Gestern war es soweit. 26.11.2018, der Tag an dem zum ersten Mal einer der Giganten der fordistischen Autoindustrie massive Werksschließungen und Stellenabbau damit begründet hat, dass er sich auf die Entwicklung von E-Autos und Autonome Fahrzeugen konzentrieren will, um dem Silicon Valley etwas entgegensetzen zu können. Die Region Lordstown ist damit dem Untergang geweiht. An der Börse sind die General Motors-Aktien in die Höhe geschossen.
Monat: November 2018
November 2018 – FYI
Ich sitze auf einen Kaffee im Fenster bei Balzac Coffee. Neben mir klettert eine junge Frau auf den Barhocker, Anfang 20, schätze ich. Höchstens, vielleicht auch erst 18. Sie ist zierlich, sehr blond und von oben bis unten in Berry-Tönen gekleidet: Hose, Turnschuhe, Pulli. Ihre langen Haare trägt sie offen, das Deckhaar in einem Knoten auf dem Kopf, wie man das gerade häufig sieht. Ihr Gesicht ist hübsch, weich und rund, ein bisschen baby face-mäßig. Sie telefoniert. Es ist voll, Mittagszeit, wir sitzen ziemlich dicht. Ich verstehe jedes Wort.
Sie kommt gerade vom Arzt. Hat sich testen lassen. Sie fände es besser, wenn es wie in den USA wäre, da gibt es zwei Institute, die von den Produzenten anerkannt werden und nicht wie hier, wo jeder Produzent einen anderen Test sehen will, in Budapest gilt was anderes als hier. Sie hat der und der schon Bescheid gesagt, dass sie sich auch testen lässt und dann auch den und den anruft. Das muss schon sein. Chlamydien, Syphilis, Tripper, rattere ich im Kopf durch, das Stichwort Hepatitis fällt, aber ich weiß nicht, ob sie deshalb heute beim Arzt war. Aber mal ehrlich, sagt sie, und wenn man irgendwann HIV kriegt, davon stirbt man heute auch nicht mehr. Dann schreib ich halt ein Buch, sagt sie: über Geschlechtskrankheiten in der Pornobranche. Sie lacht. (Ich bin mal wieder sauertöpfisch davon beeindruckt, wer es alles außer mir schafft, ein Buch zu schreiben.) Es ist besser mit Leuten zu drehen, die sehr viel drehen. Die sind dann ja ständig beim Test. Aber ganz ehrlich, man kann mich ja auch heute anstecken, dann weiß man das bei HIV aber trotzdem erst in acht Wochen oder so. (Blödsinn, denke ich, das geht doch viel schneller mit dem Ergebnis. Ohweia, vielleicht ist sie doch dööfer als ich dachte. Achso, sie meint, weil sie sich alle zwei Monate testen lässt. Ich bin die Doofe.)
Mit irgendeiner Kollegin gibt es Ärger, die ist bitchy, bestimmt, weil sie nicht so oft gebucht wird. Naja, vielleicht gibt sich das, wenn sie mal ihr girlfriend war. Der Produzent hat gefragt, ob sie schon naked attraction gemacht hat oder irgendwelche Tabuthemen hat. Also kein Problem, Naked attraction hat sie schon gemacht und Tabuthemen hat sie keine. – Ich bin irritiert, ist Naked Attraction nicht diese lahme Sendung in der Leute sich nackt daten? Vielleicht hab ichs falsch verstanden. Vielleicht verstehe ich überhaupt alles falsch. Auch den Namen eines Kollegen nennt sie, Ricky Jason, klingt ja erstmal glaubwürdig, aber als ich das später google, finde ich in der Kombination nichts. Rickys gibt’s aber auch eher bei gay porn. Vielleicht ist sie ja schwul oder ein Mann und ich hab auch das nicht kapiert. Haha.
Und die Liebe? Der Arzt ist süß, bei dem sie gerade war. Aber zu dem kommt sie ja immer nur wegen ihren Geschlechtskrankheiten, das wird also auch nichts mehr. Sie lacht.
