Juni 2024 – Das Symptom

Ich gehe auf meine Haustür zu. Vor mir auf dem Gehweg zwei Frauen, die sich unterhalten, middle aged, also my age, gut aussehend, selbstbewusst, etabliert wirkend – so mein Eindruck aufgrund von Sprache, Kleidung, Kontext und all den anderen, auf irgendeinem unteren Bewusstseins-Level in Sekundenbruchteilen wahrgenommenen und interpretierten, trügerischen ersten Codes. 

Eine der beiden hat einen Hund an der Leine, einen dieser kniehohen Rassehunde mit längerem Fell, nicht zu kraftvoll outdoorig, nicht zu cute, eher so freundlich solide und streichelbar. Und dann diese ganzen Männer 50plus!, sagt die Frau mit Hund gerade zu ihrer Freundin, da haben doch Frauen die Profile geschrieben! Sie bleibt abrupt stehen, die Leine ragt jetzt straff gespannt quer über den Gehweg, weil ihr Hund abrupt gestoppt hat, um die kleine Grünfläche vor meiner Haustür nach Urin, Kot und sonstigen Ausdünstungen anderer Hunde abzuschnüffeln. Auch die Freundin ist stehen geblieben und hört wartend zu, wie die Frau über die Diskrepanz zwischen den durch die Beratung der wahrscheinlich besten Freundin oder gar von Mutti? entstandenen Profilen und den real existierendem Männern beim Date klagt, die sie für so enorm hält, dass man die Profile praktisch als Betrug bezeichnen muss. Einem Betrug, an dem andere Frauen sich auch noch beteiligt haben! 

Ihr Hund wiederum liest derweil in der Grünfläche die Dating-Profile anderer Hunde mit der Nase ab und kommuniziert schließlich in breiter Hocke mit Urin zurück. Ich kann nicht zu meiner Haustür, weil Frauen, Leine, Hund sich davor zu einer Familienaufstellung angeordnet haben, zu der ich nun unfreiwillig dazu gehöre, obwohl ich schon von weitem in ihrer Sichtachse war und meine Absicht durch das Zücken meines klappernden Haustürschlüssels längst klar gemacht habe. Doch die Frau ist zu vertieft in ihre Berichterstattung einerseits und ihre Hundefürsorge andererseits, die den regelmäßigen Besuch von öffentlichen Bedürfnisanstalten, in diesem Falle unserer Grünfläche vorsieht. Weswegen sie auch nichts dabei findet, dass ich dabei zusehe, wie ihr Hund die Pflanzenruinen vor dem Haus, in dem ich ersichtlich wohne, mit seinem ätzenden Urin weiter ruiniert. Die Freundin fällt den Satz: Oh, möchten Sie durch?, über die Szene, um die andere darauf hinzuweisen, dass ich da bin. Was die längst weiß. 

Wir, drei mittelalte Frauen vereint in Traurigkeit und Frustration über das Abhandenkommen von Liebe und Illusionen, warten gemeinsam bis der Hund soweit ist, der nach vollendeter grundehrlicher, beratungsfreier Profilerstellung noch mit den Hinterbeinen zwei schwungvoll kratzende Striche hinter sich ins Gelände setzt, wie eine Unterschrift unter ein Gemälde oder eine Geste des Dirigenten am Ende der Partitur. 

Der Weg wird frei, ich stecke den Schlüssel ins Schloss und kann nicht umhin zu denken: Der Hund ist das Symptom der Frau. 

April 2024 – Im Zug mit schöner Mutter

Ich fahre nach Süddeutschland. Ich freue mich sehr auf die Zugfahrt, ich werde schreiben! Im Zug schreiben ist herrlich, taktak taktak, da läufts immer so gut. Ich muss vorankommen außerdem, ein gutes Stück, die Fahrt ist lang, ich hab ne gute Chance, eine große Portion zu schaffen. 

Alles läuft perfekt: Der Zug ist pünktlich, steht auf dem richtigen Gleis, ich entere meinen Waggon: Ruhebereich!, ich hab reserviert, kein Risiko wollte ich eingehen, beim Ticketbuchen waren mir zu viele Männchen angezeigt bei der Belegung, mein Platz ist frei. Ich sitze! Am Gang, so, wie ich es mag. Später vielleicht noch schön ins ICE-Restaurant, aber jetzt erstmal direkt hier den Laptop aufgeklappt, das Dokument geöffnet, die Finger gereckt und gestreckt, die Hände über die Tastatur. In diesem Moment höre ich von hinten Kindergebrüll. Oh nein, denke ich noch, schon nähert sich das Gebrüll unerbittlich und ein Buggy mit einem Zweijährigen, das Gesicht unschön verzerrt vor Wut und Empörung, schiebt sich genau in meine Sichtachse und … hält. Ich stöhne genervt auf, ich kann nicht anders, dem Kind praktisch direkt ins Gesicht. Dahin mein Plan, dahin die Ruhe, dahin die entspannte Zugfahrt und das Aufholen bei der Arbeit. Ich drehe mich um und sehe die Mutter, die versucht das Kind zu beruhigen, das andere, nur wenig ältere Kind, das sie auch noch dabei hat, auf den Platz hinter mir zu hieven, den Buggy zu zu klappen, das restliche Gepäck zu verstauen – und stelle erschrocken fest, dass ich sie kenne. Ich schäme mich fürchterlich. Denn natürlich hat sie mein genervtes Stöhnen gehört. 

