Die Löwin ist ein Wildschwein. Ich bin, wie alle, enttäuscht. So herrlich wärs gewesen. Tagelang noch nämlich, hätte die Löwin die Polizei an der Nase herumgeführt. Sich hinter Mülltonnen, in Parks und auf Bäumen versteckt. Ihre Spuren hinterlassen in Hauseingängen, vor Spätis, in Gartenkolonien. Hier sieht man deutlich, hat sie sich gekratzt, hier hat sie geschlafen, nach Löwinnenart. Bestimmt wäre sie bis Neukölln oder Kreuzberg gekommen. Auf dem Weg hätte sie einen Hund gefressen, einen Dackel. Oder einen Chihuahua. Bestimmt hätte sie ein Kind angefallen oder einen Rentner oder wäre zumindest sehr nahe an einem Spielplatz vorbeigekommen oder direkt vor einem Seniorenheim von einer Bewohnerin mit dem iphone gefilmt worden. Und ganz sicher hätte sie am Ende einem Clan-Chef gehört. Der die ganze Zeit nicht die Eier gehabt hat, den Ausbruch der illegalen Löwin aus seiner dekadenten Luxusvilla der Polizei zu melden. Einer Villa, wie wir gesehen hätten, voller weißer Kunstledersofa-Landschaften und mannshoher Porzellan-Löwinnen und Frauen mit Lippen und Fingernägeln vollgestopft war. Ein Clan-Chef, der endlich in den Knast gekommen wäre, nun absurderweise wegen unangemeldeter und nicht artgerechter Löwinnen-Haltung, nachdem ihm wegen Drogen, Immobilien und Zwangsprostitution jahrelang keiner was anhaben konnte. Bestimmt hätte ein Polizeibeamter am Ende das Feuer auf die Löwin eröffnet und sie erschossen, der Spacko! Intern hätte er dafür eine Urkunde und einen neuen Computer bekommen, aber erstmal hätte er vorübergehend untertauchen müssen. Um Shitstorm und Morddrohungen zu entgehen, weil er das edle Wildtier erledigt hat. Statt den Jäger, plötzlich als Tierversteher erkannt und gefeiert, ranzulassen, der der Raubkatze eine sanfte Betäubungsspritze in den Hintern verpasst hätte, wenn auch nicht aus Johanniskraut-Extrakt wie von anderen Tierverstehern empfohlen. Um die Löwin dann schonend in den Zoo zu transportieren, wo sie glücklich und von den Berlinern in all ihrer schnauzigen Herzlichkeit geliebt, und nach einem Namensvorschlags—Wettbewerb der Morgenpost Leonie genannt, im Eigenuringestank des Löwengeheges bis an ihr Lebensende gelebt hätte und darüber hinaus als Präparat im Naturkundemuseum.
Oder: Es wäre klar geworden, dass die Löwin aufgrund des Klimawandels ihre Heimat verlassen hat und auf der verzweifelten Suche nach Nahrung und einem sicheren Ort, um ihr Kind zu gebären (neues Video enthüllt: Löwin schwanger!), bis nach Deutschland gewandert ist und es sein kann, dass wir uns darauf einstellen müssten, dass sie nicht die letzte gewesen sein wird. Und überhaupt auch möglicherweise der Vater des Kindes noch irgendwo rumläuft!
Egal was, alles wäre besser gewesen als: Ein Wildschwein.
Vor allem für den RBB, der endlich mal alles hätte vergessen können, was ihn in letzter Zeit so belastet hat, der, nicht wie jetzt nur in Ansätzen, sondern Twentyfourseven zu seiner eigentlichen Aufgabe hätte zurückfinden können, der Vor-Ort-Berichterstattung. Im bewährten Konzept von Information als Redundanz, wenn es keine Information gibt, ist das die Information, wenn es keine Geschichte gibt, hätte es eine geben können oder wird es möglicherweise noch eine geben (Wir stehen hier vor dem Baum, auf dem die Löwin zuletzt gesehen worden sein soll.) Wir hätten erleben können, wie Unser-Reporter-vor-Ort, ein junger Mann oder eine junge Frau, bisher beim Sender nicht groß in Erscheinung getreten, nun non stop und live vor der Kamera an den Herausforderungen der erforderlichen Spontaneität wächst, aufblüht geradezu, sympathisch wird in der persönlichen Verausgabung der auch noch nachts und in den frühen Morgenstunden vorgetragenen Berichterstattung, während andere Leute in seinem Alter im Club sind. Der an Orten steht, vor Hintergründen, aus denen jederzeit die Löwin hervorspringen könnte, um den talentierten, sich für uns ins Risiko begebenden Jung-Reporter vor unser aller Augen anzufallen, und der, nach Abklingen der Löwinnen-Geschichte von einem Privatsender zunächst für die Morning-Show, dann für die Kriegsberichterstattung aus einem abendfüllenden Krisengebiet abgeworben werden wird, wie also obendrein noch der Bewährungsprobe eines jungen Menschen und dem Beginn einer wundervollen Karriere beigewohnt haben. Aber nein. Eine schnöde Wildsau musste es sein. Dennoch: Es bleiben Fragen. Warum dauert eine Bildanalyse bei der Berliner Polizei eigentlich so lange? Warum eine Haaranalyse noch länger? CSI, Berlin, hallo! Also wenn die immer so lange brauchen, wenn was wichtig ist, dann gute Nacht. Typisch B. Da macht man doch auch mal Überstunden im Haaranalyse-Raum, wenn was Priorität hat, das kann man ja wohl erwarten, dass sich da mal jemand die Nacht um die Ohren schlägt, sowas ist doch Chefsache!
Ach, seufz.
Und was ist jetzt eigentlich mit dem Wildschwein? Um das kümmert sich natürlich mal wieder keiner. Denn dass das normal ist, kann einem doch auch keiner erzählen, dass die Wildschweine jetzt aussehen wie Löwen.
Na gut.
Dann eben wieder Ukraine und Ampel.