Wenn ich Zuhause anrufe – denn so sagt man, wenn man sich bei den Menschen meldet, bei denen man aufgewachsen ist – und keiner da ist, geht der Anrufbeantworter dran. Dann höre ich die Stimme meiner Mutter.
„Guten Tag“, sagt meine Mutter. „Sie haben den Anschluss von Vorname ihres Mannes und ihr Vorname, gemeinsamer Nachname in Wohnort gewählt: Ziffern der Hauptnummer. Leider sind wir im Moment nicht erreichbar, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton. Vielen Dank.“
Es muss kurz nach der Jahrtausendwende gewesen sein, als sie und ihr Mann, mein Zweitvater, den AB eingerichtet haben. Er löste damals den Anrufbeantworter ab, den sie jahrelang gehabt hatten, Eine Box aus grauem Plastik mit einem Kabel, das in einer sehr speziell aussehenden Schnittstelle in der Steckdose endete,
und einem Lichtpunkt, der blinkte, wenn jemand darauf gesprochen hatte. Sein Nachfolger war kein Apparat mehr, sondern ein digitaler Anrufbeantworter der Telekom, eine Mobilbox.
Sie muss den Text vom Blatt abgelesen haben, so klingt es zumindest. Ihre Stimme ist klar und deutlich. Meine Mutter spricht gut, eine ihrer Stärken. Der Text ist eher nüchtern, neutral gehalten. Wenn ich den Text höre, höre ich noch etwas anderes. Ich höre, wie genervt meine Mutter ist.
Ich kann mir vorstellen, wie es war. Ihr Mann hatte, weil es längst an der Zeit war, einen neuen Telefonvertrag abgeschlossen, der die Einrichtung einer sogenannten Mobilbox erforderte. Ganz einfach sollte das sein, hatte der Telekom-Mitarbeiter im Laden gesagt, und wie immer war es das nicht. Meine Mutter klingt, als hätte sie den Text mehrfach sprechen müssen, bis es geklappt hat. Ihre generelle Frustration über „die Technik“, die nicht funktionieren will, ist ihr anzuhören, vielleicht auch über den Mann, der neben ihr stand, und von dem sie heimlich erwartet hat, von diesen „technischen Dingen“ nicht überfordert zu sein, der es aber war – und ihr sicher dennoch Anweisungen erteilte.
Bestimmt hat ihr Mann, selbst unter Druck, die Anleitung laut vorgelesen, an den entsprechenden Stellen die entsprechenden Dinge eingegeben und ihr mit einer abrupten Geste – Jetzt! – den Hörer gereicht, damit sie den vorher gemeinsam festgelegten Text aufsprechen konnte.
Wieder und wieder hat es nicht geklappt, wieder und wieder hat sie gelesen. Man musste im richtigen Moment reagieren und durfte sich nicht verlesen, und das auffordernde Signal im Hörer, das diesen Moment markierte, verbreitete einen gewissen Bühnendruck. Die Technik, digital genannt und neu, war nichts, was ihr annähernd verständlich war, wie ihr schon das Gerät vorher nicht wirklich verständlich gewesen war, das aber immerhin Knöpfe gehabt hatte und damit ein echtes Gegenüber gewesen war, und keine weltweite Welt, von der nun alle redeten und die ihr ein unsichtbares, unbegreifliches Feenland zu sein schien.
Von Versuch zu Versuch ist sie gereizter geworden, gestresster, denn an ihr: Lags nicht. Womöglich haben sie sich gezankt, die Sache abgebrochen, neu angesetzt. Als es endlich geschafft und der Spruch aufgenommen war, haben sie genommen, was sie hatten, auch wenn es nicht allzu freundlich klang. Es erfüllte seine Funktion. Sie haben die Ansage nie wieder verändert. Über 20 Jahre nicht.
