Juni 2015 – Reha 13 – Frau Dr.

Frau Dr. S mag ich sofort. Sie ist Ende fünfzig, heißt Katja (alle Namen von der Redaktion gefälscht) mit Vornamen, und erinnert mich an eine SBahn-Abfertigungsfrau, die ich neulich beobachtet habe, weil sie aussah wie aus einem russischen Film der 70er Jahre und ihren Arm um ihre Kollegin gelegt hat. Sie war klein, ein bisschen gestaucht in der post-menopausalen Taille, die Kinder längst groß und aus dem haus, einen Beruf ausübt, an dem sie hängt, weil es ein guter Beruf ist. So ist Frau Dr. S. Acuh sie würde einer langjährigen Kollegin sicher kumpelhaft den Arm um den Hals legen wäre sie hier als osteuropäische Migrantin nicht allein unter deutschen Männerärzten.

Sie redet mit mir und untersucht mich eine Stunde lang.

Der Computer ist nicht ihr Freund. Immer was Neues, sagt sie zu mir, und zu ihm, mit ihrem starken Akzent, und schüttelt ihren Kurzhaarkopf.

Sie fragt, ob ich Kinder habe. Nein. Oh, warum nicht? fragt sie mit ehrlichem Bedauern in der Stimme. Jetzt mag ich sie noch mehr als vorher. Selten ist mir so eine aufrichtige spontane Emotion entgegen gekommen bei diesem Thema und ich freue mich für den Sohn, den sie höchstwahrscheinlich hat und der höchstwahrscheinlich Alexander heißt und aus dem was geworden ist, bei allen Sorgen, die sie mit ihm auch gehabt hat.

Armes Ding sagt sie, als ich ihr von meinen Schmerzen erzähle und all den idiotischen Unverträglichkeiten. Auch das hab ich noch nie gehört. Ein offenes, geradeaus erteiltes Mitleid, eine Art von Sorge, die zu äußern sich kein Arzt einen Zacken aus der Krone brechen würde, und den sie als selbstverständlichen Teil ihres Berufes sieht.

Sie könnte auch Chemikerin sein, in ihrem weißen Kittel, oder in der Küche einer Kantine arbeiten, man würde ihr all das abnehmen und all das würde sie gut machen.

Sie lacht, als ich sage, dass ich nicht mit meinem Freund zusammen wohne, weil wir uns dann besser vertragen.

Sie staunt, als ich ihr sage, ich hätte mir zum Arbeiten eine Art Stehtisch gebaut.

Sie ist nicht zufrieden, als ich das rechte Bein gerade mal 40 Grad hochkriege.

Sie findet, ich hätte mich operieren lassen sollen. (Anders als ihr Chefarzt).

Ich liebe diese Pragmatik.

Wir sind so weit entfernt voneinander, aber sie mag mich. Und ich mag sie.

Als ich die Klinik verlasse, sage ich ihr, dass sie gut auf sich aufpassen soll.

Juni 2015 – Reha 12 – Bandscheibis

Alle, die hier zwischen 30 und 50 sind, hams an der Bandscheibe. Sie sind die Bandscheibis. Eine verschworene Gemeinschaft von hier als jung wahrgenommenen Menschen, die zusammen halten, auch mal einen trinken gehen, und sich über ihre schrecklichen, von der Umwelt nicht nachvollziehbaren Schmerzen, ihre nutzlosen Medikamente und in Sebastians Fall offen über ihre darniederliegende Fick-Kapazität austauschen. Alle haben Ängste und sind gefrustet. Wie soll das weitergehen? Jetzt schon so kaputt? Will man so leben? Die Banscheibis haben eine Tendenz, da draußen einsam und depressiv zu werden, das versteht man hier untereinander.

Der kleine Rest der Jungen hat Knie, Sportunfall. (Fußball, Ski). Die Knie sind uninteressant für die Bandscheibis, die Knie sind heilbar, ne einmalige Sache, die Bandscheibe hingegen ist etwas grundlegend Lebensphilosophisches, die mit den Knien können da nicht mitreden.

