November 2025 – Vorfahrt

Ich gehe frühmorgens die Linienstraße entlang, auf dem Weg zu einem Termin und denke über etwas nach, was mich in letzter Zeit in verschiedenen Verkehrssituationen beschäftigt hat: Wenn ich als Fußgängerin eine Nebenstraße überquere, müssen mich von der Hauptstraße abbiegende Verkehrsteilnehmer vorlassen? Ich frage Chat. Chat sagt zu meinem Erstaunen Ja.

Ich weiß, dass ich das so in der Fahrschule gelernt habe, aber das ist lange her und ich dachte, es sei vielleicht irgendwie veraltet, denn: In ganz Berlin. Macht das kein Mensch. Nie. Nie, nie, niemals, alle Autofahrer und Radlerinnen biegen in die Nebenstraßen ein, selbstverständlich davon ausgehend, dass sie Vorfahrt haben. Sie sind ja auf der Straße. Du nur auf dem Gehweg. Auf der Straße wird gefahren, auf dem Gehweg wird gestanden, sie fahren, du guckst dich vorsichtig nach allen Seiten um, bis die Bahn frei ist. Ich schau vom Handy hoch und betrete die Nebenstraße. In diesem Moment zieht ein Mann auf einem Lastenrad mit Kind drin dicht an mir vorbei, so dicht, und mit so hoher Geschwindigkeit, dass ich zurück auf den Gehweg springen muss. Dabei pfeift er. So ein langes Pfeifen, das mich warnen soll.

Nee, schrei ich ihm nach, ich hab hier Vorfahrt, du Arsch! Frag mal Chat GPT!

Das Ganze ist natürlich hochkomisch. Überfahren werden beim Vorfahrtsregeln recherchieren.

Was ich aber gar nicht witzig finde. Das ist das Pfeifen. Das bringt mich noch die ganze restliche Linienstraße entlang zur Weißglut. Ich meine, was bin ich, ein Hund?! Benutz deine Klingel oder ruf Vorsicht, du beschissener Öko-Papi (Vollbart, Helm) mit deinem Macho-Lastenrad-SUV-Gehabe! Kompensier woanders.

Pfeifen, ey, würdeloser gehts echt nicht. Und dann noch von Mann zu Frau.

Aber klar, die kleine Tochter im Lastenrad, die hier gerade gelernt hat, dass man Leute anpfeift, damit man ja nicht die krass hohe Geschwindigkeit drosseln muss, die man so schön drauf hat, und womöglich vorsichtig und defensiv fahren muss wie der letzte Schwächlings-Loser, die muss in die Kita und du in deine Öko-Fabrik.

Wahrscheinlich arbeitest du bei einer NGO, die sich für mehr Radwege einsetzt und wir kennen uns eigentlich irgendwo her.

November 2025 – ups

Die Regierung beschließt die „Aktivrente“: 2000 Euro steuerfrei bekommt, wer nach Renteneintritt weiter arbeitet. Die Aktivrente gilt nicht für Selbständige. Ich rege mich ziemlich darüber auf, bin damit natürlich nicht die einzige, und entdecke kurze Zeit später irgendwo eine Petition gegen diese Regelung. Erwerbstätige zweiter Klasse? lautet der catchy Empörungstitel.

Ich unterschreibe die Petition und schicke sie sogar im Bürokontext (alles Solo-Selbständig auf dem Weg in die Altersarmut) herum. Sowas mach ich höchst selten. Richtig wohl ist mir auch diesmal nicht dabei. Die Petition an sich erscheint mir ein komisch abgekartetes Business, ähnlich der Großdemo und dem Bürgerentscheid und mit ähnlichen Problemen der Unterkomplexität behaftet, sowie der Abhängigkeit von irgendwie unsichtbaren OrganisatorInnen, die es aber braucht, weil die sich damit auskennen, wie man sowas professionell macht und auf die man sich verlassen muss.

Ich werde von den PetitionsbetreiberInnen, die auf Social Media schon recht aktiv zum Thema sind, darüber informiert, dass nun in einem nächsten Schritt alle Abgeordneten befragt wurden, wie sie denn so zur Fragestellung stehen.

Ich klicke auf den Button, der das Parlament abbildet, alle Abgeordneten sind jeweils als kleine leere Kreise markiert. Nur ein erster und einziger Abgeordneter, der offenbar blitzschnell auf die Anfrage reagiert hat, hat sich bisher geäußert, man erkennt es am mit seinem Bild ausgefüllten Kreis. Er unterstützt die Petition. Er gehört zur AfD.

Na toll. My personal Brandmauer, eingerissen von mir selbst. Das wird erstens ne Menge Leute davon abhalten, die Petition zu unterschreiben, zweitens fühlt es sich natürlich gleich mal höchst beunruhigend an, mit der AfD einer Meinung zu sein. Wobei die bei Selbständigen natürlich an den Handwerksbetrieb oder den Sanitärfachhandel denkt und nicht an irgendwelche elenden Kulturarbeiterinnen. Liegts an mir, hab ich was nicht durchdacht, bin ich auf irgendwas reingefallen, sind die PetitionsbetreiberInnen auch aus der Ecke? frage ich mich nervös. Was, wenn die anderen, mit denen ich die Petition geteilt habe, das sehen und sagen, Ey, bist du AfD oder was, machst dich da mit deren Positionen gemein und schickst mir diese rechtsradikale Scheiße auch noch?

So ist sie, die AfD, gewieft und schnell. Position besetzen und schon sind wieder Fische im Netz. Na, seht ihr, ist doch gar nicht so schlimm.

Ist die Position jetzt also nicht mehr beziehbar, kann ich nicht mehr fordern, dass die Aktivrente auch für Selbständige gilt, weil die AfD dieselbe Haltung dazu hat? Sind die Beweggründe, die die AfD hat, eine Position zu vertreten, egal, Hauptsache man bekommt hinten raus das Gesetz, das man haben möchte? Und wenn es dieselben Beweggründe sind, wie hier, ist es dann okayer als wenn nicht?