Etwas später, als sie sich installiert, das Kind sich beruhigt hat, alle auf Brezeln kauen, Getränke, Spiele, Stofftiere haben, gebe ich mich zu erkennen und wechsele ein paar Worte mit ihr. Natürlich ist sie auch noch eine Freundin von T.. Wir haben uns lange nicht gesehen, außer mal irgendwo kurz grüßend. 

Sie erklärt, sie habe keine Reservierung mehr im Familienabteil bekommen. Es schmerzt mich, dass sie sich quasi entschuldigt, und mein schlechtes Gewissen wird noch größer. Sie fragt mich, ob ich immer noch Drehbücher schreibe. Worüber ich mich im Stillen ärgere. Dann frage ich sie, was sie so gemacht hat. Sie zeigt stumm auf die beiden Kinder. Du liebe Zeit, geht das alles noch peinlicher. Das wird nichts mehr mit uns heute. 

Beim Aussteigen helfe ich ihr. Kind an die Hand, Rucksack auf den Rücken, ist das ein Stress und Geschleppe. Draußen stehen ihre Eltern und holen sie ab. Irgendwann hat sie mir auf einem Festival mal etwas Schönes, fast Zärtliches gesagt. Natürlich unter MDMA-Einfluss. 

Als es vorbei ist, wir uns rasch verabschiedet haben und ich das Gleis hinunter laufe, um den nächsten Zug zu erwischen, stöhne ich nochmal. Diesmal ist es mehr ein Seufzen und geschieht aus anderen Gründen. 

Oktober 2023 – Kreischende Mädchen

Ein Autor aus dem Bekanntenkreis hat ein Sachbuch über Popmusik geschrieben. In einem Absatz über die Beatles erwähnt er im Zusammenhang mit ihren Konzerten die „kreischenden Mädchen” im Publikum. Nach der Lektüre des Manuskripts haben die Lektorinnen ihn um Änderung dieses Ausdrucks gebeten, sie fanden ihn misogyn. Statt „kreischende Mädchen” steht dort jetzt: „jubelnde Menschen”. 

Ich verstehe sehr gut, dass man als Lektorin am Ausdruck „kreischende Mädchen” hängen bleibt. Er macht einen verdächtigen Eindruck. Er wirkt überholt und abwertend. Im Rahmen der Beatles Rezeption ist er in den 60er Jahren aufgetaucht und zu einem nicht mehr hinterfragten Allgemeinplatz geworden, beziehungsweise zu so etwas wie einem stehenden Begriff. Einem Begriff, der versucht hat, ein damals neues, in Zusammenhang mit den Beatles auftretendes Phänomen zu fassen zu kriegen, das die Öffentlichkeit beschäftigt hat. Eine Form spezifisch weiblichen Fantums nämlich, das charakteristisch wurde für die Konzerte der Beatles: Junge Frauen schrieen begeistert und ekstatisch. 

(Wer das Phänomen aufs Maximale reduziert erzählt bekommen möchte, schaut sich E10 von S4 von Mad Men an. Don Draper schenkt seiner Teenager-Tochter Sally, eine von vielen großartig erzählten Frauenfiguren der Serie, ein Ticket für ein Beatles Konzert: Watch her reaction!)

Sie fügten dem Konzert vom ersten bis zum letzten Moment ihren eigenen unüberhörbaren Soundtrack hinzu. Auf jeder Live-Platte der Beatles haben diese weiblichen Fans sich verewigt, auf jedem Foto von Beatles Konzerten sind sie zu sehen, junge Frauen mit weit aufgerissenen Mündern, eng aneinander gedrängt, ganz vorne an der Bühne, die Haare nass vom Schweiß, die Gesichter verzerrt. Diese jungen Frauen hielten mit der sensuellen Erfahrung, die die Musik, aber auch die physische Anwesenheit und Nähe zu den lange vor dem Konzert von weitem begehrten Musikern nicht hinterm Berg. Sie äußerten sie. Sie äußerten sich! Sie schrieen ihr Erleben, ihre Lust heraus und etablierten eine weibliche Fankultur, die sich an der Ekstase, dem Begehren, dem Gemeinschaftskörper und der Nähe zur Ohnmacht, zum Außer-sich-sein erfreute. Diese Frauen brachten sich lauthals in einen popkulturellen Zusammenhang, sie wurden (von Männern) diskutiert, fasziniert abgebildet und mit den vielen, man kann sagen, üblichen Varianten der Ablehnung bedacht. Man war entsetzt über den Sittenverfall der Frauen (der weibliche Fan als Beinahe-Prostituierte), machte sich lustig über sie, erklärte sie wahlweise für einfältig oder verrückt (Hysterie), und äußerte die Sorge, dass die jungen Frauen mit diesem Verhalten ihre Gesundheit (im Falle von Frauen gerne mit Gebärfähigkeit gleichgesetzt) gefährdeten. Das nützte freilich alles nichts, im Gegenteil, die Beatles betraten die Bühne und zuverlässig kreischten die Mädchen. Sie durch “jubelnde Menschen” zu ersetzen, kommt mir vor, als lösche man sie aus, ihr Begehren, ihre Lust, ihr Beharren auf ihrer Kultur der sinnlichen Erfahrungsäußerung, als lösche man also einmal mehr Frauen aus. 

