Januar 2016 – Stillen im Laufe der Jahrhunderte

Meine Lektüre von Die Clique, einem Buch über acht Frauen im New York der dreißiger Jahre, inspiriert mich zu einem Beitrag über Säuglings- und Kleinkindpflege im Laufe der Jahrhunderte. Gibts darüber schon ein Buch? Eine Diss, eine Habil? Wahrscheinlich. Falls nicht, sollte das jemand in Angriff nehmen.

In die Clique (noch aus ein paar anderen Gründen ein tolles Buch, aber dazu vielleicht später oder nie mehr mehr), gibt es eine tolle Episode rund um eine der Frauen, die in ihrem Freundeskreis dadurch Aufsehen erregt, dass sie ihr Kind stillt. Denn damals, so lässt sich deuten, war Stillen offenbar etwas, was man bei „den Hottentotten“ machte, also bei irgendwelchen Naturvölkern, die man als primitiv bezeichnete und im besten Fall aus dem Ethnologischen Museum kannte, das damals ganz sicher noch anders hieß. Oder von armen Fabrik- oder Landarbeiterinnen, die es nicht besser wussten oder aus ökonomischen Gründen nicht anders konnten. Jedenfalls war das Stillen offenbar weit außerhalb der bürgerlichen Sphäre der jungen Frauen, um die es im Buch geht. Doch die Freundinnen sind begeistert über dieses progressive Verhalten. Denn: der Ehemann der Frau, ein junger Arzt, (den sie sich geschnappt hat, denn das tun die college-gebildeten Frauen dieser Zeit, sie schnappen sich einen Mann, das klappt nicht immer und dann ists tragisch, mit Mann aber auch), hält das Stillen aus medizinischen Gründen für vorteilhaft fürs Kind – eine radikale, sehr moderne medizinische Ansicht, die sich zum Bedauern des ehrgeizigen, engagierten Arztes nur langsam gegen die konservativen, ältlichen Still-Gegner durchsetzt. Das Kind wird dabei aber nicht einfach gestillt, wenn es schreit, sondern nach einem peinlich genauen Zeitplan, den es unbedingt einzuhalten gilt. Abweichungen schaden! Dass die junge Frau im Grunde zum Opfer nicht nur ebendieses Zeitplans wird, dem sie sich mit aller Verzweiflung und allem Altruismus zum Wohle ihres Kindes aussetzt, sondern auch zum Opfer von kulturellen, gesellschaftlichen, ideologisch überformten Konzepten über Frau, Mutterschaft, Kindswohl und Wissenschaft, das zeigt die Episode auf brillante Weise.

Deutlich wird das vor allem einige Zeit später, als wir noch einmal zu ihr zurückkehren, zu einer Frau, die ihr inzwischen zum Toddler herangewachsenes Kind noch immer so stetig kontrolliert wie ihr Mann es wünscht, es aber mit Abscheu, Wut und Frustration beobachtet, weil es einfach nicht mit dem Einkoten aufhören will. Als sie eine der alten Freundinnen aus der Clique trifft, die ihr Kind auf eine Weise erzieht und ihm die Brust gibt, die die junge Frau nur als undiszipliniert und gefährlich ansehen kann, begegnet sie ihr gleichermaßen mit Faszination und Abscheu, und sorgt am Ende dafür, dass sie sich nie wieder treffen.

Dass jedenfalls Säuglings- und Kleinkindpflege und die Frage nach dem Ob und Wie des Stillens noch niemals frei war, und auch ganz sicher auch heute nicht im geringsten frei ist, was sich aber immer gerne eingebildet wird, so funktioniert Ideologie, von konstituierenden, diskursiven Verhandlungen über Frausein, Kindsein, Mutterschaft und Fürsorge, die von Fragen nach Klassenverhältnissen, Wissenschaft, Kultur, Psyche, Körper, Geschlechterverhältnis und Sozialstaat berühren, das ist da mal wieder glasklar geworden.

Das interessiert mich.

Januar 2016 – Wohnung

Ich wollte eine schöne Wohnung haben, eine Wohnung, in der es nicht durch die Fenster zieht oder die Nachbarn einen nachts um vier mit Psycho-Geschrei auf Trab halten oder Mäuse im Bad sitzen als wär’s ihre Eigentumswohnung oder die Klingel nicht funktioniert oder der Hinterhof ein Sammellager für Stinke-Kühlschränke und Mann-Mobilia-Regale ist.