Here we are, in the middle of dilemma, und das nur Zuhause am Rechner. Und alles bloß, weil ich mal wieder den Fehler begangen hab, meine Bürger-Empörung am Frühstückstisch mit einem Klick auf einen Button in einen demokratischen Mikro-Einsatz zu verwandeln?

November 2025 –  Verlorene Tochter

Ah, die verlorene Tochter, scherzt mein Vater, als ich ihn zum Geburtstag anrufe. Die Umkehrung ist so unverschämt, das Missverständnis so groß, dass es mir wie immer die Sprache verschlägt. 

Im Verlauf des Gesprächs erzähle ich ihm beiläufig, dass ich ihm zweimal eine Mail geschrieben habe, frage, ob ihn die erreicht haben. Nein, das vergisst er immer, dass er das überhaupt hat, das Mail. Aber dann kann er da ja mal wieder reinschauen, meint er. 

Im Hintergrund spricht seine Frau, die er immer mithören lässt, bestätigend mit. Ja, du hast Mail, ja, da guckst du manchmal lange nicht rein, genau, da kannst du ja jetzt mal wieder reingucken.

Ein paar Tage später schreibt er mir tatsächlich zurück. Meine Frage war persönlich, sie bezieht sich auf meine Geburt, die ersten sechs Wochen als Säugling und seine Erinnerungen daran.

Er schreibt mir genau das, was er, in den seltenen Momenten, in denen ich danach gefragt hat, schon immer dazu gesagt hat, was ich also schon immer darüber weiß, und was er nun, so scheint es mir, rasch, im Modus des Erledigens, ohne eine Nuance zu verändern,  wiederholt wie einen erlernten Text. Auch diesmal nichts Neues, nichts Anderes. Nichts Persönliches. Doch genau danach habe ich, meinen Mut zusammen nehmend, in diesen seinen späten Jahren noch einmal zu forschen versucht.

Er reicht mich weiter an seine Frau, weil die, wies der Zufall will, den Namen der Klinik kennt, in der ich geboren wurde. Auch das war eine meiner Fragen. Ich versuche, das Gespräch mit ihr knapp zu halten, doch es kommt, wie es immer kommt, am Ende schildere ich ihr auf ihren Vorschlag hin, die damalige Situation und meine Fragen. Denn, so sagt sie, sie könne ja nochmal mit ihm sprechen, vielleicht bekomme sie ja noch etwas aus ihm heraus. 

Er ist zu diesem Zeitpunkt längst wieder in seinem Zimmer verschwunden. Seine Empfehlung, bevor er das Telefon an seine Frau weitergereicht hat, war, einfach ihr eine Nachricht zu schreiben. Eine Empfehlung, die sie jetzt am Ende unseres Gesprächs noch einmal wiederholt: Ich solle doch einfach ihr texten, dass ich ihm eine Mail schicke, bevor ich ihm eine Mail schicke. Denn sie sei ja immer erreichbar. 

November 2025 – Progress

Mich irritieren die Progress-Erzählungen älter werdender Menschen, die in Artikeln, Literatur oder am Tisch das größer werdende Wissen preisen, die zunehmende Gelassenheit, die wachsende Zufriedenheit. Die den Werdegang als Vorwärtsgang beschreiben, klar gabs mal einen Rückschlag, aber der war eigentlich ein Vorschlag, die den Gleichmut schildern, der die Sorge ablöst, die von der Freiheit sprechen, die Ängste hinter sich zu lassen. Ich begreife das nicht. Mir geht es anders. Ich habe den Eindruck, ich weiß gar nichts mehr, ich verstehe immer weniger. Was ist gut, was schlecht, wie soll man sich verhalten, wie nicht, wer hat recht, wer nicht, was ist wichtig, was nicht, ich habe keine Ahnung. Die Dinge beginnen, sich zu wiederholen, die Ratlosigkeit nimmt nicht ab. Reingehen oder abwarten, weich sein oder hart, offen oder verschlossen, annehmen oder ankämpfen. Nichts wird leichter, alles wird schwerer. Weil die Last größer wird, die sich summiert. Und ich bin müder. Nichts öffnet sich, alles wird enger, nichts wird klarer, alles verschwimmt, wird langweiliger, erschöpfender, sinnloser, egaler. Genau deshalb wächst die Angst. Der Druck. Die Rigorosität.

 

November 2025 – Ich bin CEO

von Sachen schwer machen.

Diesen Satz klaue ich mir von einer GenZ-Vertreterin, die neben mir im Café mit einer Freundin ein intensives Gespräch über Selbsteinschätzung (sie machts sich schwer) und Gefühle in Job, Beziehung, Freundschaft spricht, so schnell, dass ich den Eindruck habe, ein Tiktok-Video zu sehen oder bei Youtube auf dreifache Geschwindigkeit geklickt zu haben.

Love it.

 

November 2025 – Migräne

Mein rechtes Auge tropft. Von innen wird es von kleinen Piranhas angefressen, die drücken gegen das Auge, den Augapfel, sein surrounding, als wollten sie raus. Aber da sind Knochen. Meine ganze rechte Seite druckvoll, die Nase geschwollen, Nasenspray hilft, auch die Nase tropft, die Zähne tun weh, das Zahnfleisch wie geschwollen. Die Kopfhaut, die Haut auf der Stirn, die Augenbrauen, die Nasenwurzel, die Schläfen, haben sich zusammen gezogen, alles hat sich zusammen gezogen, der Schmerz hört nicht auf, nachts nicht, tags nicht, ein hartnäckiges Da, hat sich reingegraben, reingefressen in meinen Schädel, dem man das ansieht. Das Schädelige. Noch einen Tag, noch eine Nacht, noch einen Morgen, bitte geh, geh Jetzt, du stiehlst mir meine Zeit, meine Lebenszeit, die Geräusche zu laut, viel zu laut, die Lichter zu laut, viel zu laut. Was soll man tun, mit all der schlaflosen dumpf brummenden Zeit, ich kann mich nicht konzentrieren, ich bin dumm, in meinem Kopf nimmt der zum Platzen gespannte Ballon zu viel Platz weg, ich gehe spazieren, ich atme. Atme. Atme. Durch die Nase, kalte Luft, ein, durch den Mund, aus. aus aus. Thomapyrin Koffein Paracetamol. Nichts funktioniert so wirklich. Nehm ich zu wenig, nehm ich zu viel, verstärken sie die Übelkeit? 