Alle anderen, also die Alten, haben das, was die Knie und die Bandscheibis mal kriegen, wenn die Jahre weiter ins Land gezogen sind. Das kann man sich hier schon mal schön angucken: Versteifte Wirbel, verkrümmte Wirbelsäulen, künstliche Hüften, künstliche Bandscheiben, künstliche Kniegelenke, Osteoporose-Brüche an Schulter, Oberarm, Oberschenkel – um jetzt nur mal von den orthopädischen Problemen zu sprechen und nicht die Gefäß-Herz-Hirn-all-over-Krebs-Gastro-Diabetes-Rheuma-Krankheiten zu erwähnen oder auch einfach nur die Gebisse, die hier beim Essen auch mal rausfallen oder im Briefkasten deponiert werden. (Den hier jeder bekommt und in den jeder fünfmal am Tag reinguckt, weils so langweilig ist).

– Als Frau Juni-Schmidt sich beim Essen beklagt, dass die Ärztin ihr das Tramal (Opiat) weggenommen hat, frage ich sie, wie viel sie denn davon genommen hat. 200 Milligramm, sagt sie. What the ?!! In dem Moment wird mir klar, dass die Alten hier alle auf Drogen sind.

– Und was mir auch nicht klar war: Viele Patienten wollen gar nicht als gesund entlassen werden, sie wollen eine Bescheinigung, dass sie krank sind, arbeitsunfähig, berufsunfähig, damit der Job, der sie krank gemacht hat, endlich vorbei ist.

Juni 2015 – Reha 11 – Allein unter Ossis

Ich bin hier praktisch allein unter Ossis. Das ist sehr interessant. Zumal die meisten Patienten ab 70 aufwärts sind, die „Wende“ also in den Biographien unmittelbar ein Rolle gespielt hat. Das ist hier auch ständig Thema. Alle erzählen vom Osten. Im Osten war das ja so. Und nach der Wende hab ich dann. Mein Trabi. 5000 Leute am Ende noch 50. Die Treuhand. Der Westen. Betrieb geschlossen.

Es gibt einen Boden der Gemeinsamkeit auf dem die Ostler sich bewegen: Es geht doch nur noch um Profit. Der Mensch zählt doch nicht mehr. Sie haben uns viel Mist erzählt, aber das war nicht gelogen.

– Eine neue Dame kommt an den Kantinentisch (70, Kardio), an dem Frau Juni-Schmidt und ich schon die alten Hasen sind. Irgendwann während der Unterhaltung berichtet Frau Juni-Schmidt, dass sie Spandauerin ist. Ach, Sie sind aus dem Westen? fragt die Dame. (Sie hatte sich unter Gleichgesinnten gewähnt). Frau Juni-Schmidt spürt die Distanzierung, um nicht zu sagen den eisernen Vorhang der augenblicklich runter geht, und beeilt sich zu sagen, dass sie eigentlich auch Ossi ist. Bis 1958 hat sie in der DDR gelebt. Und dann ist sie geflohen. Zweimal in ihrem Leben ist sie geflohen! Zuerst als Kind mit ihren Eltern aus Pommern. Und dann nochmal 1958, mit ihrem Mann, den Kindern und ihrer „rechten Hand“. Alles stehen und liegen gelassen haben sie, das Haus, die Gärtnerei, und haben in Berlin Spandau wieder von vorne angefangen. Die Dame scheint der Annäherungsversuch nicht zu beeindrucken. Sie schweigt. Vielleicht findet sie, dass es keinen Grund gab aus ihrem Land zu fliehen. Vielleicht findet sie es unsolidarisch in den Westen abzuhauen und Unternehmer zu werden.

