Ich lese Schlachthof 5. Auf meiner Liste seit ich im zweiten Airbnb-Apartment in Wien (Mai 2022) mehrere englische Vonnegut-Bücher im Regal gesehen habe, ein in den USA offenbar sehr, in Deutschland mehr oder weniger und mir gar nicht bekannter Autor. Obwohl er doch so unbekümmert Ausflüge ins Sci-Fi-Genre gemacht hat. Die junge Besitzerin der Wohnung jedenfalls, eine Amerikanerin in Wien, hatte offensichtlich ein Faible für ihn.
Schlachthof 5 also. ’69 geschrieben, als WK II, von dem Kurt Vonneguts alter ego Billy Pilgrim uns erzählt, schon länger vorbei ist, das Buch den Nerv des Diskurses über den Vietnamkrieg trifft und als Antikriegsbuch in die Literaturgeschichte eingeht. Billy Pilgrim berichtet, wie der Krieg, den er als amerikanischer Soldat und Gefangener in Deutschland erlebt hat, so war und was er aus ihm gemacht hat. Einen kaputten, unter den Eindrücken und Erlebnissen leidenden, belasteten und davon auf alle Zeit geprägten Billy Pilgrim nämlich. Kein Wunder also, dass Billy ein Zeitreisender ist, der uns mitnimmt in seine Vergangenheit, seine Zukunft und immer wieder zurück in seine Gegenwart. Denn überall dort hat der Krieg und alles, was Billy darin gesehen hat und erlitten hat, seine Spuren hinterlassen. Die Bilder, Gedanken und Erinnerungen aus der nicht enden wollenden Hölle, in der es, gerade wenn man denkt, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, immer noch schlimmer kommt, tragen ihn von einer Zeitebene in die andere. In lakonischem Ton beschreibt er, was passiert, sich selbst und seine Zustände. Er ist so geworfen in die Grausamkeiten und Absurditäten des Krieges, dass er darin nicht mehr als Handelnder erscheint, sondern manchmal beinahe drollig und tölpelhaft erscheint. Auch auf den Planeten Tralfamadore nimmt Billy uns mit, wohin er entführt wird, weil die Tralfamadorianer sich für die Spezies Mensch respektive ihren Vertreter Billy interessieren, ihn und die krieführende Menschheit aber mit technokratisch achselzuckendem Fatalismus betrachten, sodass auch diese an ein Delirium oder einen Morphiumtrip erinnernde Parallelwelt ebenfalls nicht wirklich als Entlastungsfantasie für Billy funktioniert.
Hinter der sich selbst nicht besonders ernst nehmenden Figur und dem Irrsinn der Ereignisse sind Billys Schmerz und Verzweiflung die ganze Zeit spürbar, genau wie der Wahnsinn, der Billy angesichts der Erlebnisse zu befallen droht, in den er sich flüchtet oder in den die Morphiumspritze ihn entlässt.
Ein einzelner kurzer Satz zieht sich wie ein Refrain, eine Interpunktion, ein grausames Mantra oder eine Lebensweisheit durch das Buch: So geht das. So it goes im Original. Jedesmal, wenn Billy, so zumindest mein Eindruck, schildert, wie und dass jemand gestorben ist, setzt er am Ende diesen Satz: So geht das.
Nachdem ich das Buch einmal komplett durchgelesen habe, merke ich erst, dass es mich erschüttert hat, vielleicht weil es auf diese seltsam leichte lakonisch-warme Weise die Verzweiflung eines Menschen beschreibt. Ich beginne noch einmal von vorn, um alle So geht das zu zählen. Ungewohnt nerdig für mich, aber es ist mir ein Bedürfnis, das zu tun, keine Ahnung warum. Vielleicht nur, um zu sehen, ob ich recht habe, mit meiner Vermutung, dass jedesmal jemand stirbt und die literarische Technik genauer zu untersuchen, vielleicht, weil ich es als Respekt vor den Toten empfinde, als Respekt auch vor Billy Pilgrim und seinem Autor Kurt Vonnegut, der all diese Totengeschichten gehört und erlebt hat. Ich komme auf 87 So geht das.
87mal kommt in diesem Buch jemand zu Tode. In 10 Kapiteln, auf 200 Seiten. Meistens ist es eine konkrete Person, einige Male sind es abstrakte Mengen wie Bevölkerungen von Städten, zweimal sind es Tiere, einmal ist es Billy selbst, der den „Zustand des Totseins“ dann aber wieder verlässt und überlebt. Einmal ist es Champagner, der nicht mehr blubbert und einmal Wasser, dessen Blasen es nicht mehr an die Oberfläche schaffen. Als an einer Stelle Läuse, Bakterien und Viren sterben, bekommen die kein So geht das. Sein, ja, wie soll man ihn nennen, Kamerad ist so ein fürchterliches Wort, sein Kriegsgefährte auf Zeit, Edward Derby, bekommt gleich 4 So geht das, sein Tod wird im Buch also mehrfach erwähnt. Zu Beginn spricht Billy davon, dass Derbys Tod der Höhepunkt des Buches sein wird, was dann aber nicht der Fall ist, Derby stirbt literarisch genauso brutal lapidar wie tatsächlich, doch die mehrfachen, mit So geht das geadelten Erwähnungen an unterschiedlichen Stellen des Buches verstärken den Eindruck, dass sein Tod für Billy ein ganz besonders schmerzvolles weil so widersinniges Ereignis kurz vor Kriegsende war, in dem der ganze absurde verschwenderische Wahnsinn des massenweisen Sterbens kulminiert.
In der neuen Übersetzung lautet der Satz übrigens: Wie das so geht.
Beim zweiten Lesen begreife ich noch mehr, wie Vonnegut seine Motive benutzt, um Billys unruhige Reise durch seine inneren Zeiten zu erzählen.
Interessant ist, dass ich noch nie davon gehört habe, dass die Deutschen amerikanische und englische Kriegsgefangene hatten. Bin ich die einzige? Ich frage ein bisschen herum, niemand hat davon gehört. Bemerkenswert.
Außerdem interessiert mich die Rezeption des Buches in Deutschland, immerhin geht es um den Bombenangriff auf Dresden, ein hier immer wieder und vor ein paar Jahren nochmal heftig hochgekochtes Thema, ein umstrittener Punkt von links bis extrem rechts, deutscher Opferdiskurs, Wiederaufbau der Frauenkirche, Diskussionen wie das Endes des Krieges zu interpretieren ist, bis heute veranstalten nationalsozialistische Gruppen sogenannten Trauermärsche, in der DDR gab es am Jahrestag kirchlich orientierte Friedensdemonstrationen. In der amerikanischen Lesart ist das Buch 1969 vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs ja eher als Frage an die USA gerichtet, die ihre jungen Männer in einen Krieg geschickt, und ein Massaker angerichtet hat. Auch interessant ist, dass Vonnegut und die Welt damals davon ausgingen, dazu gibt es eine verlegerische Vorbemerkung im Buch, dass in Dresden 135.000 Menschen starben. Heute weiß man, es waren zwischen 22.700 und 25.000. Die hohe sechsstellige Zahl kam nach der Bombardierung durch nationalsozialistische Propaganda in Umlauf.