November 2025 – Vogelkunde 

Früh am morgen, ich liege im Bett. Die Sonne scheint. Durch den Spalt zwischen meinen Vorhängen sehe ich einen winzigen Vogel vor meinem Fenster. Er krallt sich mit seinen Beinchen am Waschbeton meiner Hauswand fest und schaut misstrauisch zu mir herein. Ich wage nicht, mich zu bewegen. Eine Kohlmeise, Leute! Dass sie da ist, ist eine Sensation!

In unserem Hof regieren die Krähen, kein Wildvogel hat sich hier je länger aufgehalten, schon gar nicht wegen ein paar Meisenknödeln oder sonstigen Fütterungsversuchen. Ich beschließe, nachher augenblicklich zu Rossmann zu gehen, und mal wieder zu schauen, was sich in Sachen Vogelfutterentwicklung so getan hat. Dass die Vögel für das bisherige Vogelfutter auch so gar nicht ins Risiko gehen wollten, kann ich verstehen, es sieht mega trocken und langweilig aus und das Fett in den Knödeln wie vom Fettdiscounter, eklig und cheap. Oder mal zu Manufactum?  

Die Meise hängt noch eine Weile am Steinchenuntergrund der Betonwand herum und zeigt mir ihren Bauch. Dann fliegt sie weg. Ich stehe auf und öffne das Fenster, um zu sehen, ob da noch mehr sind oder wo sie hinfliegt oder keine Ahnung warum. Da sehe ich, dass die Fensterbank über die ganze Länge vollgekackt ist. 

Ich überlegs mir nochmal mit dem Anfüttern. 

Am nächsten Abend. Ich trete aus dem Haus, gehe ein paar Meter die Häuser entlang. In einer Einbuchtung zu einem Kellerfenster liegt ein toter Vogel. Es ist eine Kohlmeise. Sie liegt auf der Seite, ihr kleiner Bauch leuchtet gelb. Sie sieht so zart aus. Jemand muss sie vom Asphalt hochgehoben und hier hingelegt haben. Kinder vielleicht?

Neben ihr liegt wie bei einer Trauerfeier ein kleiner Zweig mit hellen trockenen Blüten. 

November 2025 – Geister

Da drüben am Fenster habe ich mit dir gesessen. Ich weiß nicht mehr, wie die Stimmung war. Ich glaube gut. Wir haben geschrieben, wie so oft, jeder für sich, du auf deinem Laptop, ich auf meinem, ihre Rücken haben sich berührt am oberen Rand. Wir haben gegessen, gesprochen. Was soll daran schlecht sein? Heute bin ich alleine da. Es ist viel los. Ich schaue rüber zu dem Tisch. Da sitzt eine Familie. Im Hintergrund sieht man das Riesenrad. 

Immerzu sehe ich Geister. 

Ihr vergesst. Überschreibt. Löscht. Ich sehe Geister. 

Auch dieser Ort ist dein Ort geworden. Dabei war es mal meiner. Ich habe ihn mit dir geteilt. Das war nett von mir. Was gehört mir eigentlich noch? In dieser Stadt? Auf dieser Welt? 

November 2025 – Fashion-Gringe

Weihnachten, Silvester, modetechnisch die schrecklichste Zeit,

auf H&M Plakaten hässliche Glitzer-Jacketts, grüne Samthosen und bordeauxrote Kleider, ansonsten Kuscheljacken aus Teddyfell, Kuschelhosen aus Flanell, Mützen mit Rentieren, Lingerie aus klebriger Kunstseide, das alles wird in den nächsten Wochen die Kleiderständer und Regale der Läden verstopfen, bis es ab Januar endlich interessant wird mit der Wintermode. 

November 2025 – la valise

Im ICE Restaurant stehe ich kurz auf und gehe zur Gepäckablage hinter mir, um etwas aus meinem Koffer zu holen. Der Koffer ist weg. Die Leerstelle, die er hinterlassen hat, verblüfft mich. Für einen Moment füllt mein Hirn sie mit dem vertrauten schwarzen Rollkasten auf, sogar der zuletzt auf Stufe 1 herausgefahrene Griff erscheint deutlich. Dann realisiert es, das Hirn: Die Lücke bleibt. Ich spreche unseren eher unsympathischen Kellner an, der am Tisch hinter mir hantiert. Haben Sie meinen Koffer gesehen? Er schaut auf die Lücke, ebenso irritiert wie ich, und dann zu dem Koffer, der an der anderen Wand der Gepäckablage steht, meinem verschwundenen Koffer quasi gegenüber. Oh nein, sagt der Kellner, jetzt hat der Franzose den falschen Koffer mitgenommen.

