Komisch, dass man sich plötzlich gezwungen sieht, Werte zu vertreten. Werte, die im Grunde ihres Herzens konservativ sind. Wo man doch immer dachte, Werte sind was für autoritäre Großväter, für CSU-Wähler, Alt-Nazis, Gartenzwerg-Spießer, sprich: für die alte Bundesrepublik. Die es galt, zu überwinden. Die Augen hat man verdreht, im Kollektiv, wenn einer mit Regeln kam, mit Gepflogenheiten, Höflichkeit, Anstand. Dagegen ist man doch angetreten in den 68ern, 70ern, 80ern, das hat man doch in Frage gestellt, von Punk bis Frau, von Hausbesetzer bis Sympathisant, von Hippie bis Öko, dagegen hat man doch rebelliert. Und zwar erfolgreich. Und jetzt sitzt man da, liest die SZ oder guckt CNN oder hört DLR und denkt: Kann sich eigentlich irgendjemand mal benehmen? Hat eigentlich irgendjemand noch einen Funken Anstand im Leib? Ist Lügen und Betrügen und korrupt sein und Hate Speech verbreiten zu den wichtigsten Parametern geworden, um Erfolg zu haben? Um eine Karriere zu haben, um belohnt zu werden, beliebt zu sein, gewählt zu werden, die Geschicke der Welt bestimmen zu können. Liegt das jetzt am Alter oder an den veränderten Verhältnissen, dass ich plötzlich denke, was spricht dagegen, die Kacke von deinem Hund aufzuheben, dich zu entschuldigen, wenn du jemanden anrempelst, die Person, die dich liebt, nicht zu betrügen, deine Steuern zu bezahlen, deine Doktorarbeit nicht zu fälschen oder zu kaufen, sondern dich verdammt nochmal auf deinen Arsch zu setzen und sie selber zu schreiben. Bin ich konservativ, wenn ich finde, dass laisser faire nichts anderes ist als Indifferenz?
Monat: Juli 2017
Juli 2017 – im Kino
T. und ich im Kino.
Ich: Hast Du Dein Handy ausgemacht?
Er: Nee. Falls jemand anruft.
Juli 2017 – RobbyKalleMonteur
Bekomme heute ein Holzbett geliefert. Von einer Firma aus Kreuzberg. Schon gleich als die beiden Monteure durch die Tür kommen, ist klar, wer der böse Monteur und wer der gute Monteur ist. Der böse guckt böse, ist klein, bärtig, hat Tribal-Ohrringe, ein T-Shirt mit einer gefährlichen Band drauf und eine 90er Jugend. Der gute ist groß, schlaksig, hat einen Zurückwerf-Pony, kichert fröhlich und sieht ORIGiNAL aus wie Kalle aus RobbyKallePaul, nur jetzt 50. Er hat auch das gleiche Gemüt wie Kalle. Er freut sich über mein Sch sch an der Wand über dem Bett und als er die alte Ausgabe von Pünktchen und Anton entdeckt, freut er sich gleich noch mehr. Hat bestimmt mal Tischler gelernt oder immer da gejobbt. Die beiden riechen nach Werkstatt, Holz, schon lange bei der Firma und gutem Arbeitsklima. Könnten auch in einer Kita oder einem Schülerhort arbeiten. Oder auf dem Abenteuerpielplatz. Bss bss, mit dem Akku-Schrauber und das Bett steht. Allerliebst. Kreuzberg 80er in the house!
Juli 2017 – Geht gar nicht. Oder?
Ich sitze in der U5. Eine junge Frau kommt rein – ich schätze Roma – eine alte, verknüddelte Motz in der einen Hand, einen leeren Pappbecher in der anderen. Sie beginnt ihre Tour durch den locker gefüllten Wagen, hält jedem der Mitfahrenden murmelnd den Becher unter die Nase. Sie kommt bei zwei Frauen vorbei, beide so Ende zwanzig/Anfang dreißig, leicht angeprollt, groß, blond, lange Haare – vor allem die eine. Als die Frau ihr den Becher hinhält, guckt sie provozierend dumm hinein, als wüsste sie nicht, was der bedeutet, dann ihr ins Gesicht, dazu macht sie eine Handbewegung, die sagt: Gib du mir was, Alte. Sie wiederholt das, sagt: „Fh, nee“, zeigt mit dem Zeigefinger der Frau ins Gesicht, macht wieder die schaufelnde Handbewegung: Gib du mir doch was. Der jungen Frau fällt das Gesicht runter, der Freundin ist es leicht unangenehm, aber nur leicht. Ohne die restlichen Fahrgäste weiter durchzumachen geht die junge Frau mit ihrem Becher zur Tür, sie ist verstört, wütend. Als die Tür bei der nächsten Station aufgeht, schickt sie einen schnellen, lautlosen Fluch in Richtung der Blonden, dann ist sie weg. Die Blonde hat nach einem: „Na, ist doch wahr“, einfach mit der Freundin weitergeredet.
