Oktober 2020 – prokrastinieren

Ich laufe im Modus der Prokrastination durch die Fressabteilung des Kadewe – Komme gerade von der Therapie, da bin ich hungrig und durchgekocht.

Ein älterer Mann in Hemd und Jogginghose geht vor mir zur Toilette, leicht unsicher im Tritt, zwei verschiedene Schuhe an den Füßen, ein Bremsstreifen ziert die Hose an der entsprechenden Stelle, er muss sie also auch schon mal anders herum getragen haben. Als ich dann noch seine Augen sehe, ist das hier meine Diagnose: Demenz. Wahrscheinlich abgehauen aus dem Pflegeheim oder von daheim wo seine Frau ihn pflegt. Angesichts der Symbole auf den Türen zögert er kurz, öffnet dann die Tür zum Herren-WC, schließt sie aber wieder, als er einen Herrn darin entdeckt, wendet sich der Tür mit dem anderen Icon zu, der Damentoilette. Da waren Sie richtig, sage ich, nicke ihm bestätigend zu und öffne ihm die Tür zur Herrentoilette. Er stiert mich an, auf der Suche nach allem, was ihm das sagen soll, mein Gesicht, meine Worte, und verschwindet dann artig hinter der Tür.

Später sehe ich ihn wieder. Er tapert an den Regalen mit Dosen aus aller Welt entlang, an den Vitrinen mit Fisch, Brot, und Kuchen, an den Stehtischen mit Austern, Champagner und Kaviar, wegen seines Hemdes und seiner gekämmten Haaren nicht auf den ersten Blick als Störfaktor erkennbar, der Nachrichtensprecher-Effekt, erst aber der Hüfte geht’s bergab. Soll ich ein Fass aufmachen, ihn ansprechen, ihn fragen, ob man ihm helfen kann, ihm vorschlagen, dass man ihn nach Hause bringt, jemanden aufmerksam machen auf ihn, jemanden rufen, der ihm hilft? Nein, warum. Er ist erfolgreich ausgebüchst, hat allen ein Schnippchen geschlagen und macht sich einen schönen Tag. Genau wie ich. Er und ich, wir prokrastinieren hier gemeinsam und auf Luxusniveau, er seine Krankheit, seinen Pflegeknast, ich meine Arbeit. Und im Kadewe kann man stundenlang im Kreis laufen, ohne sich weh zu tun.

Das einzige, was mir später Sorgen bereitet, ist, dass er keine Maske trägt.