Der Franzose. Der Franzose war nur kurz im Restaurant. Ein Mann um die siebzig, der, wie so viele Franzosen, nur Französisch sprach, und ein, zwei Sachen bestellt und rasch verzehrt hat. Er saß mit dem Rücken zu mir. Ich bekomme Panik: Hatten wir einen Halt seit er das Restaurant verlassen hat, ist er mit meinem Koffer ausgestiegen, ich war so vertieft ins Lesen, im Koffer ist mein Laptop, fällt mir siedend heiß ein, wie soll ich die nächsten Tage arbeiten, wegen der Klamotten gehts ja vielleicht, aber mein Schlüssel!?, wie soll ich zuhause reinkommen, ha!, den Schlüssel habe ich vor der Fahrt noch in meine Umhängetasche getan, damit es später vor der Haustür schneller geht, mein Geldbeutel, mein Handy sind zum Glück auch da drin. Der Kellner läuft augenblicklich los, den Gang hinunter, ich ihm nach, verblüfft, dass er das macht, er scannt mit den Augen links rechts die Reihen ab. Ich komme mir ein bisschen dumm vor, ein Abteil, noch ein Abteil, noch ein Abteil, das ist ein langer Zug, der Kellner macht Tempo, ich sehe wenig Aussicht auf Erfolg, ich glaube nicht, dass ich den Mann wieder erkennen würde, und der Zug hält gleich an der nächsten Station, wo ist er bloß hingelaufen, jedenfalls nicht zu seinem Koffer! Ich bleibe bei der Zugbegleiterin stehen, an der wir vorbeikommen, frage, ob sie vielleicht eine Durchsage machen kann. Sie lässt sich nicht beirren bei ihrer Fahrkartenkontrollarbeit, antwortet erstmal gar nicht. Ich beschließe zu warten, was passiert. Irgendwann kommt der Kellner zurück: Er hat’s gemerkt, sagt er, er ist schon auf dem Weg zu Ihnen, er hats selber gemerkt, dass er den falschen Koffer hat, Puh, sage ich erleichtert, da ist mein Laptop drin, Ja, sagt er, kann ich nichts für. Komischer Typ.  

Da kommt der Franzose mit meinem Koffer durch den Gang gewankt, er redet irgendwas auf Französisch, ich verstehe leider nur valise, aber wir freuen uns beide. Wir gehen gemeinsam ins Restaurant zurück. Er nimmt seinen Koffer, (wie man die beiden verwechseln kann, versteht kein Mensch, seiner ist ein ausgemergelter Toplader aus Stoff in Hellgrau.) Ach, was wäre das Ganze doch für ein supernices Meet Cute, wenn er ein bisschen jünger und weniger verpeilt wäre. Er nimmt seinen Koffer, excuséd sich nochmal und haut ab. 

Die vier Männer am Nachbartisch, interessierte, bierstoische Zeugen des ganzen Dramas, sagen, dass sie auch lieber meinen Koffer genommen hätten. Ich bedanke mich nochmal herzlich beim Kellner, den das nicht tangiert, er erwartet ein hohes Trinkgeld, bekommt er auch. 

Ein bisschen, nur ein winziges, bedaure ich, dass ich nun nicht mit dem Koffer des Franzosen nach Hause gehe, also niemals erfahren werde, was da so drin ist. 

Oktober 2025 – Millenial-Party

Eine Millenial Party. Da Oktober ist, ein Motto: Was hat euch gehauntet in den vergangenen Dekaden? 

Auffallend viele dieser Endzwanziger/Anfang Dreißiger kommen als irgendwas mit Internet bzw. Social Media. Als Smartphone zum Beispiel: Ganzkörperpappe um den Hals, oben nur noch ein Akkubalken, (Panik überträgt sich sofort), die Vorderseite übersät mit Apps, die DB-App prominent unten rechts für schnellen Zugriff platziert, was ich witzig finde. (Viele hier kommen aus der Theaterwelt, so die Selbstbeschreibung, die sind ständig unterwegs). Oder als Kommentarspalte: Pappe um den Hals mit einem aus Social Media gezogenem Kommentar (she looks like a girl who acts all sweet but when she gets criticism she goes home and microwaves her hamster; keine Großbuchstaben). Oder mit einer aus zwei Handys gebastelten Brille bzw. Brett vorm Kopf. Dieser Gast allerdings ist kein Millenial mehr, die um den Kopf geschnallten Handys sind aus den zehner Jahren, ein iPhone-Early-Adopter. Auch andere beklagen auf unterschiedliche Weise den Internet- und vor allem den SM-Wahnsinn.

Ich unterhalte mich in der Küche mit einem der Millenial-Gäste darüber, teile meinen Eindruck, dass das Thema hier viele zu haunten scheint. Ja, sagt er, und nickt wissend und ein wenig bekümmert. Ich frage ihn, wo er denn so ist, auf Insta, Tiktok? Insta kannst du vergessen, sagt er fauchend, das ist nur noch Werbung. Also, Selfmarketing, fügt er hinzu und wischt mit seinem Blick über die versammelten Theaterwelt-Angehörigen. Du bist da nicht?, frage ich. Doch, ich war da, super viel, und schon immer noch, hab ständig Stories gepostet, aber … er macht eine wegwerfende Handbewegung. Fragt stattdessen, ob ich bei TikTok bin. Ich hab die App, sage ich. Nutz die aber nur zu Recherchezwecken, wenn ich mal was nachgucken will, wie irgendwas funktioniert. NPCs, Booktok, Tradwives oder sowas. 

Ich erzähle ihm, wie geschockt ich mal über die ersten zehn Vorschläge war, die Tiktok mir nach langer Abwesenheit gemacht hat, und die doch bestimmt voll mein Ding wären und die ich gerne direkt hier mal anklicken könnte. Das Harmloseste waren zwei non-thematische InfluencerInnen, die berühmt waren, weil sie berühmt waren und von denen ich peinlicherweise noch nie gehört hatte, ansonsten Pornos, aber gleich so im Stil von: „cute Dreizehnjährige Höschen“, und so, dass man sich fragt, wieso ist das eigentlich nicht verboten, und dann noch offensichtlich rechte bis rechtsradikale Seiten. Offenbar ist TikTok bei den Vorschlägen davon ausgegangen, ich sei ein durchschnittlicher junger, männlicher Nutzer, den das statistisch erwiesenermaßen brennend interessiert. Er nickt wieder, in dieser Mischung aus bekümmert und wissend. Sagt, er habe sich seinen Algorithmus inzwischen ganz gut zurecht gebaut und erzählt mir, dass TikTok einfach viel schneller ist und viel näher dran als alles andere. Er bezieht seine Informationen und Nachrichten praktisch nur noch von dort. Er beschreibt Videos von ICE-Razzien und -Festnahmen, die man dort so unmittelbar und authentisch verfolgen kann, wie nirgendwo sonst. Oder Videos aus Gaza. Oder aus der Ukraine. Bis das beim 55-jährigen SZ-Redakteur angekommen ist, der das dann eventuell in einem Artikel zwei Wochen später aufgreift, sei alles längst vorbei und die Welt woanders. Gegen Tiktok kann man das echt voll vergessen, schnaubt er und schüttelt den Kopf. Ich nicke, wissend und bekümmert wie er, denn dazugehören will man ja schon.

