November 2024 – Bruch

Teil 1

Zu meinem Geburtstag, genau genommen dem Geburtstag meines Spitznamens und Pseudonyms, zu meinem Pseudonatalis sozusagen, beschließe ich, etwas Schönes zu machen, zusammen mit U, und endlich mal wieder ein bisschen rauszufahren, was anderes zu sehen als Berlin, um wegzukommen von der viel zu vielen Arbeit und der Jahreszeit des letzten Quartals ein bisschen Wärme und Entspannung entgegenzusetzen. Wir fahren nach Bad Saarow für eine Nacht im Hotel mit Aufenthalt in der Therme.

Im Hotel ist alles wundervoll. Ich komme sofort runter, entspanne mich, wir reden, lesen, essen. Abends machen wir den Fernseher an, für mich etwas Besonderes, seit ich keinen mehr habe. Zufällig schalten wir in den Brennpunkt ein.

Der ganze Tag schon überschattet und gedrückt vom zu erwartenden nicht ansatzweise knappen Wahlsieg Donald Trumps. Der Eindruck, am Beginn einer sich in zweiter Runde nun endgültig verwirklichenden Dystopie zu leben.

Und wir hier, ins Hotelbett gekuschelt.

Der Brennpunkt geht im Laufe der Sendung über in eine aktuelle Berichterstattung zum Bruch der Ampelkoalition. Die Regierung ist aufgelöst. Lindner hat endlich bekommen, woran er von Anfang an gearbeitet hat wie ein verzogenes Kleinkind. Mehr Milei und Musk wagen hat er kürzlich noch gesagt, und damit endgültig klar gemacht, welche Strömung er als moderner FDPler vertritt, dass der Liberale bei den Libertären angekommen ist.

 

Teil 2

Am nächsten Morgen ziehen wir um in die Therme. Das warme Wasser, die Sauna ist vielleicht kein direkter Trost, aber eine Erinnerung daran, dass ich und mein Körper da sind. Ich baue die Erfahrung ein in meine Zellen, auch wenn sie nur eine äußere Schicht erreicht und komme erholt und ein bisschen weniger geschunden, weniger abgelenkt von oder genauer: hingelenkter zu mir aus der Therme.

Wir kommen aus dem Gebäude, ich laufe neben U schwatzend über den Vorplatz. Das Wetter ist ein wenig klamm, es regnet nicht, aber es ist, als hingen viele feine Tröpfchen in der Luft, die der See absondert. Als ich die vier Stufen der Treppe vom Vorplatz hinunter gehe, rutsche ich mit meiner Sneakers-Sohle an der metallbeschlagenen Kante ab, falle und breche mir das Handgelenk. Ich weiß es sofort. Alles weiß ich sofort. Ich weiß, dass sich mein Leben für die nächsten Stunden, Tage, Wochen und Monate ändern wird und ich weiß auch wie.

Das Erste, was ich sage ist, Nein, ich muss doch arbeiten! Ich kämpfe, am Boden kauernd, gegen die Ohnmacht, ich vermeide, auf das gebrochene Gelenk zu sehen, ich bitte U um Wasser, um einen Krankenwagen, denn ich weiß, ich werde nicht ins Krankenhaus laufen können, zu schwarz ist mir vor Augen. Gesichter erscheinen vor mir, erschrocken, Gutes wollend, U tut mir leid.

Mein Arm fühlt sich an wie Matsch, von unten links Zeigefinger Ringfinger über den Unterarm, den Ellbogen bis zur Schulter ist, so mein Eindruck, alles kaputt.

Erst seit ein paar Wochen kommen wieder Aufträge zu mir, Projekte sind angeleiert, und in Aussicht, gute Projekte, gerade eben habe ich eine gute Chance ergattert, in ein neues Format hinein zu schreiben, was mir nach langer Flaute die Möglichkeit geben würde, vielleicht einmal im Jahr einen Batzen Geld zu verdienen, was meine Chancen erhöhen würde, endlich eine Agentur zu finden.