Zerlegen wir den Ausdruck vorsichtig in seine Einzelteile. Kreischen. Ein Schreien, das ins Schrille geht, ins Misstönige, ein Schreien, das aus dem als normal empfundenen Schreien kippt. Wer kreischt, ist „drüber“, in einer außergewöhnlichen, existentiellen Situation. Kreischen wird spezifisch Frauen zugeschrieben und das lässt sich tatsächlich kritisch betrachten. Über das weibliche Kreischen im Horrorfilm sind Magisterarbeiten geschrieben worden, die Frau als Opfer, als Scream Queen, als Schaulust-Objekt einer durch den bedrohlichen Mann oder „das Wesen“ ausgelösten puren physischen Reaktion. 

Männer kreischen nicht. Sie johlen, grölen, brüllen. Aber kreischen, bewahre, kreischen ist weiblich und welcher Hetero-Mann möchte schon weiblich, sprich: schwul sein. 

Im Englischen liegen schreien und kreischen im Verb „scream“ nah bei einander, möglicherweise hat auch die Übersetzung der screaming girls zu den kreischenden Mädchen beigetragen. Doch kreischen ist etwas anderes als schreien. 

Sollten Frauen also aufhören, sich derartig zu äußern, weil es als „weiblich“ verpönt ist? Oder sollten Jungs ins Kreischen mit einstimmen? 

Menschen zu schreiben statt Mädchen, könnte man gutwillig als Versuch interpretieren, alle mit reinzuholen und zu setzen, dass auch Männer beim Beatles Konzert gekrischen haben. Allein, das haben sie nicht. Sicher wird es den ein oder anderen gegeben haben, aber zum Phänomen hat es nicht gereicht. 

Jubeln, das Verb, das nun im Buch steht, tut man vor Begeisterung. Man jubelt jemandem zu, man bejubelt jemanden, aber mit Sinnlichkeit oder Ekstase hat diese Form der Äußerung wenig zu tun. Es erinnert gar an die „jubelnde Masse“, die wir aus dem politischen Kontext kennen. Gejubelt haben die jungen Frauen auf den Beatles Konzerten nicht.

Mädchen. Früher ging das Wort leichter von der Hand, das Mädchen war deutlich langlebiger als heute. Wer heute Mädchen sagt, und eine Frau ab 16 meint, wird korrigiert: Junge Frau. Das klingt deutlich respektvoller, nimmt die Frau ernst, macht sie nicht klein. Es gab eine Zeit in den Neunzigern da war das Mädchen, genau wie das Girl, das Girlie, etwas positiv besetztes. Mädchen feierten ihr Mädchensein, sie hatten gar keinen Bock darauf, Frauen zu sein und die Erwartungen zu erfüllen, die man an Frauen stellt. Mädchen nahmen sich buchstäblich etwas heraus aus dem Frausein, sie beharrten auf ihrer spezifischen Girl Culture und weigerten sich gleichzeitig – Punk Girl, Riot Girl – ein angepasstes Mädchen zu sein. Sie wollten Mädchen bleiben – wild und gefährlich, so ein Pippi Langstrumpf-Postkartenspruch der Zeit, aber eben auch zart und verletzlich. Irgendwo zwischen Butlers Gender- und Cixous Differenzfeminismus wollten sie nichts Festes sein, sondern, wie man heute sagen würde, etwas Fluides, ein Wesen zwischen den Welten, das sich bewegt und wächst, das nicht angekommen ist, das Röcke tragen und Schlagzeug spielen darf. Begriffe haben ihre Geschichte, ihre Geschichten, ihre Zeit. 

Vielleicht hätte man eine andere Umschreibung finden können – ekstatisch schreiende junge Frauen? Vielleicht hätte man die kreischenden Mädchen mit Anführungszeichen versehen, sie als Begriff im Kontext führen können und ihnen eine Fußnote mit Erläuterung zur Geschichte des Ausdrucks und des Phänomens hinzufügen können? Die Entscheidung aus ihnen „jubelnde Menschen” zu machen scheint mir eines der Beispiele zu sein, wo der Versuch, Frauen gerecht oder gerechter zu werden und die Misogynie, die in so vielen Begriffen virulent ist, nicht fortzuschreiben, dazu führt, Frauen zu verleugnen und sie, statt ihre Kultur und ihr Begehren festzuhalten und sichtbar zu machen, erneut ins Unsichtbare der (Pop-)Geschichte verschiebt. 

Es ärgert mich, dass Lektorinnen so etwas tun.