Dieses Gespräch beschäftigt mich noch länger. Zunächst frage mich natürlich, was er eigentlich dachte, wie alt ich bin. Ich glaube nicht, dass er davon ausgegangen ist, dass ich in etwa so alt bin wie der SZ-Redakteur, (irgendwie hat er mich im Kontext für alt, aber doch ein wenig jünger gehalten, wer lädt auch schon Menschen in Muttis Alter auf seine 30er Party ein), und ich hatte auch überhaupt kein Interesse daran, ihm diesbezüglich reinen Rotwein aus der Toscana einzuschenken, ha ha. Zum einen erfährt man undercover mehr. Vor allem aber hätte ich mich geschämt. Denn immerhin bin ich im selben Alter wie der geschmähte SZ-Redakteur, und deshalb wie ebendieser verdächtig, mich in meiner Dinosaurierhaftigkeit zu suhlen und den Meteoriteneinschlag nicht gehört zu haben. Und da ist ja auch definitiv was dran. Gleichzeitig spüre ich während des Gesprächs Widerspruch im Bauch heranwachsen, getriggert vielleicht einerseits durch die pauschale Abfälligkeit gegenüber dem SZ-Redakteur, mit dem ich mich ja doch vielleicht auf kleiner Flamme identifiziere und solidarisiere. Ich meine, der könnte theoretisch ein Freund von mir sein. Wenn er ein freier, armer Journalist wäre zumindest. Andererseits vielleicht auch durch sein zwar waches und herrlich kategorisches, denn wach und kategorisch ist ja immer catchy, aber wenig durchdachtes Statement.

Hat er Recht damit, dass Tiktoks Unmittelbarkeit und Ungefiltertheit, der Eindruck jetzt und hier dabei zu sein, so viel wahrhaftiger und glaubwürdiger ist als der gediegene Journalismus der deutschen Printmedien. Natürlich ist da was dran, das ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn ich ein verwackeltes Video sehe, auf dem jemand selbst um sein Leben rennend, einen Bombeneinschlag, Tote und Verletzten filmt, um der Welt da draußen zu zeigen, was hier wirklich los ist, dann bin ich natürlich auch von so etwas berührt wie der „Echtheit“ des Moments. Ich verstehe die Verzweiflung und die Wut, die im Auslösen des Bildes steckt, ich sehe den Versuch, mit so einem Clip an den klassischen Medien und ihren Gesetzen vorbeizukommen, eine andere Art von Öffentlichkeit zu erreichen, ein Dokument abzuliefern, vom himmelschreienden Ereignis, einen Beweis, hinter den doch Bitteschön jetzt aber wirklich niemand mehr zurück kann.

Doch zu glauben, dass ein Bild im Kontext von Social Media irgendwie wahrhaftiger ist, immer schon mehr weiß und mehr sagt, als ein SZ-Artikel je sagen könnte, scheint mir fatal. Die Bilder sind gerade auf Social Media nicht unmittelbar, nicht ungefiltert und schon gar nicht unschuldig. Sie sind den Gesetzen der Social Media unterworfen, der immer kürzer werdenden Gewinnspanne zwischen Auftauchen und im Ozean ersaufen. Kaum sind sie hochgeladen, verkommen sie. 

Die Bilder werden gejagt, sie jagen einander, sie jagen uns. Sie werden geliked (!) und geteilt, manchmal werden sie zum Bild der Sekunde. Sie reihen sich ein in Tausende und Abertausende von Bildern. Sie sind banal, weil sie zu ihrer eigenen Banalisierung beitragen. Sie sind obszön, weil sie mit ihrer Unmittelbarkeit um Gewinn buhlen. Sie behaupten Aussagekraft, ohne aussagekräftig zu sein.

Ich bin jedenfalls froh über jeden old school Redakteur, der von einem noch existierenden Printmedien bezahlt wird und sich hinsetzt, um die Bilder anzuhalten, und den Atem, und das alles ein bisschen einordnet. Dass er schlecht recherchiert und niemanden vor Ort interviewt und sich zu fein ist für die Tiktok-Clips, das kann man ihm zu Vorwurf machen, wenn es denn so ist. Aber zu sagen, man könne diese Art von Medialität echt vergessen, weil nur noch Tiktok Wahrheit und Erkenntnis liefere, da geh ich alte weiße Frau echt nicht mit. Abgesehen davon, dass das auch nicht weit weg ist von Lügenpresse. Dem Schlagwort, das ja immer auch die Konkurrenz aufmacht zwischen Boomer-Journalismus und freshem Social Media.

Ist gehauntet sein von Social Media lediglich eine gewinnbringende Akademo-Kunstszene-Behauptung auf der Millenial-Party? Den Pinzipien entgegentreten oder aus ihnen heraustreten, das geht nicht? Nein, irgendwie nicht. Leiden und im Leiden überleben sind eben zwei verschiedene Sachen.

Oktober 2025 – Kontakttasse 

Manchmal gehe ich abends noch in eines dieser Ketten-Cafés, einen angenehmen kleinen Spaziergang weit weg von mir. Man kann dort im Fenster sitzen und auf die Feierabendstimmung schauen, die sich in der jetzt früh beginnenden Dämmerung ausbreitet. Ich trinke eine Tasse heiße Schokolade mit laktosefreier oder Hafermilch, lese ein Buch und daddle auf dem Handy herum. 