Ich wollte eine Wohnung mit wenigstens einem Charme-Detail, zum Beispiel einer offenen Küche oder einem richtig großen Zimmer oder einer Aussicht auf den Fernsehturm oder einem Balkon, der nutzbar ist, kein Bierkasten-Balkon. Und dann wollte ich natürlich noch das übliche: das richtige Viertel, super verkehrsangebunden und trotzdem ruhig und billig – was ein Berliner halt so will.

Ich hab solche Wohnungen gesehen. Ich hab sie besichtigt, zusammen mit 150 bis 300 anderen. In Mitte, in Kreuzberg, Neukölln. Und nun hab ich diese hier genommen. Ich hab sie genommen, weil es die einzige war, die ich BEKOMMEN habe, bei allen anderen hatte ich keine Chance.

Diese Wohnung hier matched mit immerhin drei von vielen Wünschen: Sie ist günstig, (sofortige Erleichterung macht sich breit, also kein zu vernachlässigendes Kriterium), sie ist mitten in Mitte, und sie hat einen Balkon.

Trotzdem stehe ich jetzt in dieser Wohnung und denke: Das wars. Nach 12 Monaten Suche. Mehr war nicht drin. Mehr war einfach mal wieder nicht drin und mehr wird auch nie drin sein. Ich stehe in dieser Wohnung – 2 Zimmer, quadratisch, praktisch, gut, objektiv gibts nicht viel auszusetzen, wirft man alle Aspekte in die Waagschale – und denke:

Das ists, was auf meinem Grabstein stehen wird:

Mehr war leider nicht drin.

Die Wände kommen auf mich zu, nehmen mich von links und rechts in die Zange und ich denke:

In so einer Wohnung sterben verbitterte alte Frauen.

 

 

Januar 2016 – lesbisch als Option

Brüste verstehe ich. Also einigermaßen jedenfalls. Kommt natürlich immer auch drauf an, wie sie aussehen, es gibt sehr viele schöne Brüste – das weiß ich aus dem Fitnessstudio und der Sauna, interessanterweise eher nicht von den eh schon rar gesäten Freundinnen, die seh ich erstaunlich selten nackt, bin ja auch tendenziell raus aus dem Baggerseealter und da war man auch zuletzt in den 80ern nackt – aber es gibt auch ungefähr genau so viele nicht so schöne Brüste. Welche ich schön finde und welche nicht, weiß ich sehr genau. Da bin ich sehr klar. Aber mein Blick darauf ist weniger begehrlich, eher neugierig oder neidisch, gucken und anfassen sind ja auch zwei verschiedene Sachen. Küssen, das versteh ich, da sehe ich kein größeres Problem, wenn auch keinen großen Bedarf. Was ich allerdings überhaupt nicht verstehe, ist alles unterhalb der Gürtellinie. Aussehen, Geruch, alles da unten ist eine einzige Katastrophe, vollkommen reizlos, um nicht zu sagen, abstoßend. Ich kann die Begeisterung dafür nicht nachvollziehen, schon dann nicht, wenn Männern sich dafür begeistern. Nicht, dass ich was dagegen hätte, wenn jemand gesteigertes Interesse daran hat, sich mit meinem Aussehen und Geruch zu beschäftigen, voll abzugehen darauf, da wärs mir wahrscheinlich am Ende auch egal ob Mann oder Frau, da bin ich ganz Knast-Hete, orange is the new black, da hätte ich bestimmt auch jemand, der’s mir regelmäßig macht. Aber ich selbst könnte das bei anderen nur mit Würgereflex. In meinen Träumen kommen manchmal Frauen vor, klar, aber am Ende haben sie immer alle einen Penis. Und bei der üblichen Dreier-Fantasie sind es immer zwei Männer, nie eine Frau und ein Mann, dazu bin ich viel zu dominant, ich dulde keine anderen Frauen neben mir. Oder zu unsicher, wie man mag. Es hat Frauen gegeben, nach denen ich mich gesehnt  habe, für die ich Gefühle hatte. Wer weiß schon, wie weit das gegangen wäre, wenn es gegangen wäre. Ich schließe nichts aus. Nicht mal was unter der Gürtellinie. Aber bis dahin: Nee.