Gleich zu Beginn der Ansage, ein Mü vor dem „Guten Tag“, gibt es diesen kleinen abrupten An-Atmer, der, anders als beim üblichen Anlaufnehmen vor einem Satz etwas tiefer zieht, ein wenig schärfer klingt. Als habe meine Mutter ein kleines, feines ts- davorgestellt, das vom Beginn der Aufnahme abgeschnitten wurde. Das gibt dem „Guten Tag“ einen etwas zu deutlichen, leicht Augen rollenden Einschlag. Dieser gereizte Ton – es sind alles Nuancen, feine Striche auf einer Geige – zieht sich über den nächsten Satz bis zur Telefonnummer, sie spricht ihn dicht, ohne große Pausen, als reiche es jetzt aber auch mal. Zwo, sagt sie bei den Ziffern, statt zwei. Meine Mutter ist Jahrgang 1939.
Das „Leider“ vor „Leider sind wir gerade nicht erreichbar“ kommt noch ein Mü patzig, dann beruhigt sich die Sache. Ihre Stimme entspannt sich, klingt friedlicher, es ist ja auch gleich vorbei. Beim abschließenden „Vielen Dank“ geht ihre Stimme ins Versöhnliche, es ist geschafft und der Mist nun aber auch mal erledigt.
Wie oft habe ich diesen Text gehört? Hunderte Male? Tausend Mal?
Ich habe nicht oft Zuhause angerufen.
Meine Mutter hat eher mich angerufen. Und in den meisten Fällen ist sie auf meinem AB gescheitert. Ich bin nicht drangegangen. Aber manchmal war es an der Zeit und wir haben telefoniert. In meinem Fall – die anderen kann ich nicht beurteilen – lief das so ab: Sie sprach. Sie sprach und sprach. Sie berichtete von Menschen aus der Nachbarschaft, von Verwandten, Freunden oder deren Angehörigen, über Schulabschlüsse, Umzüge, Schwangerschaften, Krankheiten, Todesfälle, von Menschen also, von denen es Neues gab, oder denen irgendetwas widerfahren war, und die ich zum großen Teil nicht kannte. Sie sprach ohne Unterlass, ohne etwas zu fragen und ohne Lücken zu lassen.
Ich probierte herum, was passierte, wenn man aufhörte „Mhm“ oder „Ja“ zu sagen. Meistens merkte sie es lange nicht. Ich dachte darüber nach, das Telefon wegzulegen, das Geschirr zu spülen, aufs Klo zu gehen oder einzukaufen. Ich legte das Telefon weg. Mein Herz klopfte bis zum Hals vor schlechtem Gewissen. Ich nahm das Telefon rasch wieder auf und sie sprach noch immer.
Ich klemmte sie mir ans Ohr und legte zumindest nebenher die Wäsche zusammen, versuchte, ein paar Mails zu erledigen, ging tatsächlich aufs Klo. „Bist du noch da?“, fragte sie, wenn man zu lange ausgesetzt hatte mit dem „Mhm“ und dem „Ja“, oder ihr eine Raumveränderung wie eine technische Störung vorkam.
„Ich bin noch da“, sagte ich artig, ohne zu wissen, ob das stimmte. Sie hatte mich ja längst aufgelöst.
Es schien nie einen Unterschied zu machen, mit wem sie sprach oder ob sie überhaupt mit jemandem sprach, sie sprach in den Äther.
Mein Schweigen, das ich gegen ihr Sprechen setzte, und das sie nicht beeindruckte, entsprang einer so enormen Wut, es war eine solche Protestnote gegen die Wand, die sie zwischen uns gebaut hatte, gegen die Indifferenz, die sie mir entgegenbrachte, dass es mir zu gefährlich schien, es zu durchbrechen. Wer weiß, was herausgekommen wäre.
Manchmal, so nach einer Stunde bis anderthalb, das war gefühlt mein Deal mit ihr, versuchte ich ihr zu sagen, dass ich jetzt Schluss machen müsse. Sie sprach dann im Ton so, als würde sie das Telefonat jetzt rund machen, verlor sich aber oft erneut in ihrem Sprechen. Man musste es ihr nochmal sagen. Einmal, so erinnere ich mich, habe ich nach drei versuchten Abmoderationen einfach aufgelegt. Auch da klopfte mein Herz.
