September 2017 – Bußgeld

Meldung heute, eine Frau und zwei Männer laufen unabhängig voneinander im Vorraum eines Bankautomaten an einem gestürzten, bewusstlosen Rentner vorbei, ohne ihm zu  helfen. Die Begründung: Sie dachten, der Mann sei ein schlafender Obdachloser. Der Richter verurteilt sie wegen unterlassener Hilfeleistung. Der mich beunruhigende Gedanke: Das hätte ich sein können. Und ich meine nicht den Rentner.

Die Frau gibt an, vor den Geldautomaten lägen öfter Obdachlose, sie gehe da einfach immer rein, und mache ihre Erledigungen, ohne links und rechts zu schauen. Einer der Männer sagt, er habe in solchen Situationen schon gefragt, ob Hilfe benötigt werde, und sei dann angepöbelt worden. Kenn ich. Bin ich.

Kürzlich kommt nachts auf dem Nachhauseweg eine junge Frau mit riesigem Rucksack die U-Bahn-Treppe hinunter, läuft heulend an mir vorbei, fragt, ob ich einen Euro habe oder zwei, ich, wie immer im Eilschritt unterwegs, bin schon 5 Schritte weiter bis sie ihren Satz beendet hat, scanne im Vorbeilaufen die Situation wie ein Terminator:

– Frau, Ende zwanzig, Fertigfaktor 2 auf einer Skala von 1 bis 10 (also noch recht frisch), Verrücktheitsfaktor 1 (also zu vernachlässigen), Obdachlosigkeitsfaktor 3 (also keine eingefleischte Obdachlose, eher ein Frischling, möglicherweise sogar Backpacker mäßig unterwegs gewesen und akut an irgendeinem Typen gescheitert, irgendeiner Situation zum Opfer gefallen) –

antworte wie immer prompt, routiniert, und wegen nachts und müde zusätzlich noch auf Schutzwall programmiert: Nee sorry – und bin weg.

Warum, denke ich, nochmal 5 Schritte weiter, bist du nicht stehen geblieben, hast einen kleinen Moment inne gehalten? Warum hast du nicht die Routine durchbrochen und sie gefragt: Was ist denn los? Warum heulst du? Hätte ich mir einen Zacken aus der Krone gebrochen, einmal den Schritt zu verlangsamen, nicht schnell, und auf Street Credibility gepolt, sondern aufmerksam zu reagieren, mich von dem kleinen Impuls leiten zu lassen, den es noch gibt, da drinnen, der sagt, Stopp, Mitleid, Verantwortung, vorurteilsfreie statt algorhitmische Beurteilung des Ganzen, dem Impuls also, den ich unterdrücke, um keinen Stress zu haben, nicht in Schwierigkeiten zu geraten, mir den immer gleichen Sermon anzuhören, der am Ende höchstwahrscheinlich wie immer auf eins rausläuft, auf was auch sonst, nämlich: Gib ma Kohle. Und die Schwelle war niedrig, in diesem Fall: Frau, jung, womöglich einfach blöd Pech gehabt. Aber ich war zu schnell, zu abgebrüht.

Was macht diese Stadt mit mir? Is she fucking me up?  Oder trifft die Stadt keine Schuld und ich bin einfach nur ein Arschloch? Ist die unterlassene Hilfeleistung woanders zu suchen, liegt sie in der Alltäglichkeit der (augenscheinlich) vorgefundenen Situation.

Jedenfalls, merke: Wenn du schon umkippst, mach das nicht in Bankfilialvorräumen.

Und: Ich nehme mir vor, in den nächsten Wochen und Monaten stehen zu bleiben und Euros raus zu hauen wie geht, bis ich das richterlich verhängte Bußgeld in Höhe von 2500 Euro abgegolten habe.