Wegen der Steuer: Bis dahin hat sie dann eine Adresse in Panama. Von da aus überweist sie ja jetzt schon die Krankenkassenbeiträge. Und der Steuerberater weiß dann ja, wie das geht, dass sie hier keine Steuer bezahlen muss. Dann geht es noch um Mama und was die zu all den praktischen Orga-Dingen so sagt. Die weiß also Bescheid. Ist ja auch das wichtigste, dass man seine Tochter bei ihren Träumen unterstützt.
Ich kann nicht behaupten, dass ich sie mag oder verstehe, aber blöde ist sie nicht, jedenfalls nicht komplett. Sie ist fröhlich, bester Laune und stolz, weil alles so gut läuft. Eine ehrgeizige junge Frau, bereit, ihren Weg zu gehen. Germanys Next Topmodel auf der etwas expliziteren Ebene. Sie hatte keine Lust Bürokauffrau zu werden, wie ihre Mitschülerinnen, sie wollte was Besonderes sein, sie wollte ein aufregendes, ein künstlerisches Leben, sie wollte ins Filmbusiness. I respect that. A girl with a dream. Who am I to judge. Well. Do I respect that? Am I not judging? To be honest: I do. Wär`s mir lieber, sie wäre Bürokauffrau? Und überhaupt: Was geht’s mich an. Jeder kann machen was er will. Ihre Entscheidung. Selbst/bewusst gewählt. Stimmt das? Wählt irgendjemand irgendwas? Wenn ja, warum dann das? Es kümmert mich, weil sie eine Frau ist. Ich will, dass sie versucht, mit was anderem zu punkten als ihrem body sex girl -Ding. Würde es mich auch kümmern, wenn sie ein junger Mann wäre? Ja. Aber bei ihr als Frau kommt noch was dazu. Work your brain, sister. Sonst wird hier nie was anders. Aber vielleicht wird hier ja auch einfach nie was anders. Dann wieder: Eine selbstbewusste, zu ihrer Sexualität und ihrem Beruf stehende Frau. Da kann man doch aus feministischer Sicht nichts sagen. Ist ein Pornodreh Sexualität? Was labert sie großspurig von Panama. Das nervt mich am meisten. Überhaupt dieses big player raushängen lassen, das verstärkt in mir den Eindruck, sie sei Opfer irgendeines Rip-off. Und mal sehen, was sie sagt, wenn sie dann tatsächlich HIV hat, immer noch: daran stirbt man ja nicht? Vielleicht schreibt sie dann in ihrem Buch, dass sie, als sie noch jung und schön war, und voller Hoffnung auf eine große Karriere, und noch kein alter, verbitterter, gebrochener, kranker Ex-Pornostar, in einem Cafe saß, und eine Frau neben ihr saß, von der klar war, dass sie jedes Wort hört, sie aber so getan hat, als wär sie Luft.
November 2018 – Meckerfixierung 4
Maaaann, könnt ihr SZs und FAZs und Tagesspiegels und Zeit Onlines und Spiegel Onlines und wie ihr Qualitätsjournalismuspublikationen alle heißt, nicht mal besser auf eure Rechtschreibung achten? Was in euren Artikeln an Flüchtigkeitsfehlern, grammatikalischen Kuriositäten und falsch geschriebenen Fremdwörtern drin ist, das ist ja der Wahnsinn. Tendenz steigend, so mein Eindruck. Aber auf irgendjemand muss man sich doch rechtschreibmäßig verlassen können. Wenn nicht auf euch, auf wen denn dann? Ich will was Richtiges lesen, wenn ich euch lese. Und wenn ihr keine Lust habt, eure auf dem Handy zusammengehackten Beiträge zu korrigieren, dann jagt doch wenigstens mal eben kurz ne Software drüber, wozu ham wir denn das ganze digitale Zeugs!
