Januar 2024 – Jahresanfang

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Das neue Jahr hat begonnen. Ich freu mich drauf. Ich bin ruhig. Zuversichtlich. Ich hab Lust auf dieses Jahr. Ich weiß nicht, woran das liegt. Weihnachten und Silvester haben mich wenig beunruhigt dieses Mal. 

Am Dienstag, den 2. Januar trete ich aus dem Hof (Müll) durch das große Gittertor auf die Straße. Frau L. geht vorbei, ein frohes neues Jahr, wünsche ich ihr. Das wünsche ich auch, sagt sie, vor allem ein gesundes. Da steht sie, in ihrem blauen Anorak. Keinen Zahn hat sie vorne mehr im Mund, außer einen, oben links. Sie ist schlanker geworden, ich weiß nicht, ob das ein gutes Zeichen ist. Ihr Haar ist stumpf, dünn, aber es ist wieder da. Am liebsten würde ich sie umarmen. Wie sie da steht und mir ein gesundes wünscht, weil sie weiß, wie wichtig das ist, weil es das ist, was sie sich wünscht. Ein Impuls in mir schlägt vor, noch etwas zu sagen. Sind sie gut reingekommen oder gar: Wie geht es Ihnen? schießen mir durch den Kopf und für einen Millimoment stehen wir voreinander, bevor wir, bevor ich, nichts sage, und weitergehe mit meinem Großstadtschritt, immer auf der Flucht, immer auf der Jagd, immer im Vorübergehen. 

In meiner Tasche liegt ein Päckchen, eins, das Frau L. früher angenommen hätte, bevor ich die Umleitung in die Filiale eingerichtet habe.

Ich weiß, dass ihr Enkelkind nachts oft weint. 

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Im Hermes Shop der auch nicht mehr ganz so junge Typ mit Knopf im Ohr, ich erinnere mich an Gespräche über seine Schulterverletzung. Auch wir wünschen uns ein frohes neues Jahr. 

Wir plaudern über Wasserkocher (ich gebe gerade einen von wmf zurück), seine Frau wollte einen von Smeg, erzählt er, teuer, und er denkt sich, Ey, isn Wasserkocher, aber: Frauen halt. 

Ich finde, das Jahr fängt gut an. Ich bin im Kontakt, vielleicht immer noch zu erschrocken und in Angst, wenn es passiert, aber im Kontakt. Das freut mich.

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Später schreibe ich spontan eine Liste mit guten Vorsätzen in Anführungszeichen für 2024. 

viel arbeiten

nicht so viel vom Kämpfen reden

viel unterwegs sein

viel in Kontakt treten

weniger motzen und meckern 

November 2023 – Der obdachlose Mann

Der obdachlose Mann ist weg. Ich hoffe so sehr, dass es ihm gut geht. Meine Fantasie reicht von tot (tot wie Herzinfarkt, Corona, totgeschlagen) über: Seine Frau hat ihn zurückgenommen bis: Er hat Hilfe von einer Einrichtung bekommen und jemand hat ihm Wohnung und Arbeit verschafft. Jedes Mal, wenn ich an seinem Platz vorbeigehe, muss ich an ihn denken.

Sein Husten war so schlimm. 

Mai 2021 – Familie

Ich bin ein Eindringling. In eine Welt, die anderen gehört. Allein durch meine Anwesenheit füge ich jemandem Schmerzen zu. An den Wänden Bilder voller Bindung, Liebe, Glück. 

Mai 2021 – Haut und Haar

Da ist ein Mensch in meinem Bett. Er ist nackt, er riecht, er hat Haut und Haar. Das ist unfassbar. Meine Hände wissen nicht, was sie tun sollen. Meine Haut versteht nicht, was passiert. Über zwei Jahre hat mich niemand berührt, geschweige denn geküsst, niemand hat seinen Körper mit meinem in Verbindung bringen wollen. Obendrauf: Über ein Jahr habe ich nicht mal meine Freunde umarmt, mich hinter Masken und Abständen von den anderen abgesondert. Nicht ein einziges Mal bin ich krank gewesen, so abgeschottet und allein im All, weit weg von den Bakto-Viralen-Planeten der anderen. Jetzt die totale Kollision. Die Erfahrung ist nicht wie erwartet sensationell, sondern vor allem irritierend, überfordernd. In der folgenden Woche bekomme ich alles auf einmal: Herpes, Pilze, Erkältungen. 

Ich reagiere nicht so wie ich gedacht hätte. Ich weine nicht. Ich hab nicht das Gefühl des letzten Abschieds, der nun von meiner Seite vollzogenen Trennung, des Betrugs oder Verrats an der Sache, meiner Sache, der Liebe, der Trauer. Es scheint ein Leichtes, es zu überschreiben, nicht mal als ich den Morgenmantel anhabe, den T. mir geschenkt hat, zucke ich mit der Wimper. Dennoch. In den Räumen hängt es schwer. 

April 2021 – Abnahme

Ich bekomme den Anruf an meinem Geburtstag. Ich gehe nicht dran. Ich weiß, was man mir sagen wird. Ich bin glücklich. Am nächsten Tag erst rufe ich zurück. Da ist es noch überwältigend genug. 

November 2020 – verkehrte Welt

Ein junges Mädchen fühlt sich wegen der Corona-Maßnahmen wie Anne Frank. Eingesperrt, als Opfer der Umstände. Eine junge Frau wie Sophie Scholl. Weil sie Widerstand leistet, gegen die Bedrohung durchs Unrechts-Regime. Mir bleibt echt die Spucke weg.

Vielleicht sollten wir uns mal über unser Bildungssystem Sorgen machen.