September 2015 – tapfer

Meine Physiotherapeutin sagt mir heute, ich sei tapfer.

Eine tapfere Frau.

Was ist das, tapfer? Was genau meint das?

Früher waren Krieger tapfer. Oder Ritter. Prinz Eisenherz wurde als tapfer bezeichnet. Winnetou, der tapfere Indianer. Heute ist das aus der Mode. In Game of Thrones ist niemand mehr tapfer. Die würden sich allesamt verbitten, sich als tapfer bezeichnen zu lassen. Tapfer ist was für Schwächlinge. Für Kinder, die nachher ein Spielzeug kriegen oder ein Eis. Wer tapfer ist, lässt sich was gefallen. Wer tapfer ist, handelt nicht. Er erduldet sein Schicksal, erträgt seine Schmerzen, akzeptiert seine Pein. Er opfert sich auf. Und das ausdauernd. Statt sein Schicksal in die Hand zu nehmen! Es zu wenden! – Wer tapfer ist, wehrt sich nicht. Tapfer ist reaktiv, depressiv.

Wie muss man umgehen, mit Krankheit? Ich weiß es nicht.

Muss man sie annehmen, hinnehmen, aushalten, durchstehen, auf sie hören, muss man ihr etwas entgegnen, gegen sie ankämpfen, sie ignorieren? Und wenn ja, was heißt das alles? Muss man das Beste draus machen? Muss man zufrieden sein, mit dem was noch geht? – Ich kann nicht mehr im Kino sitzen, aber dafür kann ich in der letzten Reihe stehen. Ich kann nicht mehr reisen, dafür suche ich mir ne Wohnung mit Balkon. Die Einschränkungen austricksen. (Wie erbärmlich das ist. Wem reicht das schon. Niemandem. Und trotzdem machen alle weiter. Weil man so hängt, am Leben, ein Trick der Natur). Oder muss man die Krankheit herausfordern, an die Grenze gehen des noch Möglichen oder viel weiter (Paralympics, Selbstmord)?

Ich weiß es nicht.

Meine Erfahrung: Der Krankheit ist es egal, wie du mit ihr umgehst. Es ist eine dieser billigen menschlichen Überhöhungen zu glauben, man habe Einfluss auf sie. Die Krankheit ist, wie alles andere in diesem Universum auch, brutal. Sie hat nichts mit dir zu tun. Sie verteilt sich nach Gutdünken, agiert nach Gutdünken, mordet und brandschatzt nach Gutdünken. Sie ist dein Feind, aber auch das ist ihr egal. Sie hat nichts mit Psycho zu tun oder mit Schuld oder Stress. Kein Medikament, keine Operation beeindrucken sie nachhaltig. Sie ist einfach da, und wenn man Glück hat, geht sie wieder weg. Du bist ihr egal. Dein Verhalten ihr gegenüber ist ihr egal. Das hat auch was Tröstliches: Du bist nicht gemeint.

Aber ich bin ein Mensch und ich muss mich verhalten. Wie also verhalte ich mich? Kann ich wenigstens das frei entscheiden? (Natürlich nicht.)

Wenn ich nachts in meiner Wohnung herumstehe, weil ich vor Schmerzen nicht schlafen kann, was mache ich dann? Wie verhalte ich mich zu diesem Diktat?

Ich weiß es nicht.