Manchmal fragte sie mich am Ende des Telefonats, wie es mir gehe. Es war schwer, nicht aufzulachen. Und führte dazu, dass ich, auch wenn sie mich am Anfang unseres Telefonats danach fragte, oder auch, wenn wir uns sahen,
formelhaft und ausweichend antwortete.
Ich weiß nicht, bis heute nicht, ob sie nur versucht hat, die Leere zu füllen, die es zwischen uns gab, oder ob sie versucht hat, die Sprachlosigkeit, mit der ich sie trotzig zu bestrafen versuchte, an sich abperlen zu lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihr Sprechen am Telefon als Ausdruck unserer Verbindungslosigkeit verstand, so wie ich es tat.
Ich glaube einfach, das Telefon und der unsichtbare Mensch dahinter, ermöglichte meiner Mutter ein Sprechen, in dem sie sich mit sich selbst wohl fühlte, mit dem sie ihre Welteindrücke teilen, ihre Wahrnehmung ausdrücken konnte.
Meine Mutter hat klar und artikuliert gesprochen. Das habe ich von ihr. In Gruppen war sie schüchtern, so wie ich. Sie wurde still, wenn große Reden geschwungen, Witze gemacht oder die eigene Meinung präsentiert werden musste. Anders als die Männer in ihrem Leben, ihr Vater und ihre beiden Ehemänner, die damit sehr gut zurechtkamen.
Sie bevorzugte den intimen Raum des Zweier- oder Kleingruppengesprächs mit Frauen, mit ihren Schwestern oder Freundinnen, oder eben dem noch intimeren Raum des Telefons, in dem sie mit sich selbst und einer verbundenen Person allein war.
Mich haben die Telefonate mit ihr oft in destruktiver Verzweiflung zurückgelassen. Ich wusste nicht, ob ich mir ein Messer in den Arm rammen oder das Telefon in hohem Bogen aus dem Fenster werfen sollte. Beides habe ich nach Telefonaten mit ihr getan.
Doch es ist nicht so, dass ich ihren Erzählungen nicht auch gern gefolgt wäre. Sie hat mit Verve gesprochen, auch wenn sie keine dramatische Erzählerin war, sie berichtete eher. Meist recht Äußerliches, doch sie liebte das Seufzen über tragische Schicksale, das Soap Opera-artige, sie war empathisch, interessiert an den Leben der anderen, sie ging mit. In ihrer Welt lebten ProtagonistInnen, die dem Schicksal ausgeliefert waren, die Dinge erlitten und erfuhren. Genau wie in den Welten, die ich schrieb. Sätze wie „Wie das Leben so spielt“ oder das badische „Da kannsch halt nix mache“ zitierte sie gern.
Während ich schreibe, liegt sie im Pflegebett eines Heims. Meine Mutter spricht nicht mehr. Die Diagnose Alzheimer hat sie vor über zehn Jahren bekommen, zu einem Zeitpunkt an dem aufgrund ihrer Symptome allen und ihr selbst klar war, dass sie daran erkrankt sein musste.
In dem langen und langsamen Verlauf, den ihre Krankheit genommen hat, hat sie immer weniger verstanden. Gesprochen hat sie immer. Geschickt und sprachgewandt wie sie war, hat sie Lücken gefüllt und Klippen umschifft. Wenn ihr ein Wort auf der Zunge lag, das dort einfach nicht wegwollte, benutzte sie ein inhaltlich oder klanglich ähnliches. War ihr in der Mitte eines Satzes nicht mehr klar, worauf sie hinauswollte, nahm sie eine Abzweigung und erzählte im dramaturgisch selben Tonfall einfach von etwas anderem.
