Dezember 2022 – Probealarm

Ich sitze bei Ikea über einem Kaffee für family member, da klingeln alle Handys auf einmal. Probealarm der Bundesregierung. Tränen steigen mir in die Augen. Der Warnton rührt

an eine Seite in mir.

Ich denke an meine Mutter, der die Tränen kamen, wenn die Düsenflieger in den 80ern über unser Haus schossen

und sie sich im Krieg befand, als Kind, auf dem Weg in den Bunker. 

Da ist jemand, der sich Sorgen macht. Auch deshalb steigen die Tränen hoch, jemand, der es wissen muss, der das Szenario kennt. Das in der Luft liegt. Das aufgerufen wird vom Ton, ähnlich schrill wie damals, als ich das Kind eines ganz anderen Krieges war. Das Amt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. 

Warnstufe: Extreme Gefahr. Es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung. Es besteht kein Handlungsbedarf. Dies ist ein Probealarm. 

Kurzes Aufschauen, Schreck, Irritation, Lächeln, kurzes Gespräch dazu bei den Sitznachbarn hinter mir. Das wars. Alle essen weiter, Köttbullar jetzt auch vegan. 

Ich ärgere mich, dass ich die Meldung nicht abfotografiert habe. Als ich vom Link zurückscrolle ist sie weg. 

Dezember 2022 – Die Schale

Die Schale ist das Beste, was die Küche zu bieten hat. Sie ist das wichtigste Geschirr, das schönste Objekt. Sie ist es, die wir gereicht bekommen, in die man uns etwas schöpft oder eingießt, in die wir etwas tunken und tauchen. Die wir auslöffeln. Bis auf den Rest. Die wir halten, mit beiden Händen. In die wir schauen. Auf etwas Warmes, Dampfendes. Tröstendes. Die Schale ist die Wärmflasche unterm Essgeschirr. Sie ist es, die wir formen, mit den Händen. Die Schale ist die erste, die kleinstmögliche Einheit. Suppe. Tee. Reis, ein Gericht, ein Gedicht. Wir schieben und halten unser Gesicht über sie, kippen uns hinein in sie, damit sie uns umgibt, für einen Moment, mit dem,

was sie für uns bereithält.

Dezember 2022 – Schlaf!

Der Schlaf ist zurück. 

Ich: Murmeltier 

die Augen seufzend klein, das Fell gezogen 

über mich,

die Ohren

eingedreht

in die Wärme meines speckig gewordenen Backofenbauchs 

so schlafe schlafe 

und schlafe ich.  

Es gibt keine Not 

aufzuwachen des Nachts 

Gedanken zu zerteilen, zu verschrauben, zu fräsen, zu hämmern,

keinen Grund des Morgens. 

Draußen kann warten, drinnen ists ruhig. Ruhig, ruhiger. Sagen wir, 

lange nicht so ruhig gewesen. 

April 2021 – Macht und Herrschaft

Machtapparat.

Herrschaftswissen.

Warum hast du mir nicht gesagt, dass T was mit S hatte.

Warum hast du mir nicht gesagt, wie es dir geht. Was du verdammt nochmal denkst und empfindest.

Und warum, warum hast du mir so gerne so viel vorenthalten.

Herrschaftswissen.

Machtapparat. Sich entziehen. Sich fremd machen. Geheim sein.

April 2021 – die 20er

Ich hab doch gesagt, die 20er werden wild. Alles war durcheinander damals, Klimakatastrophe, Flüchtlingsthema, Trumpismus, alles war am Kochen und Protestieren, man hatte das Gefühl, labil zu sein, zu langsam zu sein für die schnelle Zeit, es gab Wut und Ideen, Vorschläge und Forderungen, die Welt tanzte.

Wir sind in Gefahr.

Februar 2021 – an der Haltestelle

Ich stehe an der Tramhaltestelle. Es ist kalt, ich trage eine Mütze, die Kapuze vom Pulli obendrüber, eine Stoffmaske im Gesicht, einen langen Mantel an und rede ehrlich gesagt vor mich hin. Muss ja keiner wissen, was ich so unter meiner Maske mache. Plötzlich spricht mich jemand von hinten an. Hi, entschuldige, – ich drehe mich um. Da steht ein Typ, vielleicht Anfang dreißig, im aktuell gebührenden Abstand, einen Mund-Nase-Schutz auf. Ich finde du siehst gut aus, sagt er. Ich muss beinahe lachen. Ich meine, woher will er das wissen, er hat mich von hinten gesehen (oder hat er mich von der anderen Straßenseite ausgecheckt?), ich bin von oben bis unten zugedeckt, so kurz vor Vollverschleierung. Du hast so schöne blonde Haare, sagt er. Er meint die splissigen, nach einem Lockdown-Lockerungs-Friseurbesuch schreienden Zipfel, die unter meiner Mütze hervorgucken. Oh, sage ich, und lächle verlegen ob der schief liegenden Gesamtsituation. Ich wollte dich nicht erschrecken, sagt er. Okay, sage ich, und nicke. Aber ich weiß jetzt auch nicht, was zu tun ist, er steht da, seine Augen über der Maske, ein heller Parka, auch von ihm ist nicht viel zu sehen, will ich mit ihm einen Kaffee trinken, nein, will ich mit ihm ein paar Meter Richtung nach Hause laufen, nein, er ist viel zu weit weg, viel zu jung, er macht mir Komplimente für was Äußerliches. Wirst du oft angesprochen, fragt er. Nein, sage ich wahrheitsgemäß, eigentlich nicht. Wie machen das denn die anderen Männer, fragt er. Und dabei klingt er für einen Moment so traurig und hilflos und einsam und irritiert, von all dem zwar jeweils nur ein bisschen, aber es reicht doch, um mich innerlich in die Knie gehen zu lassen, so sehr rührt mich das. Ich weiß so sehr, was er durchmacht, und ich kann ihm nicht helfen, ich kann nichts für ihn tun, ich weiß es doch auch nicht, denke ich, ich hab doch auch keine Ahnung wie es geht, wie es gehen soll. Kann das nicht einfach alles mal aufhören. Kann das nicht einfach alles mal anders sein. Ich ziehe den Stecker. Jetzt ist es mir doch ein bisschen unangenehm, sage ich zu ihm, denn das ist es,