Ich hake nochmal nach. Also vor dem Mauerbau sind Sie geflohen? frage ich  (und stelle mich damit ebenfalls in Opposition zu Frau Juni-Schmidt – meine Ost-Mimikry funktioniert bisher perfekt, hat noch keiner gemerkt, dass ich ein West-Kind bin). Mich irritiert nämlich die Sache mit der Flucht. Kann man aus einem Land fliehen, das einen doch zumindest 1958 noch nicht dazu gezwungen hat, da zu bleiben? Ist das nicht einfach ein Umzug? Eine freie Lebensentscheidung, seine Existenz lieber in einen anderen Staat zu verlegen? Sie haben alles zurück gelassen. Klingt dramatisch, aber was bedeutet das? – Will  ich nach Brasilien auswandern, verkaufe ich meine Möbel, kaufe mir ein Ticket und sobald ich da drüben ne Wohnung hab, kauf ich mir neue Möbel. Ist das eine Flucht? Konnte man das Haus in der DDR nicht verkaufen, die Gärtnerei nicht übergeben? Hat das der Staat einkassiert? Und wenn schon. Was ist die Definition von Flucht? Sorry, irgendwie finde ich, das gildet nicht. Und unterm Strich heißt das doch: Zweimal vor „den Kommunisten“ geflohen. (Die uns je nach Kontext, by the way, befreit haben). Ich würde das niemandem verübeln wollen, und trotzdem liegt bei dieser großen Erzählung ja auch die Nazi-Frage um die Ecke – die keiner mehr stellt, weil die DDR/Mauerfall-Geschichte die Sicht versperrt auf dem linearen historischen Zeitstrahl der allgemeinen Wahrnehmung.

– Diese Kantinen-Unterhaltung spielt sich übrigens vor der Kulisse der Waldsiedlung Bernau ab, in der Honecker und andere ZK-Mitglieder haben hier bis zum Mauerfall abgeschottet vom Rest der Welt gewohnt haben. Heute liegt die Reha-Klinik  auf diesem Gelände. Einmal die Woche kommt der ehemalige Förster vorbei und macht eine Führung durch die Siedlung und erzählt Dönekes über die Altvorderen und ihre Sperenzchen. (Ein anderesmal erzählt er über das Rotwild in der Schorfheide, das ist politisch aber doppelt so interessant, weil Leute wie Gaddafi und Strauß gerne hierher gekommen sind, um zu jagen).

– Was mir fehlt, komplett fehlt, und ich nehme an, dass das etwas ist, was alle Ossis haben, ist der Stasi-dar – also der Radar für eifrige Stasi-Mitarbeiter und Polit-Karrieristen. ich verstehe die Signale nicht, kann die Nuancen nicht deuten, die Bemerkungen, Erzählungen nicht einordnen. Da fehlt mir komplett die Kommunikationskompetenz. Nur ein Mann, der mich mit seinen diversen beruflichen Positionen volllabert, und der einen nicht unsympathischen Brechtschen Arbeiterlook mit Schiebermütze und Lederjacke kultiviert, der kommt mir so vor. Aber was weiß ich schon. Vielleicht ist ja auch alles ganz anders.

– Als ich Sebastian (38, Bandscheibe), frage, ob er ein Ostkind ist, zieht er die Augenbrauen hoch als habe man ihn beleidigt. Stolzer Ossi, sagt er, immer gewesen. Er will mit seiner Freundin aufs Konzert von Jan Josef Liefers‘ Band Radio Doria, kann er aber nicht, wegen der Schmerzen. Als ich ihm erzähle, dass ich fürs ZDF Kinderfernsehen arbeite, freut er sich, er kennt die Sendung. Achja? frage ich erstaunt. Klar, sagt er, wir hatten ja auch Westfernsehen, und grinst. (Er kommt aus Oranienburg, nicht aus Dresden.)

Juni 2015 – Reha 10 – Ententeich

Hier gibt’s viele Tiere. Die Menschen haben Freude an Tieren.

Man sitzt auf den Bänken am Ententeich und schaut. Es summt, es brummt, was macht das Tier? Das Highlight des Tages für viele: Enten füttern.

Ein Kind im Rollstuhl jauchzt als die Enten sich um die Brotstückchen kloppen (Hier gibt es ein Haus voll mit Reha-Kindern, Krebs und andere schreckliche Sachen, allein das Schild makes me cry.).

Eine Frau vergisst nicht, eine abseits im Gras gebliebene Ente zu füttern, erklärt, die werde immer von den anderen weggebissen.  (Die Frau ist sehr dünn. Ich tippe: anorektisch, aus der Psychosomatik.)

Jeder denkt, er hat die einzigartige Idee, die Enten zu füttern. Die Enten pupsen den ganzen See voll. Oder drehen den tief enttäuschten Brotreinwerfern ihren desinteressierten Arsch zu.