November 2018 – Vanille
Ich sitze bei einer Tasse Filterkaffee mit Oma-Milch (Kondens) in der Bäckerei einer Kaufland-Filiale und tippe in meinen Rechner. (Ja, ich komm rum, mein Büro ist die Straße, ich fühl mich wohl im Trash). Ein Mann tritt an die Theke der Bäckerei, Mitte 50, ich sehe ihn zunächst nicht, höre ihn nur: Er schimpft. Dann begreife ich, das ist nur seine Art zu reden. Er stellt wütende, misstrauische Fragen bezüglich der belegten Brötchen und Kuchen. Die Verkäuferin verteidigt sich tapfer, eventuell hat er ne Meise und/oder ist sogar wirklich aggressiv. Man weiß es nicht. Dann verschwindet er. Aus Augen und Ohren. Plötzlich ist er wieder da. Durchquert, ein Tablett mit Kaffee und Kuchen in den Händen, den Cafébereich und setzt sich an den Tisch neben mich. Ich und mein Laptop, ab und zu guckt er ein bisschen rüber. Neugierig. Irgendwann schaue ich zurück, lächle ihn an, und frage: Und, schmeckt der Kuchen? Nä! schimpft er laut und knackig, als hätt er nur drauf gewartet. Oh, sage ich, das ist aber schade. Das ist nur so ein Streuselkuchen, sagt er und schiebt den Kuchen prüfend auf seinem Teller hin und her. Ich dachte, der wär mehr so mit Vanille. Verstehe, sage ich, und nicke. Wollen sie mal probieren?, fragt er. Nein danke, lache ich, aber das ist sehr nett.
Als ich gehe, wünsche ich ihm einen schönen Tag. Da sitzt er. Friedlich und entspannt. Danke, sagt er, für Sie auch, und zum ersten Mal hört es sich nicht an wie geschimpft.
Auf dem Heimweg hab ich das Gefühl, eine gute Tat getan zu haben. Eigentlich wollen doch alle immer nur das eine: Dass jemand nett zu ihnen ist.
Weil im Kuchen einfach nie Vanille ist.
November 2018 – Simulationsarbeit Arbeitssimulation
Es gibt doch unglaublich viele Menschen, die „zusammen mit Freunden eine Idee haben“, „regelmäßig an dieser oder jener Gruppe teilnehmen“, „da gerade so ein Projekt am Laufen haben“ oder „jetzt bei dieser oder jener Organisation mitmachen.“ Sie volunteeren hier, engagieren sich ehrenamtlich dort. Sie gehen in Seminare, Vorträge, Symposien, Workshops. Sie haben Lesegruppen, Diskussionsrunden, Websites, Vereine. Sie demonstrieren, organisieren, kommunizieren, präsentieren. Sie machen Kunst oder Flüchtlinge oder Stadtpolitik oder Lateinamerika oder Fahrrad oder Hausprojekt oder Umwelt oder Kinder. Sie verbringen Zeit damit, machen dabei oft Überstunden, sind in Kontakt miteinander, haben und entwickeln skills, die sie dabei gebrauchen können. Sie machen das, weil sie‘s gut finden. Weil sie das, was sie da machen, interessant, richtig und wichtig finden. Aber das ist nicht ihre Arbeit. Nein. Das ist überhaupt keine Arbeit. Ihre Arbeit ist die, mit der sie Geld verdienen. Diese Arbeit kann bescheuert, belastend, schädlich für uns alle sein oder selbstverwirklichend, identitätsstiftend, kreativ. Von beider Sorte Arbeit können immer mehr Leute nicht mehr leben. Dann beantragen sie Stipendien, Förderungen, Stiftungsgelder und Hartz IV. Ja, man muss schon ganz schön gucken, dass man sich das Arbeiten noch leisten kann. Arbeiten ist Luxus. Man muss sich ganz schön was absparen dafür. Am besten, man hat geerbt oder gewinnt im Lotto. Dann kann man endlich in Ruhe arbeiten.
Was, wenn die Trennung von Arbeit und Lohn in Wahrheit längst vollzogen ist?