aber ich danke dir für dein Kompliment.

Er trollt sich.

Februar 2021 – T71

Beim Therapeuten gewesen,

über das irritierende Gespräch mit einer Regisseurin gesprochen und die Frage, ob ich Attacken gegen mich schlicht nicht wahrnehme oder einfach nur so tue, als existierten sie nicht.

Februar 2021 – T70

Beim Therapeuten gewesen,

übers Einsamsein gesprochen, von der „medical emergency“-Situation erzählt, der nicht angesprochenen Traurigkeit bei C. am Telefon, eine Kurve über M. gemacht, die mich heute so wenig erkennt wie früher, zur Frage des Sichzeigens gekommen und again, über trial and error als Methode.

Januar 2021 – Wotan 2

Überrascht muss ja keiner mehr sein, von gar nix. Doch als ich einen Artikel lese, in dem darauf hingewiesen wird, dass Trump bei einem blutigen Aufstand den NOTSTAND hätte ausrufen können, und was ihm das ermöglicht hätte, nämlich unter anderem einfach im Amt zu verbleiben, erschrecke ich doch.

Januar 2021 – Schöne Söhne

Mein Therapeut gibt mir einen Satz von seiner Oma mit auf den Weg. „Andere Mütter haben auch – in Ihrem Fall muss es heißen – schöne Söhne.“ Er sagt ihn mir, als würde er mir was schenken und ich fühl mich auch beschenkt. Weil es mir etwas über ihn erzählt. Und weil er mir diesen Satz, einen Satz, den alle Omas sagen, ein Spruch ja eher, übergibt wie einen Schatz, den er einmal bekommen hat und der ihm einmal geholfen hat, und auch wenn es mir schwer fällt, beziehungsweise ich mich aus persönlichen Gründen dagegen wehre, diese etwas abgestandene Kalenderweisheit zu glauben, ist sie mir plötzlich etwas wert und erscheint mir wahr und eine Möglichkeit, sie zu denken.

Dezember 2020 – Merry Lonemas

Weihnachten nehm ich dieses Jahr als personal Challenge. Wenn ich in den letzten beiden Jahren etwas verstanden habe, dann, dass ich allein bin. Dann bin ich jetzt eben auch allein. Ich muss mir nur überlegen wie. Wie ich es einrichten, wie ich es überstehen, überleben kann. Niemand ist hier oder hat Zeit, alle sind bei ihren Faa-mii-lien, das (früher mit T. zusammen veranstaltetes, insofern auch nicht unbelastetes) „Dinner für die Daheimgebliebenen“ ist praktisch unmöglich. Es bleibt keiner daheim – Corona hat Weihnachten und Familie nochmal so richtig hochgefahren, da bleibt kein Auge trocken, Merkel: lieber jetzt Zähne zusammen beißen, damit die Menschen Weihnachten mit der Familie feiern können, die Familie, die Familie, das wird hier so langsam zum politischen Fetisch. Gleichzeitig wird kräftig über Einsamkeit feuilletoniert.

Am Ende gibt es dann tatsächlich haarkleine, von der Politik ausgearbeitete Regelungen zur Verwandtschaft ersten Grades, nicht, dass sich da Patchwork oder Wahlverwandtschaft oder irgendsowas reinmogelt, ins Blut- und Bodengefüge. Mutti kocht, Vati fährt, Opi sitzt im Sessel und die Kinder haben Glanz in den Augen.

Aus Lockdown light wird Lockdown hart, keiner hat es anders erwartet. Die Zahlen sind schlecht und bleiben es hartnäckig. Der Winter wird schrecklich.

August 2020 – Alte Gewächse in frischem Gelb

O. schickt mir ein Foto. Ein Demonstrant auf dem Alexanderplatz trägt einen Ganzkörperschutzanzug in Gelb. Über seiner rechten Schulter eine große Umhängetasche in Blau, darauf steht: schön lyrisch unter einander: Klimawahn, Schuldkult, Impfzwang, Multikulti, Gendergaga. In der linken Hand trägt er eine rotes Schild. „Hygiene“ steht in Runenschrift darauf. Sein Arm verdeckt kaum das, was darüber steht: Deutsche, Deutsche Hygiene.

Den Feind in der Tasche, das Ziel vor Augen.

Was wächst da heran.