September 2015 – Zufall

Ich treffe T. auf der Straße. Zufällig. Er kommt mit seinem Fahrrad die Torstraße hochgeschossen, weißes T-Shirt, rot-schwarzer Helm, im üblichen Straßenverkehrs-Kampfsport-Modus. Ich hetze zu Fuß die Torstraße runter, das Handy in der Hand, bin spät dran für meinen ersten Gebärdensprachkurs, und finde die Scheißhausnummer nicht. Als wir uns entdecken, brauchen wir jeder eine überraschte Millisekunde, um uns einzuordnen. Wir müssen lachen. Kurzer Austausch: Du hier, achja, ich dort. Wir stehen auf dem Gehweg, umarmen uns kurz, küssen uns, und rennen jeder wieder seiner Wege. Ein witziger, schöner Moment.

Ein bisschen seltsam, peinlich aber auch. Warum?

Weil wir Fremde sind. Zwei Fremde in einer Stadt.

Weil wir auch aneinander vorbeifahren könnten. Hier, jetzt, in diesem Moment, ohne uns überhaupt zu registrieren. Irgendein Typ auf dem Rad, irgendeine Frau mit dem Handy, millionenfach passiert das am Tag.

Wir könnten uns auch nicht kennen.

Alles könnte ganz anders sein.

Nicht in einem Parallel-Leben, im selben Leben!

Wir könnten uns  noch nie gesehen haben oder gerade jetzt zum ersten Mal. Vielleicht hätten uns Zeit und Raum für genau diese selbe Millisekunde zusammengebracht, und wir wären achtlos aneinander vorbei gegangen. Vielleicht hätten wir uns in dieser Millisekunde angeschaut, und nicht mal ansatzweise sympathisch oder interessant gefunden, geschweige denn attraktiv.

Wir könnten auch andere Leben haben. In denen wir mit anderen zusammen wären, andere Freunde hätten, andere Berufe, andere Lebensgeschichten. Wir hätten Gefühle für andere entwickelt.

All die Verbindungen – die Erlebnisse, Dramen, Streits, der Sex, die Reisen, das Glück, der Ärger, der Kummer, die Wut, das Durchhalten, das Weitermachen, das Dranbleiben, das Lachen, das Schreien, sprich: die Liebe – von einer Sekunde auf die andere ist klar, das hat sich zufällig ergeben. Wir sind austauschbar. Wir könnten uns austauschen. Alles könnte auch anders sein. Wir sind zwei Monaden, die unabhängig voneinander existieren und sterben. Wir haben jeder ein eigenes Leben. Wir werden zurückkehren, in diese eigenen Leben, wenn wir uns trennen.

Wir wissen nicht immer und zu jeder Zeit, wo der andere ist. Er ist auf einem anderen Weg. Und man kann nie wissen, wann der vom eigenen Weg wegführt.

Das ist es, wobei wir uns so seltsam ertappt, weswegen wir uns ein bisschen peinlich berührt fühlen.

Dass unsere Leben uns zusammengeführt haben, dass wir die Verbindung herstellen konnten:

Für einen Moment, ist das alles ein großer Zufall. 

Es ist ein Wunder.

Ein Glück.