November 2025 – Vorfahrt

Ich gehe frühmorgens die Linienstraße entlang, auf dem Weg zu einem Termin und denke über etwas nach, was mich in letzter Zeit in verschiedenen Verkehrssituationen beschäftigt hat: Wenn ich als Fußgängerin eine Nebenstraße überquere, müssen mich von der Hauptstraße abbiegende Verkehrsteilnehmer vorlassen? Ich frage Chat. Chat sagt zu meinem Erstaunen Ja.

Ich weiß, dass ich das so in der Fahrschule gelernt habe, aber das ist lange her und ich dachte, es sei vielleicht irgendwie veraltet, denn: In ganz Berlin. Macht das kein Mensch. Nie. Nie, nie, niemals, alle Autofahrer und Radlerinnen biegen in die Nebenstraßen ein, selbstverständlich davon ausgehend, dass sie Vorfahrt haben. Sie sind ja auf der Straße. Du nur auf dem Gehweg. Auf der Straße wird gefahren, auf dem Gehweg wird gestanden, sie fahren, du guckst dich vorsichtig nach allen Seiten um, bis die Bahn frei ist. Ich schau vom Handy hoch und betrete die Nebenstraße. In diesem Moment zieht ein Mann auf einem Lastenrad mit Kind drin dicht an mir vorbei, so dicht, und mit so hoher Geschwindigkeit, dass ich zurück auf den Gehweg springen muss. Dabei pfeift er. So ein langes Pfeifen, das mich warnen soll.

Nee, schrei ich ihm nach, ich hab hier Vorfahrt, du Arsch! Frag mal Chat GPT!

Das Ganze ist natürlich hochkomisch. Überfahren werden beim Vorfahrtsregeln recherchieren.

Was ich aber gar nicht witzig finde. Das ist das Pfeifen. Das bringt mich noch die ganze restliche Linienstraße entlang zur Weißglut. Ich meine, was bin ich, ein Hund?! Benutz deine Klingel oder ruf Vorsicht, du beschissener Öko-Papi (Vollbart, Helm) mit deinem Macho-Lastenrad-SUV-Gehabe! Kompensier woanders.

Pfeifen, ey, würdeloser gehts echt nicht. Und dann noch von Mann zu Frau.

Aber klar, die kleine Tochter im Lastenrad, die hier gerade gelernt hat, dass man Leute anpfeift, damit man ja nicht die krass hohe Geschwindigkeit drosseln muss, die man so schön drauf hat, und womöglich vorsichtig und defensiv fahren muss wie der letzte Schwächlings-Loser, die muss in die Kita und du in deine Öko-Fabrik.

Wahrscheinlich arbeitest du bei einer NGO, die sich für mehr Radwege einsetzt und wir kennen uns eigentlich irgendwo her.