ihre totale Banalität. Das macht sie unerzählbar.

…und b:

Selten wird es gesagt: In welchem Ausmaß die Produktion von Kunst, die ein Element des Ekstatischen braucht, durch das Altern beschädigt, ruiniert, verunmöglicht wird. Das Leben zerstört die innere Stimme.

ich bin mir nicht sicher, ob letzteres auf mich zutrifft, ich hoffe noch immer, meine innere Stimme zu finden, auf dem Weg zu ihr zu sein und ich war ihr als Jugendliche sicher weniger nah als heute. Trotzdem kommt es mir sehr wahr vor, im Allgemeinen.

Der Text, in dem es auch noch um alle möglichen anderen Sachen geht, aber wie immer im Grunde die Frage stellt, wie muss mans machen, damits richtig ist, und geht das überhaupt, endet mit einem Zitat aus dem Song Bologna von Wanda:

Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag AMORE, Amore.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

 

 

November 2015 – Die Merkelisierung des eigenen Gesichts

Interessant, wie man sich altern sieht, im Angesicht der anderen.

Die gleichen stürzenden Falten von den Mundwinkeln zum Kinn, die gleichen, sich langsam tiefer grabenden Linien zwischen Nase und Mundwinkeln, die gleichen, matschigen Lider, die auf den Augen liegenbleiben wie Couch Potatoes auf dem Sofa, und zieht man die Augenbrauen noch so hoch.

Die schlaff werdende Haut am Kinn, die an ruckendes Geflügel denken lässt, die kommaförmigen, wie mit Kohlestift gemalten Schatten, die vom Augenwinkel Richtung Wange zeigen. Die Querfalten auf der Stirn, die Hochfalten zwischen den Brauen, die strahlenförmigen Falten an den Augen.

All das haben wir gemein, Frau Merkel und ich. Aber so ist das eben, denn auch ich erlebe ja schließlich Fukushima und die Flüchtlingskrise, auch ich reibe mich auf an der internationalen Klima- und Finanzpolitik, den Wirkweisen des globalen Kapitalismus, den Terroranschlägen und Korruptionsskandalen, dem NSU Prozess und der NSA Affäre, wenn auch meistens anders.

So kann man ihr zusehen, jeden Tag, in den Nachrichten, der langsamen Merkelisierung des eigenen Gesichts.