T. und ich fahren mit der S-Bahn. Es ist sehr voll, die Leute stehen dicht gedrängt. Am Alex steigen wir aus, auf dem Bahnsteig ist es eng. Plötzlich schlägt eine Frau, vielleicht 27, blond, lange Haare, sportlich-prollig gekleidet, direkt neben uns einem jungen Typen ins Gesicht, einem Refugee. Er ist mit drei anderen Jungs im Schlepptau unterwegs. Sie schreit ihn an, beschimpft ihn, haut nochmal, Oberkörper, Gesicht, er hebt den Arm zum Schutz, protestiert zuerst nicht, dann in gebrochenem Deutsch.
Ich hebe beschwichtigend die Hände, ist ja gut jetzt, sage ich zu beiden. Auch T. versucht, zu beruhigen. Die Menge im Fluss, zwei Meter bis zur Rolltreppe, alles in Bruchteilen von Sekunden, der Typ labert irgendwas in Richtung der Frau, von wegen ich spreche deine Sprache nicht, da schwappt ihre Wut nochmal hoch, sie beugt sich rüber, klatscht ihm nochmal eine ins Gesicht. Hey, ist gut, jetzt, sage ich nochmal, diesmal nur zu ihr. T. sagt: Die wehrt sich wenigstens.
Okay. Wow. Analyse, bitte.
Eine Frau und ein Refugee in einer dicht gedrängten Menge. Sie fängt an, ihn zu schlagen und zu beschimpfen. Ihr Schimpfen gibt keinen Hinweis darauf, ob und was passiert ist, welchen Inhalt die Auseinandersetzung hat. Die erste Annahme, die sowohl T. als auch ich sofort in unseren jeweiligen Hinterköpfen treffen, ist: Er hat das Gedränge genutzt, um sie zu belästigen.
Meine Reaktion auf die Situation: Ich beschwichtige. In beide Richtungen. Denn was ich wahrnehme, allem anderen vorgelagert, ist: Jemand wird direkt vor meiner Nase geschlagen. Ich sehe Gewalt. Ich will vermeiden, dass die Situation eskaliert, dass er (!) ein Messer zückt.
Was ich auch sehe, ist: Eine etwas prollige junge Frau schlägt einen Refugee. Und in meinem Hinterkopf gesellt sich eine zweite mögliche Interpretation zur ersten: Nazi-Braut haut Refugee.
T.s. Reaktion auf die Situation: Auch er beschwichtigt in beide Richtungen. Er sieht, genau wie ich, die Gewalt, und will keine Eskalation. Er nimmt die Reaktion des Mannes wahr, der die Hände zum Schutz vors Gesicht hebt und eher hilflos protestiert. T. interpretiert das als Schuldeingeständnis. (So wie der reagiert hat, sagt er später. Kannste dir denken, was passiert ist). Und er sieht in der Gewalt, die die Frau ausübt, etwas Wehrhaftes. Und darin wiederum etwas Unterstützenswertes. Die erste Annahme also bestimmt hier sein Verhalten viel stärker als meins: Wir haben es hier aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Täter (Mann) und einem Opfer (Frau) zu tun. Als ich bei ihrem erneuten Ausbruch, nur zu ihr sage: Es ist gut jetzt, sagt T. nichts mehr, sondern lässt sie machen. Formuliert laut: Die wehrt sich wenigstens.
Die Rollenverteilung in unseren Verhaltensweisen ist klassisch – ich, die Frau, richte mich sofort gegen die Gewalt. Er, der Mann, findet, wenn eine Tat vorausgegangen ist, wie die anzunehmende, dann darf und soll sie sich wehren und der Typ ruhig was einstecken. Frau: konfliktscheu. Mann: Siehts sportlich-gerecht. Habe ich also mit meiner Angst vor dem Konflikt, vor der Gewalt, die ich sofort versucht habe, aus der Welt zu schaffen, die Situation zu befrieden, der Frau geschadet, dem Opfer, das sich gewehrt hat?
Sie hat nicht gesagt: „Nimm deine Pfoten weg“. Oder, nach außen gerichtet: „Dieses Arschloch hat mich begrapscht.“ (Muss sie auch nicht, kein Opfer macht irgendwas falsch oder richtig, not my point here). Sie hat auch nicht gesagt: „Hau ab in dein scheiß Afghanistan oder wo immer du herkommst“. Alle getroffenen Annahmen kann man hinterfragen – von der Annahme es handle sich um einen Refugee über die Annahme, dass die Frau Opfer einer sexuellen Belästigung wurde, bis zu der Annahme, dass sie eine Nazi-lady sein könnte, ja sogar die Annahme, dass es sich bei ihr um eine Frau handelt. Wie sind wir zu diesen Annahmen gekommen? Was, wenn alles ganz anders ist? Jedoch: Wir leben in einer WELT. Mit Kontexten, Vorurteilen, Erfahrungen, Mustern, und wir kommen in einer solchen Sekunden-Situation zu Schlüssen und handeln. Impulsiv, aus dem Bauch heraus.
Ich habe nicht das Gefühl, mich ihr gegenüber richtig verhalten zu haben. Habe ich so ein Problem mit schlagenden Frauen, dass ich mich lieber auf die Seite des Mannes begebe, der geschlagen wird, obwohl er mit recht hoher Wahrscheinlichkeit ein Täter ist, gegen den sie sich tapfer wehrt? Kann ich Frauen mit langen blonden Haaren im Proll-Look weniger leiden als Refugee-Männer? Wie hätte ich mich verhalten, wenn sie den Übergriff formuliert hätte? Anders oder genauso?
Warum war T. auf ihrer Seite und ich nicht?
Das beschäftigt mich.