 

Dezember 2015 – Herztöne

1    Es ist doch so. Irgendwann im Laufe dieses frühen Werdens, also ganz ganz am Anfang, so auf der Ebene Zellklumpen, muss es einen Moment geben, in dem ein menschliches Herz anfängt zu schlagen. Zum ersten Mal. Ein Muskel muss sich gebildet, ansatzweise in vier Kammern geteilt haben, Venen, Arterien müssen angelegt sein, die auf mirakulöse Weise wissen, was zu tun ist – von einem bestimmten Moment an. Was ist das für ein Moment? Warum fängt irgendetwas an, zu schlagen, zu pumpen, ein sonores Geräusch zu verursachen wie eine Uhr oder ein Getriebe? Und warum redet niemand darüber? Man spricht darüber, dass ein Herz aufhört zu schlagen. Dass es stehen geblieben ist. Ein ähnlich gruseliger Moment, aber medizinisch viel nachvollziehbarer. Ein Herz pumpt und pumpt und tut was es soll, ohne jede Motivation, ohne jedes Zutun von irgendwas oder irgendwem, jahrzehntelang, bis es älter wird, anfälliger, müder, aus dem Takt gerät , und eines Tages, bleibt es stehen. Einfach so. Aber keiner denkt an den Augenblick, in dem es angefangen hat, indem es wahrscheinlich eher ein Zucken war als ein Schlagen, ein rhythmisch pumpendes Zucken, ein kleiner Blutschub durch dünnwandiges Gewebe. Nicht mal in der Abtreibungsdiskussion spielt das ne Rolle.

2    Bei der Gynäkologin im Wartezimmer lassen sie immer die Tür offen, wenn im Hinterzimmer die Herztöne der Babys aufgezeichnet werden. Ich hasse das! Es ist ein lautes, manchmal kruschelndes Geräusch, fump fump fump, ähnlich dem, das man hört, wenn man sich mit dem Finger rhythmisch im Ohr bohrt. Es ist so intim, dass mir manchmal ganz schlecht davon wird und ich will, dass es aufhört. Ich finde es obszön und unpassend, dass man mir die Herzgeräusche anderer Lebewesen aufzwingt, ich finde das eine Grenzüberschreitung in alle Richtungen, in meine, in die der Babys, und die der Schwangeren. Ich halte meine eigenen Herzgeräusche schon kaum aus, und auch die von T. finde ich nicht immer einfach beruhigend oder schön, im Gegenteil, in mir erzeugt das Hören von Herztönen eine Unruhe, eine Nervosität, eine diffuse ANGST. Keine Ahnung warum. Kann es so unangenehm gewesen sein im Bauch meiner Mutter? Hat es mich da schon nervös gemacht? Oder macht es mir Angst, weil es aufhören könnte, das Geräusch? Weil durch das Schlagen klar wird, dass es sich um einen Muskel handelt, eine Innerei, ein Organ, so banal wie komplex, dem es egal ist, wie es dir geht oder was aus dir wird, es macht seinen Job, den Rest machst du oder auch nicht. Brutale Natur, kein Schischi, hier wird gelebt oder auch nicht. Wie es gelebt wird und warum und wer es lebt, ist dem Herz egal.

Ich fasse fest meine Zeitschrift an, da im Wartezimmer, und versuche keine schwitzigen Hände zu kriegen und mich auf was anderes zu konzentrieren, Rezepte, Portraits, die Fashion-Strecke. Manche Babys haben unregelmäßige Herztöne, so dass man sich schon Sorgen macht, manche zarte, schwache, andere schnelle, kräftige oder präzise. Die schwangeren Frauen kommen dann raus, aus diesem Hinterzimmer, und es ist komisch, sie zu sehen, weil man gehört hat, was in ihrem Bauch vor sich geht. Wer da so drin ist. Dabei geht mich das nichts an. Dabei will ich das gar nicht wissen! Aber es scheint niemanden zu stören, außer mich. Die Leute scheinen eher gerührt. Ich verstehe, dass Eltern weinen, wenn sie das Herz ihres Kindes im Ultraschall schlagen sehen, wirklich, ich verstehe das. Aber als ich aufgerufen werde, bin ich wieder mal so froh, dass ich nicht wegen Schwangerschaft da bin.