Dezember 2017 – M. am Telefon

_Ist furchtbar. Das Wetter, ja, und ist auf dem Boden, alles! So dass die Leute an den Füßen. Also: scheusslich!  Wirklich wahr. Es ist gar nicht schön. Morgen? Nein, das weiß sie nicht. Wer? Ja, das kann sein. Da müsste man B. fragen. Aber das ist jetzt schön, dass wir telefonieren.

_Nein, sie ist richtig sauer. Richtig, also es ist manchmal wirklich schlimm. Der B. ist furchtbar. Sie will nach Hause. Also nach oben. Sie hält es nicht mehr aus. Immer wieder. Sie weiß auch nicht, wie das weitergehen soll. Aber da kannste nix machen. Es lässt sich nicht ändern. Sie begreift es nicht.

_Ach, du glaubst es nicht! Ja, da ist unser Babylein. Was macht es jetzt? Ah, es hat ein, ja, da kann es fahren. Wir haben ein Bübchen. Hoppla -ohje. Jetzt kommt die Mama, seine Mama, ach ja. Aber so goldig. Mit goldenen Löckchen. du, der ist so süß, wirklich. Was der schon kann. Und der Vater ist nicht da. Manchmal geht es nicht anders. Aber der hat es mir erklärt. Der ist woanders. Aber das ist so toll, wirklich, das ist so schön, guck mal.

Dezember 2017 – Autonom gefahren

Wir sitzen in einem Zug. Falls wir an einer BEDARFSHALTESTELLE aussteigen wollen, müssen wir uns beim TRIEBFAHRZEUGFÜHRER melden. Wer will sich schon bei so jemand melden.

Wir steigen in Bad Birnbach aus. Der Bahnhof sieht, wie alle anderen Bahnhöfe, an denen wir seit Passau vorbeigefahren sind, aus, als wäre er ziemlich günstig zu erwerben. Auf der einen Seite hat man Schienen, auf der anderen eine Schnellstraße. Und wo ist jetzt Bad Birnbach? Hier ist jedenfalls nichts. Theoretisch gibt es einen Bus nach Bad Birnbach rein. Theoretisch könnten wir auch 2,5 Kilometer mit unseren Koffern die Schnellstraße entlang laufen, bis wir bei der Kirche im Dorf sind. Das Hotel seufzt am Telefon und schickt den Naivlingen aus der Großstadt ein Taxi. (Familienbetrieb. Die fahren hier alle und alles in dritter Generation).

Wir machen uns auf die Suche nach dem autonom fahrenden Bus und folgen der Spur aus Warn-Gelb, die krasse 800 Meter lang ist und von „Achtung! Autonom fahrendes Fahrzeug“-Schildern gesäumt wird. Überhaupt ist man sehr sehr vorsichtig mit diesem unberechenbaren, gefährlichen, neuen Ding. Man wirbt um Akzeptanz, und 15 Stundenkilometer sind das höchste der Gefühle für den kleinen Bus, eine echt süße, quadratische Kiste. (Der würde bestimmt gerne schneller fahren).

Da vorne ist er! Wir haben ihn, 15 km/h, eingeholt.

Wir steigen ein, da geht er kaputt.

Die Begleitperson – die ihr „audonomes Bussle“ jetzt schon liebt, jetzt schon so viel emotionale Affinität zur Maschine aufgebaut hat wie zu einem Haustier, so viel Pflege, Sorge, Ärger braucht und macht es – ist unglücklich. Sie versucht es mit: Did you turn it off and on again, tippst auf dem Bildschirm rum, aber es ist nichts zu machen, das Bussle ist durcheinander, Fachausdruck: Abgestürzt.

Am nächsten Tag versuchen wir es nochmal. „Wegen Systemprogrammierung heute keine Fahrten“, steht an der Haltestelle. Ich weine fast. So kurz vor autonom gefahren! Damn.

Aber die Rottal-Therme und der Igel auf dem Rasen waren auch okay.

November 2017 – Sarg

Heute liegst du im Sarg. In einem Raum, den man extra dafür anmieten kann. Es kommen Menschen und die Situation ist absurd. Denn du liegst da drin, in diesem Sarg. Da vorne drin, in dieser Kiste. Deckel drauf. Wir wissen was drin ist, und wir wissen es auch nicht. Andere haben gesehen, wie du jetzt aussiehst. Andere haben sich beschäftigt mit dir und deinem Körper, der gezeichnet ist von deiner Tat. Du siehst nicht mehr aus wie du. Aber trotzdem bist du es, der da drin liegt, hier so vor uns, in dieser für dich doch viel zu schmalen Kiste. Es muss eng sein da drin. Wir stellen uns vor deinen Sarg, der jetzt irgendwie dir gehört, der du bist, und sagen etwas zu dir, innerlich, äußerlich, wir legen Sachen auf dich drauf, geben dir etwas mit, und wir weinen. Wir sehen die anderen weinen, und weinen, weil sie weinen. Weil wir nicht verstehen, warum du unbedingt von uns weg wolltest. Warum es nicht gereicht hat, nicht genug war. Es kommt Musik und es wird viel geschwiegen und nicht immer weiß man genau, was jetzt zu tun ist und man schaut die Menschen an, die man nicht kennt, und deine Familie sind, und ist beklommen, aber vielleicht wissen sie auch nicht so ganz genau, was man tun muss. Ich hab dir keine Blumen mitgebracht. Ich glaube eigentlich nicht, dass du Blumen mochtest. Oder zumindest waren sie dir egal.