Ansonsten Vögel, die ich noch nie gesehen habe. Eichhörnchen. Ein Kranich sitzt manchmal im Baum über dem Ententeich. Man deutet, man zeigt. Er sieht zu groß aus für den Baum, stakt da raus. Hätte gerne seine Perspektive. Auf uns bewegliche Punkte zum Vollkacken. Ach, und Ratten, die die Brotstückchen auffressen, die am Teichrand liegen geblieben sind.

Die Menschen haben Freude an Tieren. Dann gehen sie in die Kantine und essen sie.

Juni 2015 – Reha 9 – Aussichten

Alle haben Schmerzen. Alle sind traurig und verzweifelt und weinen heimlich in ihren Zimmern. Oder auch mal am Tisch wie Frau Juni-Schmidt.

Die Dinge werden nicht besser. Alles dauert lang und kommt wieder. Manches wird schlimmer. Zum einen kommt noch was anderes dazu. So sind die Aussichten.

Juni 2015 – Reha 8 – Frau Juni-Schmidt

Frau Juni-Schmidt ist 87 und sitzt beim Essen neben mir. Sie hat ihren ersten Namen vom ersten Mann und den zweiten vom zweiten. Seit der gestorben ist, hat sie 5 Kilo zugenommen. Das ärgert sie.

Sie können ja jeden Tag Kuchen essen. Mit Sahne drauf! Sagt sie zu mir. Und Eis. Mein Essen beschäftigt sie. Sie waren ja gar nicht beim Frühstück. Ich hab sie heute im Cafe gesehen, sie haben sich ein Eis geholt. Essen sie nur ein Brot zum Abend? Ich esse ja auch jeden Tag Salat. (Ich hasse Kommentare über mein Essverhalten zu dem sich Frauen Zeit meines Lebens bemüßigt gefühlt haben, aber bei Frau Juni-Schmidt nehm ichs mit Humor).

Sie kommt mit einer erstaunlichen Erkenntnis vom Vortrag der Diätassistentin. (Also das war jetzt mal interessant!). Endlich versteht sie, wieso ihre Schwester, 7 Jahre jünger als sie (also 80), inzwischen aussieht wie eine Gewitterhexe, „also Entschuldigung, ich muss es so sagen“. – Sie ernährt sich falsch! Jeden Tag eine Dosensuppe. Frau Juni-Schmidt hingegen isst jeden Tag frische Petersilie, Gemüse aus dem Garten, also wenn’s danach geht müsste sie hundert werden!

Sie erzählt mir von ihrem zweiten Mann. Den hat sie ja, erzählt sie mir mit leicht gesenkter Stimme, über Anzeige kennen gelernt. Sie hat das Gefühl, das erklären zu müssen. (Für einen Moment überlege ich, ob ich ihr von Tinder erzähle, aber das lass ich lieber). Sie war ja erst Ende fünfzig als der erste gestorben ist. Und immer allein, das war nichts für sie. Sie gibt mir einen Rat mit auf den Weg: Die Chemie muss stimmen. Ich nicke zustimmend.  (jetzt vielleicht, Tinder?)  Mit dem zweiten hat sie schöne Reisen gemacht, Kreuzfahrten, überall hin, schöne 12 Jahre hat sie mit dem noch gehabt (12, die Rechnung geht irgendwie nicht auf, aber wer mit dem Alter flunkert, hat mein volles Verständnis. Tinder?). Die Kinder haben ihn gemocht. Dann wurde er krank. Sie hat sich ne Polin geholt. So sagt sie das. Die hat bei ihr gewohnt, in dem kleinen Zimmer oben. Mit der hat sie auch Kaffee getrunken. Die hat jeden Tag ihre Mittagspause gemacht, immer von 12 ab, da gabs nix, da ist sie auf ihr Zimmer. Aber sonst war sie immer da, Tag und Nacht. Und man konnte sie bezahlen. Pflege ist so teuer, das ist ihre größte Sorge vorm Heimkommen. Denn ohne Hilfe wird es nicht mehr gehen.

 

 

 

 

Juni 2015 – Reha 7 – Herr P.

Herr P. geht an Krücken. Und auch das nur mit Mühe. Er wirkt für seine Anfang 70 sehr jung, trainiert, fit, aber sein Bein zieht er hinter sich her, steif, die Hüfte leicht verdreht, es sieht ein bisschen aus wie man das von der Kinderlähmung noch kennt.