In dieser Kette gibt es seit kurzem eine Aktion. Wer mag, bekommt eine andere Sorte Tasse als sonst, eine mit speziellem grünem Design, irgendwelche stilisierten Menschen, die Gruppen bilden oder so. Diese Tasse soll signalisieren, dass man offen und bereit ist für ein Gespräch mit anderen. Das soll gut sein gegen die laut Feuilleton und empirischer Soziologie grassierende Einsamkeit und die (Dating)plattformen, die uns alle quälen, weil das analoge In-Kontakt-Treten quasi zu etwas Pathologischem verkommen ist. Das Café beteiligt sich mit seiner Tassenaktion jedenfalls aktiv an der Lösung dieser gesellschaftlichen Problematik. 

Schon mehrfach habe ich, wenn ich abends da war, von ein und demselben Barista mein Getränk ungefragt eine dieser Kontakttassen bekommen. Ich frage mich natürlich, warum. Denkt er, Alter, die sieht so depri aus, die kann das dringend mal gebrauchen, dass sie jemand anquatscht? Denkt er, wieso ist die immer allein da, die ist doch ganz nett, kann man die nicht mal mit einem der vielen älteren Männer, die hier abends auch immer solo rumsitzen, verkuppeln? Vielleicht spricht sie ja ermutigt durch die Tasse mal einer an, und auch wenn sie vielleicht zuerst gar nicht kapiert, dass es wegen der Tasse ist, die ich ihr untergejubelt habe, kommen sie ins Gespräch und werden ein Paar und ich werde der Initiator von Glück und Liebe gewesen sein und eines Tages zur Hochzeit eingeladen und in gerührten Dankesreden erwähnt werden, als Teil der romantischen, witzigen Kennenlerngeschichte der beiden und darüberhinaus auch noch mit meiner Band gegen Geld auftreten? 

Vielleicht sind die neutralen Tassen aber auch einfach immer nur alle in der Spülmaschine. 

Oktober 2025 – Der Anrufbeantworter

Wenn ich Zuhause anrufe – denn so sagt man, wenn man sich bei den Menschen meldet, bei denen man aufgewachsen ist – und keiner da ist, geht der Anrufbeantworter dran. Dann höre ich die Stimme meiner Mutter.

„Guten Tag“, sagt meine Mutter. „Sie haben den Anschluss von Vorname ihres Mannes und ihr Vorname, gemeinsamer Nachname in Wohnort gewählt: Ziffern der Hauptnummer. Leider sind wir im Moment nicht erreichbar, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton. Vielen Dank.“

Es muss kurz nach der Jahrtausendwende gewesen sein, als sie und ihr Mann, mein Zweitvater, den AB eingerichtet haben. Er löste damals den Anrufbeantworter ab, den sie jahrelang gehabt hatten, Eine Box aus grauem Plastik mit einem Kabel, das in einer sehr speziell aussehenden Schnittstelle in der Steckdose endete,

und einem Lichtpunkt, der blinkte, wenn jemand darauf gesprochen hatte. Sein Nachfolger war kein Apparat mehr, sondern ein digitaler Anrufbeantworter der Telekom, eine Mobilbox.

Sie muss den Text vom Blatt abgelesen haben, so klingt es zumindest. Ihre Stimme ist klar und deutlich. Meine Mutter spricht gut, eine ihrer Stärken. Der Text ist eher nüchtern, neutral gehalten. Wenn ich den Text höre, höre ich noch etwas anderes. Ich höre, wie genervt meine Mutter ist.

Ich kann mir vorstellen, wie es war. Ihr Mann hatte, weil es längst an der Zeit war, einen neuen Telefonvertrag abgeschlossen, der die Einrichtung einer sogenannten Mobilbox erforderte. Ganz einfach sollte das sein, hatte der Telekom-Mitarbeiter im Laden gesagt, und wie immer war es das nicht. Meine Mutter klingt, als hätte sie den Text mehrfach sprechen müssen, bis es geklappt hat. Ihre generelle Frustration über „die Technik“, die nicht funktionieren will, ist ihr anzuhören, vielleicht auch über den Mann, der neben ihr stand, und von dem sie heimlich erwartet hat, von diesen „technischen Dingen“ nicht überfordert zu sein, der es aber war – und ihr sicher dennoch Anweisungen erteilte.

Bestimmt hat ihr Mann, selbst unter Druck, die Anleitung laut vorgelesen, an den entsprechenden Stellen die entsprechenden Dinge eingegeben und ihr mit einer abrupten Geste – Jetzt! – den Hörer gereicht, damit sie den vorher gemeinsam festgelegten Text aufsprechen konnte.

Wieder und wieder hat es nicht geklappt, wieder und wieder hat sie gelesen. Man musste im richtigen Moment reagieren und durfte sich nicht verlesen, und das auffordernde Signal im Hörer, das diesen Moment markierte, verbreitete einen gewissen Bühnendruck. Die Technik, digital genannt und neu, war nichts, was ihr annähernd verständlich war, wie ihr schon das Gerät vorher nicht wirklich verständlich gewesen war, das aber immerhin Knöpfe gehabt hatte und damit ein echtes Gegenüber gewesen war, und keine weltweite Welt, von der nun alle redeten und die ihr ein unsichtbares, unbegreifliches Feenland zu sein schien.

Von Versuch zu Versuch ist sie gereizter geworden, gestresster, denn an ihr: Lags nicht. Womöglich haben sie sich gezankt, die Sache abgebrochen, neu angesetzt. Als es endlich geschafft und der Spruch aufgenommen war, haben sie genommen, was sie hatten, auch wenn es nicht allzu freundlich klang. Es erfüllte seine Funktion. Sie haben die Ansage nie wieder verändert. Über 20 Jahre nicht.

Gleich zu Beginn der Ansage, ein Mü vor dem „Guten Tag“, gibt es diesen kleinen abrupten An-Atmer, der, anders als beim üblichen Anlaufnehmen vor einem Satz etwas tiefer zieht, ein wenig schärfer klingt. Als habe meine Mutter ein kleines, feines ts- davorgestellt, das vom Beginn der Aufnahme abgeschnitten wurde. Das gibt dem „Guten Tag“ einen etwas zu deutlichen, leicht Augen rollenden Einschlag. Dieser gereizte Ton – es sind alles Nuancen, feine Striche auf einer Geige – zieht sich über den nächsten Satz bis zur Telefonnummer, sie spricht ihn dicht, ohne große Pausen, als reiche es jetzt aber auch mal. Zwo, sagt sie bei den Ziffern, statt zwei. Meine Mutter ist Jahrgang 1939.

