November 2025 – la valise

Im ICE Restaurant stehe ich kurz auf und gehe zur Gepäckablage hinter mir, um etwas aus meinem Koffer zu holen. Der Koffer ist weg. Die Leerstelle, die er hinterlassen hat, verblüfft mich. Für einen Moment füllt mein Hirn sie mit dem vertrauten schwarzen Rollkasten auf, sogar der zuletzt auf Stufe 1 herausgefahrene Griff erscheint deutlich. Dann realisiert es, das Hirn: Die Lücke bleibt. Ich spreche unseren eher unsympathischen Kellner an, der am Tisch hinter mir hantiert. Haben Sie meinen Koffer gesehen? Er schaut auf die Lücke, ebenso irritiert wie ich, und dann zu dem Koffer, der an der anderen Wand der Gepäckablage steht, meinem verschwundenen Koffer quasi gegenüber. Oh nein, sagt der Kellner, jetzt hat der Franzose den falschen Koffer mitgenommen.

Der Franzose. Der Franzose war nur kurz im Restaurant. Ein Mann um die siebzig, der, wie so viele Franzosen, nur Französisch sprach, und ein, zwei Sachen bestellt und rasch verzehrt hat. Er saß mit dem Rücken zu mir. Ich bekomme Panik: Hatten wir einen Halt seit er das Restaurant verlassen hat, ist er mit meinem Koffer ausgestiegen, ich war so vertieft ins Lesen, im Koffer ist mein Laptop, fällt mir siedend heiß ein, wie soll ich die nächsten Tage arbeiten, wegen der Klamotten gehts ja vielleicht, aber mein Schlüssel!?, wie soll ich zuhause reinkommen, ha!, den Schlüssel habe ich vor der Fahrt noch in meine Umhängetasche getan, damit es später vor der Haustür schneller geht, mein Geldbeutel, mein Handy sind zum Glück auch da drin. Der Kellner läuft augenblicklich los, den Gang hinunter, ich ihm nach, verblüfft, dass er das macht, er scannt mit den Augen links rechts die Reihen ab. Ich komme mir ein bisschen dumm vor, ein Abteil, noch ein Abteil, noch ein Abteil, das ist ein langer Zug, der Kellner macht Tempo, ich sehe wenig Aussicht auf Erfolg, ich glaube nicht, dass ich den Mann wieder erkennen würde, und der Zug hält gleich an der nächsten Station, wo ist er bloß hingelaufen, jedenfalls nicht zu seinem Koffer! Ich bleibe bei der Zugbegleiterin stehen, an der wir vorbeikommen, frage, ob sie vielleicht eine Durchsage machen kann. Sie lässt sich nicht beirren bei ihrer Fahrkartenkontrollarbeit, antwortet erstmal gar nicht. Ich beschließe zu warten, was passiert. Irgendwann kommt der Kellner zurück: Er hat’s gemerkt, sagt er, er ist schon auf dem Weg zu Ihnen, er hats selber gemerkt, dass er den falschen Koffer hat, Puh, sage ich erleichtert, da ist mein Laptop drin, Ja, sagt er, kann ich nichts für. Komischer Typ.  

Da kommt der Franzose mit meinem Koffer durch den Gang gewankt, er redet irgendwas auf Französisch, ich verstehe leider nur valise, aber wir freuen uns beide. Wir gehen gemeinsam ins Restaurant zurück. Er nimmt seinen Koffer, (wie man die beiden verwechseln kann, versteht kein Mensch, seiner ist ein ausgemergelter Toplader aus Stoff in Hellgrau.) Ach, was wäre das Ganze doch für ein supernices Meet Cute, wenn er ein bisschen jünger und weniger verpeilt wäre. Er nimmt seinen Koffer, excuséd sich nochmal und haut ab. 

Die vier Männer am Nachbartisch, interessierte, bierstoische Zeugen des ganzen Dramas, sagen, dass sie auch lieber meinen Koffer genommen hätten. Ich bedanke mich nochmal herzlich beim Kellner, den das nicht tangiert, er erwartet ein hohes Trinkgeld, bekommt er auch. 

Ein bisschen, nur ein winziges, bedaure ich, dass ich nun nicht mit dem Koffer des Franzosen nach Hause gehe, also niemals erfahren werde, was da so drin ist.