Auf dem Weg nach HH im InterRegio. Wir haben es geschafft ein 19,90 Ticket zu ergattern, den von der Bahn gut versteckten Zug zufinden, der früh morgens um 6:54 nach HH fährt. Im IRE sind die 80er wieder modern, in türkis und altrosa, und ich erinnere mich an all die Fahrten mit diesem Zugtyp, in dem man schlecht aus dem Fenster sieht, die Sitzgruppen wohnzimmerfamiliär zusammengestellt sind, man seine Jacke an eine Garderobe hängt und der Durchguck zur Nachbarin derart frontal ist, dass man tun muss, als wäre man nicht da. Catering gibt’s am Sitzplatz. Theoretisch, faktisch nicht. Schade.
Eine Mutter und ihre ca. 8jährige Tochter steigen ein. Sie reden so nett und verständig miteinander, sind so nett zueinander, so überhaupt nicht nervig, dass ich die ganze Zeit zuhören muss und zu Tode gerührt bin. Dabei sind sie echte Voll-Prolls. Die Mutter trägt Billig-Brille, Klamotten von kik, die Haare dünn und strohig vom vielen immer wieder selber färben. Das Mädchen praktisch genauso. Sie haben sich gefreut, wahnsinnig gefreut auf diese Zugfahrt. Sie haben Cola dabei und Salamibrote und Radieschen, die das Mädchen nicht mag (zu scharf) und Stofftiere, die auch aus dem Fenster gucken dürfen und PFERD! oder KUH! mit entdecken dürfen. Jetzt noch kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke.
Die Mutter hat einen nagelneuen kleinen Fotoapparat, digital der Billigsorte, für den sie eine Tasche gehäkelt hat, mit Bändchen. Sie fotografiert alles, das Draußen durchs Fenster und innen das Drinnen. Gemeinsam schießen sie Selfies von sich im Zug. Dann liest die Mama Heftchen und als die Schaffnerin kommt, und mit ihr spricht, fängt sie an, zu stottern. Keine Sekunde hat sie gestottert, als sie mit ihrer Tochter gesprochen hat! Aber es scheint sie nicht zu irritieren. Sie will reden, erzählen, wie sie sich gefreut hat, die Tochter, und dass nun die Schaffnerin endlich kommt und die Tochter ihr die Fahrkarte geben kann! Die bekommt einen ordentlichen Zangenabdruck. Und die Tochte bekommt die Fahrkarte zurück. Eine Medaille, eine Auszeichnung, eine Ehre.
Sie spielen ein gleichberechtigtes Würfelspiel. Die Tochter geht allein aufs Klo. Sie summen sich die Lieder ins Ohr und die andere muss raten. Sie singen leise Eisern-Union-Fan-Lieder (!, die Frauhat die Deutschlandfarben auf den Fingernägeln) und ein Lied namens das Rote Pferd.
Als mal wieder ein paar Kühe die Tochter begeistern, sagt die Mutter, dass sie dann wohl mal Urlaub auf dem Bauernhof machen müssen. Und erzählt einer Sitznachbarin hinter uns, dass sie als Kind bei einer Kälbchengeburt dabei war. Wieder fängt sie an zu stottern. Die Frau lässt sie kühl hamburgisch abfahren. Sie habe viele Jahre auf einer Ranch gelebt, für sie sei das nichts besonderes. Ich würde sie gerne ohrfeigen. Die Mutter jedenfalls hat verstanden und redet den Rest der Fahrt nicht mehr mit ihr.
Die Stofftiere am Fenster (eine kleine Eule und ihr großer Kumpel Frettchen) und daneben das Mädchen. Ich hab Lust, eine Geschichte daraus zu machen. Und ich denke natürlich auch an Irina, und die Zugfahrt mit ihr und Dorothy.
Auf dem Rückweg nach B. werde ich später zu T. sagen, dass ich ein Träger von Geschichten bin, sie sind in mir drin, sie sind unruhig und wollen raus, aber ich kenne sie nicht, kann sie nicht hören, ihnen keine Stimme geben und das quält mich. Ich weiß so viel und finde den Kanal nicht. Das ist schrecklich und es macht mir Angst vor Krebs.