Können wir dann nicht auch gleich noch Arbeit und Lohnarbeit voneinander trennen? Dann hätten wir den Quatsch endlich hinter uns. Wir würden Geld verdienen und arbeiten – aber das eine hätte mit dem anderen nichts mehr zu tun.
Aber nein. Die Simulation muss weitergehen.
November 2018 – ein Jahr
Heute ist es ein Jahr her, dass du gegangen bist, mit einer Unbedingtheit und Brutalität, die mich noch immer schockiert.
Die Toten vergessen einen schnell, hab ich neulich irgendwo gelesen. (Eribon, Zitat Genet, wir hätten uns darüber unterhalten). Unsere Körper sind warm, auch wenn du nichts davon abhaben möchtest. Die Kränkung ist noch immer da. Die Schuld, die Irritation, die Freundschaft für dich.
Du hast uns allein gelassen, hast dich getrennt von uns, einen Graben gezogen, der sich nicht überbrücken lässt. Und wir haben das zu akzeptieren.
Wir trinken einen auf dich.
Oktober 2018 – Ich lese
Seit langem mal wieder! Mit Genuss und von vorne bis hinten. Der Raum erscheint mir nicht zu still mit einem Buch in der Hand.
Ivan Krastev: Europadämmerung (Rechtsruck in Europa, wieso weshalb warum, kluges, angenehmes Essay)
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims (mich überzeugende Mischung aus Biographie und Soziologie, ich staune – wie er – darüber, dass er nicht früher darauf gekommen ist, seine Klasse als Prägung zu thematisieren, ich lerne, dass sich die französischen anders als die deutschen Arbeiter als Klasse an und für sich begreifen, dass sie zu Rechtswählern geworden sind, was Eribon im (falschen, wie ich finde) Umkehrschluss dazu veranlasst, sie in eine Linke zurück wünschen und locken zu wollen, die es zurzeit nicht gibt, und die den Fehler macht, die Arbeit selbst nicht infrage zu stellen, geschweige denn den Arbeiter, aber das wird die KI-Entwicklung sowieso von alleine erledigen.
Virginie Despentes: Vernon Subutex (ich breche nach mehr als einem Drittel ab. Die Aneinanderreihung mieser Charaktere, mies ganz sicher nicht im Sinne der Erzählweise, mies in Bezug auf ihre Kälte und Ungerührtheit was Sex, Drogen und Beziehungen angeht, langweilt mich schnell. Was für eine verkommene Brut sie da zeichnet, ihren Freundeskreis womöglich, das glaubt doch kein Mensch, dass das Menschen sind. feministische Macho-Lektüre, wie schon bei ihren Filmen).
Annie Ernaux: Die Jahre. In großen Teilen wunderschönes Buch, das eine Form hat, die mich aufgrund ihrer Tagebuch-Qualitäten sehr anzieht, sowas würde ich auch gerne schreiben, sehr anregend also, trotzdem teilweise so harmonisch und wenig szenisch, dass ich eben doch auch finde, dass hier eine Lehrerin schreibt, damit meine ich, ganz böse, etwas brav geraten. Aber egal. Ich fands toll. Frauen ab 70, wo seid ihr, mehr von euch!
Oktober 2018 – Seinen Käse verdienen
Kürzlich in der U8 (wo sonst?).Ein Obdachloser schlurft durch den Gang, groß, gebeugt, schon etwas älter, mit lauter, schnarrender, dringlich-vorwurfsvoller Stimme bittet er um Geld, was zu essen oder zu trinken auch okay, aber. Leute. Echt jetzt mal. Kann doch nicht sein. Hat denn nicht einer?!
Eine Frau läuft hinter ihm her, tippt ihm auf die Schulter und reicht ihm, als er sich umdreht, eine durchsichtige Plastiktüte mit fünf Schrippen. Der Mann nimmt die Tüte, guckt darauf, reicht sie ihr brüsk zurück und schlurft weiter den Gang hinunter: Brötchen, ihr immer mit euern Brötchen, ich brauch keine Brötchen, was soll ich denn mit Brötchen, wenns wenigstens mal Käse wäre oder sowas, aber Brötchen, nee.