Das „Leider“ vor „Leider sind wir gerade nicht erreichbar“ kommt noch ein Mü patzig, dann beruhigt sich die Sache. Ihre Stimme entspannt sich, klingt friedlicher, es ist ja auch gleich vorbei. Beim abschließenden „Vielen Dank“ geht ihre Stimme ins Versöhnliche, es ist geschafft und der Mist nun aber auch mal erledigt.

Wie oft habe ich diesen Text gehört? Hunderte Male? Tausend Mal?

Ich habe nicht oft Zuhause angerufen.

Meine Mutter hat eher mich angerufen. Und in den meisten Fällen ist sie auf meinem AB gescheitert. Ich bin nicht drangegangen. Aber manchmal war es an der Zeit und wir haben telefoniert. In meinem Fall – die anderen kann ich nicht beurteilen – lief das so ab: Sie sprach. Sie sprach und sprach. Sie berichtete von Menschen aus der Nachbarschaft, von Verwandten, Freunden oder deren Angehörigen, über Schulabschlüsse, Umzüge, Schwangerschaften, Krankheiten, Todesfälle, von Menschen also, von denen es Neues gab, oder denen irgendetwas widerfahren war, und die ich zum großen Teil nicht kannte. Sie sprach ohne Unterlass, ohne etwas zu fragen und ohne Lücken zu lassen.

Ich probierte herum, was passierte, wenn man aufhörte „Mhm“ oder „Ja“ zu sagen. Meistens merkte sie es lange nicht. Ich dachte darüber nach, das Telefon wegzulegen, das Geschirr zu spülen, aufs Klo zu gehen oder einzukaufen. Ich legte das Telefon weg. Mein Herz klopfte bis zum Hals vor schlechtem Gewissen. Ich nahm das Telefon rasch wieder auf und sie sprach noch immer.

Ich klemmte sie mir ans Ohr und legte zumindest nebenher die Wäsche zusammen, versuchte, ein paar Mails zu erledigen, ging tatsächlich aufs Klo. „Bist du noch da?“, fragte sie, wenn man zu lange ausgesetzt hatte mit dem „Mhm“ und dem „Ja“, oder ihr eine Raumveränderung wie eine technische Störung vorkam.

„Ich bin noch da“, sagte ich artig, ohne zu wissen, ob das stimmte. Sie hatte mich ja längst aufgelöst.

Es schien nie einen Unterschied zu machen, mit wem sie sprach oder ob sie überhaupt mit jemandem sprach, sie sprach in den Äther.

Mein Schweigen, das ich gegen ihr Sprechen setzte, und das sie nicht beeindruckte, entsprang einer so enormen Wut, es war eine solche Protestnote gegen die Wand, die sie zwischen uns gebaut hatte, gegen die Indifferenz, die sie mir entgegenbrachte, dass es mir zu gefährlich schien, es zu durchbrechen. Wer weiß, was herausgekommen wäre.

Manchmal, so nach einer Stunde bis anderthalb, das war gefühlt mein Deal mit ihr, versuchte ich ihr zu sagen, dass ich jetzt Schluss machen müsse. Sie sprach dann im Ton so, als würde sie das Telefonat jetzt rund machen, verlor sich aber oft erneut in ihrem Sprechen. Man musste es ihr nochmal sagen. Einmal, so erinnere ich mich, habe ich nach drei versuchten Abmoderationen einfach aufgelegt. Auch da klopfte mein Herz.

Manchmal fragte sie mich am Ende des Telefonats, wie es mir gehe. Es war schwer, nicht aufzulachen. Und führte dazu, dass ich, auch wenn sie mich am Anfang unseres Telefonats danach fragte, oder auch, wenn wir uns sahen,

formelhaft und ausweichend antwortete.

Ich weiß nicht, bis heute nicht, ob sie nur versucht hat, die Leere zu füllen, die es zwischen uns gab, oder ob sie versucht hat, die Sprachlosigkeit, mit der ich sie trotzig zu bestrafen versuchte, an sich abperlen zu lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihr Sprechen am Telefon als Ausdruck unserer Verbindungslosigkeit verstand, so wie ich es tat.

Ich glaube einfach, das Telefon und der unsichtbare Mensch dahinter, ermöglichte meiner Mutter ein Sprechen, in dem sie sich mit sich selbst wohl fühlte, mit dem sie ihre Welteindrücke teilen, ihre Wahrnehmung ausdrücken konnte.

Meine Mutter hat klar und artikuliert gesprochen. Das habe ich von ihr. In Gruppen war sie schüchtern, so wie ich. Sie wurde still, wenn große Reden geschwungen, Witze gemacht oder die eigene Meinung präsentiert werden musste. Anders als die Männer in ihrem Leben, ihr Vater und ihre beiden Ehemänner, die damit sehr gut zurechtkamen.

Sie bevorzugte den intimen Raum des Zweier- oder Kleingruppengesprächs mit Frauen, mit ihren Schwestern oder Freundinnen, oder eben dem noch intimeren Raum des Telefons, in dem sie mit sich selbst und einer verbundenen Person allein war.

Mich haben die Telefonate mit ihr oft in destruktiver Verzweiflung zurückgelassen. Ich wusste nicht, ob ich mir ein Messer in den Arm rammen oder das Telefon in hohem Bogen aus dem Fenster werfen sollte. Beides habe ich nach Telefonaten mit ihr getan.

Doch es ist nicht so, dass ich ihren Erzählungen nicht auch gern gefolgt wäre. Sie hat mit Verve gesprochen, auch wenn sie keine dramatische Erzählerin war, sie berichtete eher. Meist recht Äußerliches, doch sie liebte das Seufzen über tragische Schicksale, das Soap Opera-artige, sie war empathisch, interessiert an den Leben der anderen, sie ging mit. In ihrer Welt lebten ProtagonistInnen, die dem Schicksal ausgeliefert waren, die Dinge erlitten und erfuhren. Genau wie in den Welten, die ich schrieb. Sätze wie „Wie das Leben so spielt“ oder das badische „Da kannsch halt nix mache“ zitierte sie gern.