Als sie irgendwann keine Sätze mit Sinn mehr sagen konnte, sagte sie trotzdem welche. Sie setzte Versatzstücke zusammen und intonierte so, als handele es sich um einen Satz. In diesen klingenden Sätzen empörte sie sich, trug etwas zum Gespräch bei, fragte, erzählte, schimpfte und lachte.
Ich liebte diese Sprache, bei all der Tragödie, die sie ausdrückte. Sie kam mir gewieft vor, witzig, lebendig. Das Sprechen meiner Mutter wurde originell. Pur. Anarchisch. Es scherte sich nicht. Sie beharrte darauf. Es gehörte ihr.
Ihr Sprechen war keine undurchlässige Wolke mehr, die sie zwischen uns auftürmte. Ich konnte sie, die mir von Stunde Null an ferngeblieben war, sehen.
Ihre Sätze wurden kürzer. Dann löchrig. Die Worte stachen aus ihnen hervor wie Kieselsteine im Sand. Als sie immer weniger davon fand, ersetzte sie sie durch Laute. Sie wiederholte Silben, machte mal nachdrücklicher, mal sanfter sch-sch-sch oder ta-ta-ta-ta.
Einmal, so erinnere ich mich, habe ich Zuhause angerufen. Es war zu einer Zeit, in der ihre Erkrankung schon so weit fortgeschritten war, dass sie mich nicht mehr erkannte. Ich hatte ihren Mann, meinen Zweitvater, der inzwischen ausschließlich ans Telefon ging, gebeten, sie mir zu geben. Sie nahm den Hörer. „Hallo Mama“, sagte ich, „was machst du, wie war dein Tag?“ Sie lauschte meiner Stimme. Sie versuchte zu verstehen, wer ich war und war sich sicher, dass man etwas von ihr wollte. Etwas, das sie nicht mehr leisten konnte. „Ja, wer sind Sie denn“, rief sie barsch ins Telefon, „ich kenne Sie ja nicht.“
Noch heute muss ich lachen, wenn ich daran denke. Es ist, als habe sie eine Wahrheit über uns ausgesprochen, die ich, obwohl sie schmerzhaft ist, erfrischend finde.
Natürlich frage ich mich heute manchmal, ob ihr unaufhörliches Sprechen am Telefon ein frühes Anzeichen ihrer Erkrankung war. Doch sie hat schon so mit mir telefoniert, als die Erkrankung noch Dekaden entfernt war. Ob sie auf Vorrat gesprochen hat?
Ich habe mir oft vorgestellt, wie es sein würde, die Stimme meiner Mutter auf dem AB auch dann noch zu hören, wenn sie gestorben ist. Ich dachte daran, wie traurig es sein würde, dieses Dokument aus einer vergangenen Zeit zu hören, aus einem Leben, das mit ihrem jetzigen schon so lange nichts mehr zu tun hatte und das dann ganz zu Ende sein würde. Wie unheimlich es sein würde, die Anrufbeantworteransage einer toten Person zu hören. Und vor allem, wie schrecklich es sein würde, sie zu löschen.
Kürzlich hat eine vertragliche Umstellung des Telefonvertrages es nötig gemacht, die Mobilbox neu einzurichten. Die Anrufbeantworteransage meine Mutter ist verschwunden. Stattdessen ist eine freundliche Maschinenstimme zu hören.
Ich bin froh, dass die Ansage jetzt verschwunden ist und nicht nach ihrem Tod. Meine Mutter lebt. Morgens holen die Pflegekräfte sie, die seit kurzem vollkommen immobil ist, aus dem Bett, versorgen sie, und setzen sie in den Rollstuhl an einen Tisch im Gemeinschaftsraum. Doch die meiste Zeit liegt sie in ihrem Bett. Sie schläft viel. Sie isst noch immer gern. Sie reagiert manchmal auf Stimmen, auch auf meine, auf das Licht im Raum, auf Berührungen, aufs Radio, auf Musik. Sie ist in ihren Stimmungen. Hell, dunkler.