Ich hab deinen Sarg berührt, irgendwo dort, wo ich deinen Kopf vermutet habe. Ich wollte eine Verbindung aufnehmen, zu dir. Ein bisschen Wärme schicken oder spüren, Energie, durch die Wand durch, hinter der du bist. Lebewohl sagen, so absurd das ist, mich entschuldigen, so sinnlos es ist. Dich trösten. Es muss so schlimm und so kalt gewesen sein. Ich vergesse dein Gesicht, und auf Fotos bist du oft wie ein Geist, nicht zu greifen, nicht frontal, abgewandt, verdeckt, verwaschen. Dann wieder sehe ich dich oft, von hinten, auf der Straße, aber das bist nicht du, nur eine Statur, die dir ähnlich ist.

Ich bin den ganzen Tag zutiefst erschöpft.

November 2017 – Black Box

Es wird eine Weile her sein. Wir werden tanzen, und uns anschauen, und wir werden wissen, dass wir an ihn denken, und wir werden weinen, und über was anderes reden, und lachen, und wieder auf ihn zurückkommen, immer wieder auf ihn zurück kommen,

wie in Ebbe

und in Flut,

und uns fragen, gegenseitig, wie geht es dir. Damit.

Aber noch sind die Tränen heiß. Die Traurigkeit, der Ärger, die Wut, die Schuld, die als Erste da war. Das Entsetzen über die Tat, das Tun. Die Aggression darin, die sich gegen uns, das Leben, die Welt richtet. Die Brutalität, die Gewalt, die darin liegt, und zu der er in der Lage war, die in ihm verborgen war, wie sie in uns allen verborgen ist, mal mehr mal weniger, irgendwo da drin. In unserer Black Box. Mit der wir einander fremd sind und bleiben, wie sehr wir uns auch zugetan sind, uns womöglich kümmern oder gar lieben. Das Hinwerfen. Alles, das Handtuch. Sich hinwerfen. Sich entgegen werfen, wegwerfen, unterwerfen, überwerfen. Und uns verwerfen. Begraben

wird er bald sein.

Wir werden gesprochen haben. Gefragt, erzählt, geschildert, wir werden uns wiederholt haben, in Schleifen umkreist und eingekreist haben, was es noch zu sagen gibt, um die Erzählungen zwischen uns zu schieben, zwischen uns und uns, zwischen uns und ihn, Wahrheitswolken aus Watte. Ich hab mal jemanden gekannt, werden wir eines Tages sagen, der

In meinem Kopf führe ich Gespräche mit ihm. Ich sehe, wie es dir geht, ich verstehe wie es dir geht, ich kenne, wie es dir geht. Ich kann mir vorstellen, was dich umtreibt.

Ich bringe dich jetzt.

In die Klinik, zum Krisendienst, zum Arzt. Denn zu dem geht man, wenn es einem so geht wie dir. Der Arzt wird dort sein und mit dir sprechen und dir Medikamente geben. Du wirst schlafen, lange, so lange und so gut wie du lange nicht geschlafen hast, du wirst ohne Angst sein, und ohne Dunkelheit, und wenn du aufwachst, sieht die Welt anders aus. Dann wird es dauern. Es wird nicht lustig sein. Es wird keinen Spaß machen, es kommt Arbeit, es kommen Rückfälle. Aber in ein paar Monaten, ist das Licht am Himmel schön, der Kaffee schmeckt, und es kommt ein anderes Lied im Radio. Und du wirst denken, gut, dass ich das noch erlebe.

Meine Rettungsfantasien.

Als hätte ich die Augen auf gehabt und doch nichts gesehen. Als wäre der Weg vom Fühlen zum Handeln zu weit gewesen. Als hätten meine Synapsen nicht funktioniert. Hürden, die ich gebaut habe, Hürden, die er gebaut hat. Auf die es gegolten hätte, keine Rücksicht zu nehmen. Ich war nicht überrascht. Nicht eine Sekunde, hat mein Gehirn gezögert die Information anzuerkennen. Also warum! Haben die Synapsen nicht funktioniert.

Das geht nicht, hätte ich gesagt. Das ist keine Option. Hörst du? Es gibt Dinge, die du liebst, das weiß ich. Lass dich nicht faszinieren, verführen, lass dich nicht rüber ziehen, auf die dunkle Seite der Macht. Hör auf, damit zu flirten, dich zu gewöhnen, an den tödlichen Gedanken, ihn durchzuspielen und erträglich zu machen, ihn zu etablieren. Hör auf, ein Dann zu fantasieren. Kein Dann. Ein Nichts. Kein Trost, keine Erleichterung. Nichts.

Heute bist du zwei Tage tot.

Finalität.

Der Schmerz setzt ein. Die Trauer kommt.