Während ich schreibe, liegt sie im Pflegebett eines Heims. Meine Mutter spricht nicht mehr. Die Diagnose Alzheimer hat sie vor über zehn Jahren bekommen, zu einem Zeitpunkt an dem aufgrund ihrer Symptome allen und ihr selbst klar war, dass sie daran erkrankt sein musste.

In dem langen und langsamen Verlauf, den ihre Krankheit genommen hat, hat sie immer weniger verstanden. Gesprochen hat sie immer. Geschickt und sprachgewandt wie sie war, hat sie Lücken gefüllt und Klippen umschifft. Wenn ihr ein Wort auf der Zunge lag, das dort einfach nicht wegwollte, benutzte sie ein inhaltlich oder klanglich ähnliches. War ihr in der Mitte eines Satzes nicht mehr klar, worauf sie hinauswollte, nahm sie eine Abzweigung und erzählte im dramaturgisch selben Tonfall einfach von etwas anderem.

Als sie irgendwann keine Sätze mit Sinn mehr sagen konnte, sagte sie trotzdem welche. Sie setzte Versatzstücke zusammen und intonierte so, als handele es sich um einen Satz. In diesen klingenden Sätzen empörte sie sich, trug etwas zum Gespräch bei, fragte, erzählte, schimpfte und lachte.

Ich liebte diese Sprache, bei all der Tragödie, die sie ausdrückte. Sie kam mir gewieft vor, witzig, lebendig. Das Sprechen meiner Mutter wurde originell. Pur. Anarchisch. Es scherte sich nicht. Sie beharrte darauf. Es gehörte ihr.

Ihr Sprechen war keine undurchlässige Wolke mehr, die sie zwischen uns auftürmte. Ich konnte sie, die mir von Stunde Null an ferngeblieben war, sehen.

Ihre Sätze wurden kürzer. Dann löchrig. Die Worte stachen aus ihnen hervor wie Kieselsteine im Sand. Als sie immer weniger davon fand, ersetzte sie sie durch Laute. Sie wiederholte Silben, machte mal nachdrücklicher, mal sanfter sch-sch-sch oder ta-ta-ta-ta.

Einmal, so erinnere ich mich, habe ich Zuhause angerufen. Es war zu einer Zeit, in der ihre Erkrankung schon so weit fortgeschritten war, dass sie mich nicht mehr erkannte. Ich hatte ihren Mann, meinen Zweitvater, der inzwischen ausschließlich ans Telefon ging, gebeten, sie mir zu geben. Sie nahm den Hörer.  „Hallo Mama“, sagte ich, „was machst du, wie war dein Tag?“ Sie lauschte meiner Stimme. Sie versuchte zu verstehen, wer ich war und war sich sicher, dass man etwas von ihr wollte. Etwas, das sie nicht mehr leisten konnte. „Ja, wer sind Sie denn“, rief sie barsch ins Telefon, „ich kenne Sie ja nicht.“

Noch heute muss ich lachen, wenn ich daran denke. Es ist, als habe sie eine Wahrheit über uns ausgesprochen, die ich, obwohl sie schmerzhaft ist, erfrischend finde.

Natürlich frage ich mich heute manchmal, ob ihr unaufhörliches Sprechen am Telefon ein frühes Anzeichen ihrer Erkrankung war. Doch sie hat schon so mit mir telefoniert, als die Erkrankung noch Dekaden entfernt war. Ob sie auf Vorrat gesprochen hat?

Ich habe mir oft vorgestellt, wie es sein würde, die Stimme meiner Mutter auf dem AB auch dann noch zu hören, wenn sie gestorben ist. Ich dachte daran, wie traurig es sein würde, dieses Dokument aus einer vergangenen Zeit zu hören, aus einem Leben, das mit ihrem jetzigen schon so lange nichts mehr zu tun hatte und das dann ganz zu Ende sein würde. Wie unheimlich es sein würde, die Anrufbeantworteransage einer toten Person zu hören. Und vor allem, wie schrecklich es sein würde, sie zu löschen.

Kürzlich hat eine vertragliche Umstellung des Telefonvertrages es nötig gemacht, die Mobilbox neu einzurichten. Die Anrufbeantworteransage meine Mutter ist verschwunden. Stattdessen ist eine freundliche Maschinenstimme zu hören.

Ich bin froh, dass die Ansage jetzt verschwunden ist und nicht nach ihrem Tod. Meine Mutter lebt. Morgens holen die Pflegekräfte sie, die seit kurzem vollkommen immobil ist, aus dem Bett, versorgen sie, und setzen sie in den Rollstuhl an einen Tisch im Gemeinschaftsraum. Doch die meiste Zeit liegt sie in ihrem Bett. Sie schläft viel. Sie isst noch immer gern. Sie reagiert manchmal auf Stimmen, auch auf meine, auf das Licht im Raum, auf Berührungen, aufs Radio, auf Musik. Sie ist in ihren Stimmungen. Hell, dunkler.

Manchmal flüstert sie.

April 2025 – Du kannst

Du kannst nicht Vorteile von mir haben (Plaudern Sex Reise Support) ohne die Nachteile (Depression Kampf schlechte Gesundheit doofe Angewohnheiten).

Du kannst keine Beziehung haben ohne einander Verlorengehen ohne temporäre Sexlosigkeit ohne Aushalten und Dranbleiben ohne temporäre emotionale Transparenz ohne das Wagnis der Bedürfnisäußerung ohne Zweifel ohne konstruktive Lösungen für den Konflikt. Ohne Arbeit. Aber wenns die Beziehung nicht wert ist. Wenn die Vorteile nicht mehr überwiegen.

Wenn die Gefühle nicht reichen.

Dann kannst du.

 

So war das also.