Oktober 2025 – Millenial-Party

Eine Millenial Party. Da Oktober ist, ein Motto: Was hat euch gehauntet in den vergangenen Dekaden? 

Auffallend viele dieser Endzwanziger/Anfang Dreißiger kommen als irgendwas mit Internet bzw. Social Media. Als Smartphone zum Beispiel: Ganzkörperpappe um den Hals, oben nur noch ein Akkubalken, (Panik überträgt sich sofort), die Vorderseite übersät mit Apps, die DB-App prominent unten rechts für schnellen Zugriff platziert, was ich witzig finde. (Viele hier kommen aus der Theaterwelt, so die Selbstbeschreibung, die sind ständig unterwegs). Oder als Kommentarspalte: Pappe um den Hals mit einem aus Social Media gezogenem Kommentar (she looks like a girl who acts all sweet but when she gets criticism she goes home and microwaves her hamster; keine Großbuchstaben). Oder mit einer aus zwei Handys gebastelten Brille bzw. Brett vorm Kopf. Dieser Gast allerdings ist kein Millenial mehr, die um den Kopf geschnallten Handys sind aus den zehner Jahren, ein iPhone-Early-Adopter. Auch andere beklagen auf unterschiedliche Weise den Internet- und vor allem den SM-Wahnsinn.

Ich unterhalte mich in der Küche mit einem der Millenial-Gäste darüber, teile meinen Eindruck, dass das Thema hier viele zu haunten scheint. Ja, sagt er, und nickt wissend und ein wenig bekümmert. Ich frage ihn, wo er denn so ist, auf Insta, Tiktok? Insta kannst du vergessen, sagt er fauchend, das ist nur noch Werbung. Also, Selfmarketing, fügt er hinzu und wischt mit seinem Blick über die versammelten Theaterwelt-Angehörigen. Du bist da nicht?, frage ich. Doch, ich war da, super viel, und schon immer noch, hab ständig Stories gepostet, aber … er macht eine wegwerfende Handbewegung. Fragt stattdessen, ob ich bei TikTok bin. Ich hab die App, sage ich. Nutz die aber nur zu Recherchezwecken, wenn ich mal was nachgucken will, wie irgendwas funktioniert. NPCs, Booktok, Tradwives oder sowas. 

Ich erzähle ihm, wie geschockt ich mal über die ersten zehn Vorschläge war, die Tiktok mir nach langer Abwesenheit gemacht hat, und die doch bestimmt voll mein Ding wären und die ich gerne direkt hier mal anklicken könnte. Das Harmloseste waren zwei non-thematische InfluencerInnen, die berühmt waren, weil sie berühmt waren und von denen ich peinlicherweise noch nie gehört hatte, ansonsten Pornos, aber gleich so im Stil von: „cute Dreizehnjährige Höschen“, und so, dass man sich fragt, wieso ist das eigentlich nicht verboten, und dann noch offensichtlich rechte bis rechtsradikale Seiten. Offenbar ist TikTok bei den Vorschlägen davon ausgegangen, ich sei ein durchschnittlicher junger, männlicher Nutzer, den das statistisch erwiesenermaßen brennend interessiert. Er nickt wieder, in dieser Mischung aus bekümmert und wissend. Sagt, er habe sich seinen Algorithmus inzwischen ganz gut zurecht gebaut und erzählt mir, dass TikTok einfach viel schneller ist und viel näher dran als alles andere. Er bezieht seine Informationen und Nachrichten praktisch nur noch von dort. Er beschreibt Videos von ICE-Razzien und -Festnahmen, die man dort so unmittelbar und authentisch verfolgen kann, wie nirgendwo sonst. Oder Videos aus Gaza. Oder aus der Ukraine. Bis das beim 55-jährigen SZ-Redakteur angekommen ist, der das dann eventuell in einem Artikel zwei Wochen später aufgreift, sei alles längst vorbei und die Welt woanders. Gegen Tiktok kann man das echt voll vergessen, schnaubt er und schüttelt den Kopf. Ich nicke, wissend und bekümmert wie er, denn dazugehören will man ja schon.

