April 2024 – M im Heim

Jetzt ist es so weit. Alles in allem ein Glück: Eine Entscheidung, nicht generiert durch eine Katastrophe – Sturz, Erkrankung, Infarkt – sondern durch die Einsicht, dass es nicht mehr anders geht. Zwei Infektionen haben dich immobil gemacht. Es war die Entscheidung deines Mannes, der dich seit Jahren pflegt, eine Entscheidung auch über sein Leben. Du triffst lange schon keine Entscheidungen mehr über deins. Ein Platz, überraschend schnell – mit der Unterstützung von anderen, die dich seit Jahren pflegen, deine Situation und die deines Mannes kennen – im nahe gelegenen Wunschheim, also kein Auslagern an einen schwer erreichbaren Ort in irgendeine schlecht beleumundete Einrichtung. 

Als ich komme, sitzt du in einem Rollstuhl am Tisch. Tief gebeugt über einen Teller, in dieser konzentrierten Art essend, die ich schon von dir kenne. Lustvoll im Grunde, das Essen als Attraktion wahrnehmend, als Ereignis. Als Aufgabe, der sich dein Körper noch immer stellt, die er abarbeitet, noch immer wissend, was zu tun ist, wenn da vor einem ein Teller steht. Du willst essen, doch es ist kompliziert, mühsam, mit all den Hürden, die dir das Besteck und deine Hände, knotig und steif, in den kurzen Weg zwischen Teller und Mund legen. Es dauert zu lange, du kannst nicht mehr ganz alleine essen. Du würdest nicht genug Nahrung aufnehmen. 

Dir gegenüber und am Nachbartisch andere Frauen. Ich sehe in ihnen die Entscheidung, die jemand für sie getroffen hat. Mutti muss ins Heim, hat jemand gesagt. Wie allen sieht man auch dir an, wer du mal warst. Noch immer bist. Es lässt sich erahnen, wie du und diese Frauen einmal gewesen sind, wie sie gesprochen, gelacht, gedacht haben könnten. Wie sie aufgestanden sind, von Tischen wie diesen, rasch Dinge geholt und sich wieder gesetzt haben, als wäre es ein Leichtes. Jeden Moment könnte es passieren, denkt man, die Bewegung, die Regung ist aufgehoben in ihren Körpern, die Impulse hängen noch im Raum, als sei die Zeit nur mal kurz um die Ecke gebogen und gleich zurück. Doch es passiert nicht und wird nie mehr passieren. Die Menschen wirken wie aus dem Kontext gerissen, aus ihrem Kontext. Sie sind hier gelandet, auf diesem Planeten, ohne ihr Zutun. Sie sind abgekoppelt von dem, was sie waren und doch ist das, was sie waren, in ihnen und an ihnen noch immer präsent. 

An der Kleidung, den Haaren, diesen äußeren, bei aller Egalisierung durch Alter und Pflege, sich hartnäckig haltenden Signalen von Milieus, Klassen. Man sieht auch, ob es jemanden gibt, der sich neben dem hier arbeitenden Personal noch kümmert. 

Wir schieben dich in dein Zimmer, das ich hell finde, etwas zu laut, aber dich scheint es nicht zu stören. Ich reiche dir Essen. Füttern sagt man nicht. Es geht gut. Man muss sich tief zu dir hinunter beugen, um deine Augen zu sehen. Du schaust nicht zurück. Doch wenn ich lache, lachst du ein bisschen mit. Denn das hast du immer gerne getan, mitgelacht. Es hat bedeutet, dass die Stimmung gut war und hell, dass alles in Ordnung war, was du mochtest. Lachen ist ansteckend, auch das weiß dein Körper noch, in seinen Rudimenten funktionierend bis heute, also ansetzt, zu deinem Lachen. Du bekommst im Gegensatz zu allen anderen hier keine Medikamente. Wie machst du das nur? 

Zufällig kommt der betreuende Arzt. Er untersucht dich nicht, spricht mit deinem Mann, lässt sich von ihm erzählen, wie es dir geht. Ich teile meine Beobachtung, dass du Kontraktionen bekommst, er erklärt, dass das im späten Stadium häufiger wird. Ob man etwas dagegen tun kann, ob er dafür sorgt, ob das Heim dafür sorgt, dass du regelmäßig bewegt wirst, wo du nun viel mehr sitzt und liegst, bleibt offen. 

Als wir gehen, drehe ich mich noch einmal zu dir um. Hinter dir läuft leise das Radio. Es steht auf einer Kommode neben einer Vase mit Trockenblumen, das ist nicht das Schlechteste. So wie du, zumindest temporär, bei meiner Stimme warst, bist du nun bei der Musik des Radios. Du hältst etwas in der Hand, an dem du nesteln, das du berühren kannst. In der Küche klappert Geschirr, man hört die Stimmen der Frauen dort. Es ist schön, wenn was los ist. Doch müde macht es auch. Und wenn es zu viel ist, kann man sich nicht wehren. 

Ich mache ein Foto von dir an diesem Tisch im Heim, wie immer wenn ich gehe mit der leisen Angst, dass es der letzte Anblick ist, den ich von dir haben werde.