Mai 2015 – Tchibo

Ich übe alt sein.

Ich gehe zu Tchibo und bestelle Kaffee und setze mich ins Fenster und guck raus. Raus bedeutet in die Shopping Mall am Gesundbrunnen-Center, Erdgeschoss. Man hat einen Blick auf Douglas, ein paar Bänke und eine Palme im Riesentopf mit Hydrokultur. Der Wedding läuft vorbei. Da hat man was zu gucken.

Eine Frau setzt sich neben mich, vielleicht 68, und findet das auch.

Kurze Haare, flott gekleidet. Ich bin nett zu ihr, vertraulich. Sie kommt aus Hennigsdorf (Randberlin, wie sie sagt).

Wir reden ein bisschen über die S-Bahn, die wieder fährt, dass man bei Tchibo noch guten Kaffee kriegt (ihre Formulierung), dass man im Hofladen Falkensee Erdbeeren pflücken kann (mein Beitrag), dass sie praktisch von hinter der Mauer kommt (ihr Beitrag).

Als sie sich auf den Hocker hochhievt macht sie eine Bemerkung, dass ich ja noch beweglicher wäre als sie. Sie denkt, ich bin jung und habe andere Probleme als sie, aber das stimmt nicht. Ich bin genauso alt wie sie. Sie sieht nicht, was ich sehe: Zwei ältere Frauen am Tresen bei Tchibo, ein paar nette Worte, eine Begegnung, gegen die Schmerzen in den Gliedern, gegen die Einsamkeit. Darum gehts doch im Leben älterer Menschen, um ein bisschen Trost.

(Als ich gehe fällt mein Blick auf das Mobilfunkangebot von Tchibo, da kann fancy O2 aber preis-leistungsmäßig sowas von gegen abstinken. Ich beschließe, mich ab sofort mit Tchibo einzuloggen, ist ja eh schon altersgemäß. Und der Kaffe ist gut. )

Mai 2015 – Traum

T. sagt, er hat geträumt, ich hätte vier Brüste.

Ich verstehe, aber das ist mir zuviel.

Vielleicht ein dritte, aber nicht in der Mitte zwischen den beiden anderen.

Eher in weiter unter gelegenen Regionen, vielleicht etwas oberhalb der Hüfte, keck in die Beuge zwischen Bauch und Becken gesetzt. Gut erreichbar, für jemand, der unten zugange ist. Und noch kleiner als die anderen müsste sie sein.

Damit könnte ich mich anfreunden.

Mai 2015 – Touri-Italiener

ich stehe an der bushaltestelle.

neben der bushaltestelle, etwas erhöht, auf einer empore, ein touri-italiener, stühle im außenbereich.

ein mann, mitte dreißig, abgerissen aussehend, hält sich am geländer fest. es geht ihm nicht gut.

der kellner (mitte dreißig, gut aussehend) kommt, fragt ihn, ober ihm helfen kann. der mann schüttelt den kopf, winkt ab, redet leise in einer fremden sprache, was ostiges?, eher seltenes, serbo-kroatisch?, sowas.

der kellner insistiert, ambulance? trägt der wind bis zu mir, der kellner beugt seinen kopf, weil der mann so leise redet.  „water“ wiederholt er schließlich, was der mann gesagt hat.

er bietet ihm einen platz an einem der tische an (touri-italiener, wohlgemerkt). der mann winkt ab, der kellner bietet ihm nochmal einen platz an, der mann schüttelt den kopf, no money, sagt er, der kellner geht zum tisch, zieht den stuhl auf, die rot-weiß karierte tischdecke flattert.

der kellner verschwindet, der mann setzt sich langsam.

der mann sitzt quer zum tisch, lehnt sich an die wand des restaurants. er atmet, atmet, nimmt den zuckerstreuer vom tisch, schüttet sich den zucker mit gehörigem abstand direkt in den mund, einen dicken, vollen strahl, vielleicht diabetiker?, frage ich mich. er stöhnt, lutscht am zucker.

der kellner kommt, gibt ihm ein glas wasser. er trinkt. der kellner fragt etwas. der mann winkt ab.

der kellner verschwindet. der mann und sein wasser. er streicht sich mit den händen über die oberschenkel, immer wieder.

der kellner kommt zurück, einen teller voll mit brot, ein paar dingen aus der küche in der hand.

der mann sieht den teller an. no money, sagt er. der kellner winkt ab, stellt ihm den teller hin.

in diesem moment, und es liegt sicher daran, dass ich gerade etwas nah am wasser gebaut bin, fange ich an zu weinen.

wie kommt in einer abgefuckten stadt, mit tausenden von abgeschossenen, abgewrackten leuten, die einem hundert mal am tag begegnen, einen mit ihrer je eigenen überlebens-agenda angehen, auf die man, als teil der eigenen überlebens-agenda, in routinierter choreografie reagiert, die attacken abfängt, wie einen ball mit einem lacrosse-schläger, ein junger kellner im italienischen touri-restaurant in einer der übleren abzock-gegenden berlins dazu, diesem mann, schlicht einen platz, etwas zu essen und zu trinken anzubieten, statt zu denken, ach, noch so einer? ist er religiös (barmherzigkeit, weihnachtsgeschichte)? ist er naiv (neu hier, vom dorf)? was stimmt nicht mit dieser stadt, dieser welt, was stimmt nicht mit mir, die das so außergewöhnlich findet und selbst wahrscheinlich niemals getan hätte?!