Ich bin hier praktisch allein unter Ossis. Das ist sehr interessant. Zumal die meisten Patienten ab 70 aufwärts sind, die „Wende“ also in den Biographien unmittelbar ein Rolle gespielt hat. Das ist hier auch ständig Thema. Alle erzählen vom Osten. Im Osten war das ja so. Und nach der Wende hab ich dann. Mein Trabi. 5000 Leute am Ende noch 50. Die Treuhand. Der Westen. Betrieb geschlossen.
Es gibt einen Boden der Gemeinsamkeit auf dem die Ostler sich bewegen: Es geht doch nur noch um Profit. Der Mensch zählt doch nicht mehr. Sie haben uns viel Mist erzählt, aber das war nicht gelogen.
– Eine neue Dame kommt an den Kantinentisch (70, Kardio), an dem Frau Juni-Schmidt und ich schon die alten Hasen sind. Irgendwann während der Unterhaltung berichtet Frau Juni-Schmidt, dass sie Spandauerin ist. Ach, Sie sind aus dem Westen? fragt die Dame. (Sie hatte sich unter Gleichgesinnten gewähnt). Frau Juni-Schmidt spürt die Distanzierung, um nicht zu sagen den eisernen Vorhang der augenblicklich runter geht, und beeilt sich zu sagen, dass sie eigentlich auch Ossi ist. Bis 1958 hat sie in der DDR gelebt. Und dann ist sie geflohen. Zweimal in ihrem Leben ist sie geflohen! Zuerst als Kind mit ihren Eltern aus Pommern. Und dann nochmal 1958, mit ihrem Mann, den Kindern und ihrer „rechten Hand“. Alles stehen und liegen gelassen haben sie, das Haus, die Gärtnerei, und haben in Berlin Spandau wieder von vorne angefangen. Die Dame scheint der Annäherungsversuch nicht zu beeindrucken. Sie schweigt. Vielleicht findet sie, dass es keinen Grund gab aus ihrem Land zu fliehen. Vielleicht findet sie es unsolidarisch in den Westen abzuhauen und Unternehmer zu werden.
Ich hake nochmal nach. Also vor dem Mauerbau sind Sie geflohen? frage ich (und stelle mich damit ebenfalls in Opposition zu Frau Juni-Schmidt – meine Ost-Mimikry funktioniert bisher perfekt, hat noch keiner gemerkt, dass ich ein West-Kind bin). Mich irritiert nämlich die Sache mit der Flucht. Kann man aus einem Land fliehen, das einen doch zumindest 1958 noch nicht dazu gezwungen hat, da zu bleiben? Ist das nicht einfach ein Umzug? Eine freie Lebensentscheidung, seine Existenz lieber in einen anderen Staat zu verlegen? Sie haben alles zurück gelassen. Klingt dramatisch, aber was bedeutet das? – Will ich nach Brasilien auswandern, verkaufe ich meine Möbel, kaufe mir ein Ticket und sobald ich da drüben ne Wohnung hab, kauf ich mir neue Möbel. Ist das eine Flucht? Konnte man das Haus in der DDR nicht verkaufen, die Gärtnerei nicht übergeben? Hat das der Staat einkassiert? Und wenn schon. Was ist die Definition von Flucht? Sorry, irgendwie finde ich, das gildet nicht. Und unterm Strich heißt das doch: Zweimal vor „den Kommunisten“ geflohen. (Die uns je nach Kontext, by the way, befreit haben). Ich würde das niemandem verübeln wollen, und trotzdem liegt bei dieser großen Erzählung ja auch die Nazi-Frage um die Ecke – die keiner mehr stellt, weil die DDR/Mauerfall-Geschichte die Sicht versperrt auf dem linearen historischen Zeitstrahl der allgemeinen Wahrnehmung.
– Diese Kantinen-Unterhaltung spielt sich übrigens vor der Kulisse der Waldsiedlung Bernau ab, in der Honecker und andere ZK-Mitglieder haben hier bis zum Mauerfall abgeschottet vom Rest der Welt gewohnt haben. Heute liegt die Reha-Klinik auf diesem Gelände. Einmal die Woche kommt der ehemalige Förster vorbei und macht eine Führung durch die Siedlung und erzählt Dönekes über die Altvorderen und ihre Sperenzchen. (Ein anderesmal erzählt er über das Rotwild in der Schorfheide, das ist politisch aber doppelt so interessant, weil Leute wie Gaddafi und Strauß gerne hierher gekommen sind, um zu jagen).
– Was mir fehlt, komplett fehlt, und ich nehme an, dass das etwas ist, was alle Ossis haben, ist der Stasi-dar – also der Radar für eifrige Stasi-Mitarbeiter und Polit-Karrieristen. ich verstehe die Signale nicht, kann die Nuancen nicht deuten, die Bemerkungen, Erzählungen nicht einordnen. Da fehlt mir komplett die Kommunikationskompetenz. Nur ein Mann, der mich mit seinen diversen beruflichen Positionen volllabert, und der einen nicht unsympathischen Brechtschen Arbeiterlook mit Schiebermütze und Lederjacke kultiviert, der kommt mir so vor. Aber was weiß ich schon. Vielleicht ist ja auch alles ganz anders.
– Als ich Sebastian (38, Bandscheibe), frage, ob er ein Ostkind ist, zieht er die Augenbrauen hoch als habe man ihn beleidigt. Stolzer Ossi, sagt er, immer gewesen. Er will mit seiner Freundin aufs Konzert von Jan Josef Liefers‘ Band Radio Doria, kann er aber nicht, wegen der Schmerzen. Als ich ihm erzähle, dass ich fürs ZDF Kinderfernsehen arbeite, freut er sich, er kennt die Sendung. Achja? frage ich erstaunt. Klar, sagt er, wir hatten ja auch Westfernsehen, und grinst. (Er kommt aus Oranienburg, nicht aus Dresden.)