Als er mich auf dem Laufband sieht, stellt er sich neben mich und fragt, wie schnell ich denn laufe. 5 km/h. Er sei doppelt so schnell gelaufen, erklärt er mir. Aha? Er war österreichischer Meister im Walking, und Österreich, das bedeutet Berge, schiebt er noch nach. Aber das war bevor der Schlaganfall ihn zum Krüppel gemacht hat. Das Wort spuckt er aus, die Verachtung wird klar. Da ist jemand sehr gekränkt, bitter, dunkel. Ich kann ihn in den nächsten Tagen nur in vorsichtigen Dosen ertragen, obwohl er immer wieder meine Nähe sucht. Wahrscheinlich merkt er, dass ich ihn verstehe.

Er ist kein leichter Kandidat für die Therapeuten. Er langweilt sich, kommt deshalb zu früh in die Mucki-Bude, setzt sich einfach auf Geräte und legt übertrieben los ohne Einführung. Im Bewegungsbad muss der Therapeut ihn zurück aufs Zimmer schicken, weil er unvernünftigerweise gekommen ist, statt mit seinen starken Wadenkrämpfen im Bett zu bleiben. Er hält gerne das knapp getimte Prozedere in den Abläufen auf. Er macht gerne anzügliche Bemerkungen.

Ein paar Tage später begegne ich ihm auf dem Flur, frage ihn, wie es ihm geht.

Sagen Sie es niemand, sagt er zu mir, aber am liebsten würde ich mich einschläfern lassen.

 

Juni 2015 – Reha 6 – Hüfte 2

Heute in der Mattengruppe. Eine Frau ächzt sich stöhnend auf die Matte am Boden. Der Physiotherapeutin kommt sie irgendwie bekannt vor. Sie runzelt die Stirn. Dann: „Moment mal, sie sind doch ne Hüfte!“ Die Frau nickt schuldbewusst. Die Physiotherapeutin reißt die Tür zum Flur auf, brüllt: „Ich hab hier ne Hüfte in der Wirbelsäulengruppe! Wem gehört denn die?“

Juni 2015 – Reha 5 – Hüfte 1

Heute in der Massenabfertigungsabteilung (Strom, Rad, Motomed), ich höre aus der Nebenkabine: „So. (Vorhang: ratsch), Sie gehen mal da rein und machen das linke Knie frei.“ Protest: „Das Knie? Aber ich bin doch ne Hüfte!“ „Achgott, ich bin schon ganz… Sie sind ne Hüfte. – Hose runter!“

Juni 2015 – Reha 4 – dont believe the hype

Hier sind alle alt und krank oder haben so wie ich Krankheiten, die man erst haben sollte, wenn man alt und krank ist. Das ist sehr interessant. Da verschiebt sich die subjektive Statistik. Man denkt ja immer, wenn man so die Straße runterläuft, alle sind gesund, aber das stimmt nicht, eigentlich sind alle krank. Jeder hat was. Und ziemlich viele ziemlich doll und mehrfach. Die Krankheit ist wie ein Geheimnis, das alle mit sich herumschleppen. Und wenn sie noch nicht offensichtlich ist, dann brütet sie sich gerade aus. Und im Krankenhaus wird sie dann sichtbar gemacht. Da lässt man die Hosen runter, beim Arzt, im MRT, und am Mittagstisch. Vom Fußpilz über Diabetes bis zur versteiften Wirbelsäule ist alles geboten. Nur die Ärzte sehen unsere Welt wie sie ist. Ich misstraue ab sofort den Gesunden, jedem, der mir auf der Straße entgegenkommt. Dont believe the hype.

Reha-Lesson Number 1: Man sieht den Leuten ihre Krankheiten nicht an.