Mein erster Impuls: Geht gar nicht, blöde Nazi-Schlampe – sicher auch durch U5 und prollig-Kontext mit angetriggert. Ich bin kurz davor, was zu sagen, ich finde es demütigend, was sie da macht, finde, sie führt die Frau vor, finde die Handbewegung herabwürdigend, ja rassistisch – sie hat ja nicht mit ihr geredet, sondern ist gleich mal von „die versteht eh kein Deutsch“ ausgegangen, warum eigentlich, wegen des Gemurmels. Aber ich gebe zu: Ich bin auch überrascht, erstaunt, fasziniert.
Ich kenne die Zumutungen der täglichen U-Bahn-Fahrt, die Attacken der Armut, der Krankheit, der Craziness. Ich hab sie voll drauf, die Routine des Abnickens, Wegnickens, höflich Bleibens, obwohl schon der Zehnte sich mir ins Gesicht schiebt. Ich setze mich dem aus. Ich lasse mich beschimpfen, volllabern, vollstinken. Ich bin dazu bereit, immer wieder aufs Neue, ja, ich erwarte von mir, mich dem auszusetzen, mich damit offen und ehrlich zu konfrontieren, nicht die Augen zu verschließen vor den Zuständen dieser Welt. Ich bin dazu bereit, mich jedesmal für einen Moment unangenehm zu fühlen, ein schlechtes Gewissen zu haben. Es kommt mir aufrichtiger vor, hier zu leben, inmitten dieser Zumutungen, als in der Kleinstadt. Es kommt mir anständig vor, mich dem auszusetzen. Mich nicht in einer Blase zu befinden, sondern in der „echten Welt“. Ist das BLÖDSINNIG? „Echte Welt“ ist schließlich global betrachtet äußerst relativ. MASOCHISTISCH? Man könnte sich für sich selbst einen anstrengungsfreieren Alltag wünschen, wär jetzt auch nicht total verboten (macht man ja auch mit Lärm, Hundekot und Luftverschmutzung, alles menschengemacht). Womöglich FRAGWÜRDIG? Man geriert sich als Gutmensch, der doch eigentlich nur sein Umgangslevel damit gefunden hat, auf dem sich nichts verändert, man nichts durchbricht, sich nur die Situation erträglich macht.
Eine Frau kommt rein und will Geld. Das ist ein performativer Akt. Den wir alle kennen. Die Signale sind klar, auch die Armut ist ein Business. Ich bin Teil dieses Aktes. Ich gebe etwas. Oder ich gebe nichts. Das ändert jeweils an der Funktionsweise des Aktes nichts, beides ist Teil seiner Aufführung. Dem Akt eingeschrieben ist die Annahme, dass die Person, die um Geld bittet, arm ist, und die Person, die angesprochen wird, reich oder zumindest im Vergleich mit der um Geld bittenden Person so reich, dass es ihr nicht weh tut, ein paar Münzen zu entbehren, während die bittende Person das Geld zum Überleben braucht. Der Akt wird – wie viele performative Akte – an mich herangetragen. Ich kann ihn mir nicht aussuchen. Ich werde nicht gefragt, ob ich Teil seiner Aufführung sein möchte oder nicht, ich bin es einfach. Die Person, die um Geld bittet, wird aber auch nicht wirklich gefragt, ihr bleibt nichts anderes übrig als den Akt aufzuführen, so zumindest die Annahme. (Daher auch mein Gefühl, sie führt die junge Frau vor: Was soll sie anderes machen, ist für sie doch eh schon demütigend genug, siehe Grundannahme)
Die Reaktion der Frau in der U-Bahn, könnte man als Kommunikationsguerilla bezeichnen (auch wenn die sich im Allgemeinen für andere Kontexte interessiert). Sie hat für einen Moment die Spielregeln nicht befolgt. Sie hat sich neben das Spielfeld gestellt. Sie hat sich verweigert. Sie hat eine festgelegte Struktur, eine Wiederaufführung des Immergleichen, einen institutionalisierten Aktes hinterfragt. Sie hat die Situation umgedreht, die grundlegende Annahme in Frage gestellt. Was, wenn ich gar nicht diejenige bin, die mehr hat als du. Woran machst du das fest, an welchem Signal. Armut ist heute oft unsichtbar. Primark Klamotten kann jeder. Nur weil ich keinen Becher in der Hand habe. In die Hand nehme, auch das ist eine Entscheidung. Vielleicht krieg ich auch Hartz IV. Vielleicht mach ich drei Jobs und hab nicht genug. Was weißt du schon von mir. Mach nicht was aus mir, ohne mich zu fragen. Ich lasse mir nicht deine Aufführung aufdrücken. Du mutest mir etwas zu, das ist dein Recht. Ich grenze mich ab, das ist mein Recht. Rechne nicht mit mir. Rechne nicht mit dem uns verordneten Spiel. Bleib wach.
