März 2018 – nichts an außer

S-Bahn Friedrichstraße, Rush-Hour zum Feierabend. Es hat um die Null Grad. Mitten zwischen den vielen Leuten auf dem Gleis steht ein Mann, barfuß, nichts an, außer einem Krankenhaushemd, und hält sich mit der linken Hand an seinem Infusionsständer fest. Er sieht aus wie ein Indianer mit Speer, der auf die U-Bahn wartet. Stolz und beiläufig. Der Infusionsbeutel fehlt, ein Zugangskanüle steckt ohne Verbindungsschnur in seiner Armbeuge. Er steht da so selbstverständlich, wie alle anderen, die von der Arbeit von zu Hause kommen, dass ich zuerst nur denke, ach. Dann denke ich, um Gottes Willen. Und dann: Geht ja gar nicht und wo ist der denn ausgebüchst und der holt sich hier noch den Tod! Niemand nimmt weiter Notiz von ihm, keiner spricht ihn an, die Szene ist absurd.

Aber jeder wie er mag, das ist die Devise hier, in dieser Stadt, nicht wahr, und, wer hingeht, hat die Arschkarte gezogen, wird Probleme haben, haben aber alle schon genug. Keinen Bock, sich nach Feierabend auch noch um die ganzen weirdos zu kümmern, die in dieser Stadt aus dem Boden sprießen.

Was mach ich, denke ich, geh ich hin, sprech ich ihn an, was soll ich sagen: Sie sehen krank aus oder Wo sind sie denn abgehauen oder Sie haben ja gar nichts an oder Brauchen Sie Hilfe oder wie gehts oder Toller Look, aber Sie erfrieren wenn sie so weitermachen? Soll ich die Polizei anrufen, das kostet mich eine Stunde mindestens, das Theater, Theater!, vielleicht Straßentheater, ein Filmdreh, ich sehe mich um, ein Test, versteckte Kamera? Derweil füllt sich das Gleis.

Ich schaffe es nicht, hinzugehen, blockiere mich selber, dann kommen zwei S-Bahn-Uniformträger das Gleis hinunter. Ich gehe auf sie zu und sage: Vielleicht sollte sie mal nach dem Mann dort schauen. Die beiden gucken hin und ich sehe sofort: Die haben auch keinen Bock. Aber sie gehen hin, ich wüsste zu gerne was Sie sagen. Die Autoritäten übernehmen, die Institution nimmt ihren Lauf.