 

Juni 2015 – Reha 3 – Nike Air vs. Rollator

Der große junge Pfleger, blond, kräftig, sympathisch, mit weicher Haut, fast noch Babyspeck, und der kleine Herr K, knochig, knotig und so krumm, dass er immer auf den Boden schaut, gehen nebeneinander her. Der eine in seinen federleichten, super ergonomischen Nike Airs, der andere auf seinen Rollator gestützt. Ich sehe sie von oben, aus meinem Fenster, wie sie den Weg entlang laufen. Ganz langsam. Im Schneckentempo. Einmal ums Haus, so lautet die Aufgabe. Für Herrn K., aber auch für den Pfleger. Der junge Mann federt, tänzelt, beherrscht sich, dem alten Mann nicht das Gefühl zu geben, er würde am liebsten auf und davon rennen, drei, ach was, zehn Runden hätte er schon geschafft, der Sportjunge, wenn Herr K. nicht wäre. Aber darum gehts hier nicht. Nein. Ein Fuß vor den anderen, das ist Geschwindigkeit genug. Ab und an bleibt Herr K. stehen, und verschnauft. Wendet seinen Kopf in Richtung Pfleger, von unten hoch dreht er sich schildkrötenartig raus, aus seiner verkrümmten Wirbelsäule, und schaut ihn an, ein bisschen verschmitzt wirkt das, und sagt etwas. Der Pfleger lacht dann. Antwortet. Herr K. ist witzig. Die beiden verstehen sich prächtig. Zwischen ihnen ein ganzes Leben, der eine war mal, was der andere ist, der andere wird sein, was der eine ist. Ein rührendes Bild.

Juni 2015 – Reha 2 – 2 und 2

Frau M. ist neunzig Jahre alt, hat ein sehr hübsches, hell strahlendes Gesicht und ganz weiße Haare. Die trägt sie in einem coolen, fedrigen Kurzhaarschnitt, das zusammen mit den Hemden, die sie in ihre Jeanshosen steckt, gibt ihr ein insgesamt apartes, leicht lesbisches Aussehen. Jaja!, sagt sie, wenn man ihr was erzählt, Jaja! In so einem bestätigenden Ton von wegen Natürlich ist das so, klar!

Sie war Mathelehrerin, erst unter  Hitler, dann unter Ulbricht. Bis 58 hat sie hier in der Waldsiedlung gewohnt, also noch bevor Honecker und Konsorten da eingezogen sind. Dann ist sie nach Berlin-Ost, um ihre Mutter zu unterstützen, und nach der Wende zu ihrer Tochter nach Franken, wo sie als Versicherungsmathematikerin gearbeitet hat.

2 und 2 bleibt immer 4, sagt sie, egal wer grade dran ist.

Ich bin mir nicht sicher, ob sie recht hat. Aber ich mag sie trotzdem.

Juni 2015 – Reha 1 – die Nudel

Bewegungsbad.

Der Physiotherapeut wirft vom Beckenrand aus meterlange Styropornudeln in Quietschfarben ins Wasser, ein Tiertrainer am Seehundbecken. „Und jetzt klemmen sie sich die Nudel zwischen die Beine: So.“ Der Physiotherapeut macht‘s vor, 10 Erwachsene im Pool machen‘s nach. Die Nudel quietscht, man kämpft mit dem Auftrieb. Dann sitzen alle und dümpeln dahin, eine Gruppe artig paddelnder Seepferdchen mit überdimensionalen, erigiert aus dem Wasser ragenden, pinkfarbenen Penissen – wissend, dass ihre Schamgrenze sich in diesem Moment auf ewig nach unten erweitert hat.

Da geht dann plötzlich auch Nordic Walking.

Juni 2015 – Ameisenleben

ich verstehs nicht.

ich versteh nicht, was das soll.

das lebt und atmet und macht vor sich hin,

bis es dann krank wird oder gleich zerquetscht.

wenn man ein kind ist, und glück hat, dann macht es spaß und dann macht es vielleicht auch im folgenden ab und an mal spaß,

aber so im großen und ganzen – reicht das? dass das wetter gut ist oder das essen? dass das kämpfen keinen unterschied macht, oder der anstand, dass es egal ist, so oder so.

was für eine macht, energie, warp-antrieb! nur am lichter an- und ausknipsen und in der mitte ein bisschen am laufen halten, ein bisschen gerödel und gebange und gefühle fürs lebewesen.

was für ein abrieb im laufe der jahre.

ein ableben.

in den gesichtern und körpern.  immer kleiner wird der radius. „immerhin kann ich noch“. „man muss froh sein, dass“.

und dann die eingebaute angst vor dem nichts. vor dem nicht-leben. dem nicht rödeln, bangen, fühlen. damit man sich nicht auflehnt, gegen die macht.

fuck you, universe.