Dieses Gespräch beschäftigt mich noch länger. Zunächst frage mich natürlich, was er eigentlich dachte, wie alt ich bin. Ich glaube nicht, dass er davon ausgegangen ist, dass ich in etwa so alt bin wie der SZ-Redakteur, (irgendwie hat er mich im Kontext für alt, aber doch ein wenig jünger gehalten, wer lädt auch schon Menschen in Muttis Alter auf seine 30er Party ein), und ich hatte auch überhaupt kein Interesse daran, ihm diesbezüglich reinen Rotwein aus der Toscana einzuschenken, ha ha. Zum einen erfährt man undercover mehr. Vor allem aber hätte ich mich geschämt. Denn immerhin bin ich im selben Alter wie der geschmähte SZ-Redakteur, und deshalb wie ebendieser verdächtig, mich in meiner Dinosaurierhaftigkeit zu suhlen und den Meteoriteneinschlag nicht gehört zu haben. Und da ist ja auch definitiv was dran. Gleichzeitig spüre ich während des Gesprächs Widerspruch im Bauch heranwachsen, getriggert vielleicht einerseits durch die pauschale Abfälligkeit gegenüber dem SZ-Redakteur, mit dem ich mich ja doch vielleicht auf kleiner Flamme identifiziere und solidarisiere. Ich meine, der könnte theoretisch ein Freund von mir sein. Wenn er ein freier, armer Journalist wäre zumindest. Andererseits vielleicht auch durch sein zwar waches und herrlich kategorisches, denn wach und kategorisch ist ja immer catchy, aber wenig durchdachtes Statement.

Hat er Recht damit, dass Tiktoks Unmittelbarkeit und Ungefiltertheit, der Eindruck jetzt und hier dabei zu sein, so viel wahrhaftiger und glaubwürdiger ist als der gediegene Journalismus der deutschen Printmedien. Natürlich ist da was dran, das ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn ich ein verwackeltes Video sehe, auf dem jemand selbst um sein Leben rennend, einen Bombeneinschlag, Tote und Verletzten filmt, um der Welt da draußen zu zeigen, was hier wirklich los ist, dann bin ich natürlich auch von so etwas berührt wie der „Echtheit“ des Moments. Ich verstehe die Verzweiflung und die Wut, die im Auslösen des Bildes steckt, ich sehe den Versuch, mit so einem Clip an den klassischen Medien und ihren Gesetzen vorbeizukommen, eine andere Art von Öffentlichkeit zu erreichen, ein Dokument abzuliefern, vom himmelschreienden Ereignis, einen Beweis, hinter den doch Bitteschön jetzt aber wirklich niemand mehr zurück kann.

Doch zu glauben, dass ein Bild im Kontext von Social Media irgendwie wahrhaftiger ist, immer schon mehr weiß und mehr sagt, als ein SZ-Artikel je sagen könnte, scheint mir fatal. Die Bilder sind gerade auf Social Media nicht unmittelbar, nicht ungefiltert und schon gar nicht unschuldig. Sie sind den Gesetzen der Social Media unterworfen, der immer kürzer werdenden Gewinnspanne zwischen Auftauchen und im Ozean ersaufen. Kaum sind sie hochgeladen, verkommen sie. 

Die Bilder werden gejagt, sie jagen einander, sie jagen uns. Sie werden geliked (!) und geteilt, manchmal werden sie zum Bild der Sekunde. Sie reihen sich ein in Tausende und Abertausende von Bildern. Sie sind banal, weil sie zu ihrer eigenen Banalisierung beitragen. Sie sind obszön, weil sie mit ihrer Unmittelbarkeit um Gewinn buhlen. Sie behaupten Aussagekraft, ohne aussagekräftig zu sein.

Ich bin jedenfalls froh über jeden old school Redakteur, der von einem noch existierenden Printmedien bezahlt wird und sich hinsetzt, um die Bilder anzuhalten, und den Atem, und das alles ein bisschen einordnet. Dass er schlecht recherchiert und niemanden vor Ort interviewt und sich zu fein ist für die Tiktok-Clips, das kann man ihm zu Vorwurf machen, wenn es denn so ist. Aber zu sagen, man könne diese Art von Medialität echt vergessen, weil nur noch Tiktok Wahrheit und Erkenntnis liefere, da geh ich alte weiße Frau echt nicht mit. Abgesehen davon, dass das auch nicht weit weg ist von Lügenpresse. Dem Schlagwort, das ja immer auch die Konkurrenz aufmacht zwischen Boomer-Journalismus und freshem Social Media.

Ist gehauntet sein von Social Media lediglich eine gewinnbringende Akademo-Kunstszene-Behauptung auf der Millenial-Party? Den Pinzipien entgegentreten oder aus ihnen heraustreten, das geht nicht? Nein, irgendwie nicht. Leiden und im Leiden überleben sind eben zwei verschiedene Sachen.