Unterm Strich, das merkt man schon: Eher garantiert so AfD-Wähler. Hatten die, – ah, nein, die NPD! – nicht mal dieses schöne Plakat: Geld für Oma nicht für Roma. Das Soziale und das Rassistische geht bei denen ja schon immer pervertiert problemlos zusammen.
Trotzdem, alles in allem, zumindest: Anregende Situation.
Juli 2017 – Die Unterhosen
Auf dem Balkon über die Straße weg: Die Unterhosen. Die Unterhosen sind immer nur in Unterhosen. Sie treten ab und an auf den Balkon, gucken nach dem Rechten, dem Wetter und der Katze. Dann gehen sie wieder rein. Die Männerunterhose trägt ausgewaschene Pseudo-Schießer, die Dame Schlabber-Schlüpfer mit Breitseite. Falls es mal Gummi gab, gibt es jetzt keins mehr, das ist in der Waschmaschine zu Kaugummi geworden oder hat sich langsam aufgelöst. Die Katze hat auch schon die Nase voll vom ewigen Anblick der Unterhosen. Sie ist immer auf dem Balkon. Weiter weg kann sie nicht: Vor dem Balkon ist ein Gitternetz, falls sie auf die Idee kommt, sich zu Tode zu stürzen.
Juli 2017 – The Dark Knight Rises
Ich komme nicht aus dem Bett. Die Arme sind zu schwer. Ich schaue eine Comedy Serie. Ich fresse die wie Nutellabrot. Aus meinen Augen läuft dauernd was, das ist gar nicht zu kontrollieren. Ich frage mich, ob heute der Tag ist. An dem ich aussteige. Destruktion und Befreiung sind die Medaille. Ich frage mich, was die Konsequenzen sind. Aus der Erkenntnis, dass. Ich weiß keine Antwort, weder im Großen noch im ganzen Detail. Denn alles hängt ja mit allem zusammen und hat Auswirkungen auf anderes und bedingt sich mit unabsehbaren Folgen, also was soll ich. Da ist er wieder. Der schwarze Ritter. Er war länger nicht da. Überraschend physisch kniet er auf mir, ist vielleicht sogar ich. Mal schauen, wie lange er bleibt. Ein paar Tage werdens wohl sein. T. geht mit mir Kaffee trinken. Meine Augen brennen. Meine Knochen sind erschöpft. Fährt mit mir Auto, das Leben hinter der Scheibe, das ist gut. Legt sich neben mich ins Bett. Das hilft, wenn man krank ist.
Juli 2017 – Halbjahresbilanz
Sehen wir leider keine Möglichkeit. Passt nicht ins Programm (das ich Ihnen anbei zusende). Da hör ich schon die Fragen. Wir denken eher an sowas wie Toni Erdmann. Ist nicht zu finanzieren. Wir suchen was für Weihnachten. Toll, wirklich, genau der Ton, den wir haben wollten. Aber wir brauchen was, was wir das ganze Jahr verkaufen können. Du hast ja im Grunde schon alles. Jetzt nur nochmal ganz anders. Auf das Thema kann ich dann auch einen Promi draufsetzen. Hatten wir schon, guck dir mal Folge XY an. Achsooo – na gut, ich kanns ja mal weitergeben. Echt super Pitch. Aber hast du schon mal überlegt, das wie in dieser australischen Serie zu machen.
Juni 2017 – Valencia
Die Hitze ist wie eine Umarmung. Sie sagt. Es ist nicht so schlimm. Es wiegt nicht so schwer.
T. und ich arbeiten jeden Tag ein bisschen in der Bibliothek. Wir gehen ins Kino, trinken Kaffee, essen, kaufen ein, gehen abends ein Glas Wein trinken. Nach fünf Tagen weiß ich nicht mehr, warum wir nicht einfach hier bleiben.