Das Rettungsteam ist eine sympathische kleine Gurkentruppe. Die Anführerin sagt, der steht schlecht, als sie den Bruch sieht, was nicht gerade zu meiner Entspannung beiträgt, weil ich nicht sicher bin, was sie damit meint und will mir unbedingt in ihrer adrenalingesteuerten und actionorientierten Macherart den Pulli aufschneiden, fasst meinen Arm viel zu oft an und herrscht U an, wo der Medikamentenplan sei. Mit ruppigem Schwung werde ich auf eine Liege gelegt und in den Notarztwagen geholpert. Wer eine Rückenfraktur hat, hat danach noch eine.

Der eine Sani, Mitte 40, dicker Bauch, liebes, rundes Gesicht, Jens, dem ich sein Mitleid, seine Überforderung und seine Unsicherheit ansehe, und den ich deswegen irgendwie mag, versucht, mir einen Zugang zu legen. Das gelingt nicht. Er stochert dreimal in meinen Venen herum, denn auch Anfänger haben ja manchmal Glück bzw. müssen was lernen, erst die Anführerin schafft es, die Kanüle zu platzieren. Sie injizieren mir irgendwelche Mittel, ich erzähle ihr, dass ich es nicht so mit den Opiaten habe, sie gibt mir was, was sie auch mal bekommen hat, als sie sich das Bein gebrochen hat, ich bilde mir ein, es klingt irgendwie nach Ketamin. Irgendwann bin ich eher weg, dann wieder halb da, dann ist alles sehr, sehr weiß und filmreif als die Tür zur Rettungsstelle der glücklicherweise nahe gelegenen und großen Klinik aufknallt.

Ich werde hier insgesamt 8 Stunden verbringen, die meiste Zeit wartend. Auf Ärzte, auf Behandlung, auf Bilder, auf Entscheidungen. Pfleger Leroy gibt mir ein Opiat, verspricht mir eine rosa Wolke. Wie immer nichts. Stattdessen ängstliche Nervosität und Schmerzen. Die Kochsalzlösung, die in meinen Arm fließt, führt dazu, dass ich alle halbe Stunde auf Toilette muss. Dennoch bin ich froh, sie zu haben. Sie stabilisiert mich, ich muss nicht mehr gegen die Ohnmacht kämpfen. Der Schieber, so heißt die Bettpfanne inzwischen, den Pfleger Leroy mir bringt, ist nicht für Frauen gemacht. Ich setze mich möglichst weit hoch, damit der Urin mir nicht Richtung Po und Rücken läuft.

Neben mir all die anderen Kranken. Eine ältere Dame, die unaufhörlich jammert und jeden, der vorbeikommt, um Hilfe bittet, sie habe solche Schmerzen und niemand kümmere sich. Anfangs frage ich mich, ob ich aktiv werden muss, aber dann verstehe ich, dass sie dement ist. Deshalb ignorieren sie auch alle.

Ein älterer Mann, der, wie ich später erfahre, denn ich erfahre alles!, Blut gepinkelt hat, nachdem er tagelang gar nicht pinkeln konnte und nun irgendwie durchgespült wird. Pfleger Leroy ist zufrieden mit der Klarheit des Urins im Beutel, ich auch, und auch der Urologe, der sehr viele Stunden später kommt und von Pfleger Leroy angekündigt wird als einer der wenigen Ärzte, die es hier auf der Urologie gibt und über die wir alle froh sein können, dass es sie überhaupt gibt, scheint zufrieden mit dem Verlauf.

Überall Schmerzen. Pfleger Leroy entscheidet irgendwann pragmatisch, mir einfach Paracetamol zu geben. Ich bin froh, dass ich ihn habe. Er ist eindeutig der beste Pfleger hier. Eine Schwester mit dunklen Haaren um die 50, hat etwas überraschend Brutales, Sadistisches an sich. Ich traue ihr alles zu. (Vor allem natürlich das AfD wählen.) Aber wie muss es auch sein, wenn man jeden Tag diese jammernden Menschen und fordernden Situationen um sich hat. Sie spricht übertrieben barsch mit dem Oberschenkelhalsbruch, der älteren dementen Dame neben mir. Sie fasst sie auch so an.

Die Dame hebt immer wieder mal den Vorhang zwischen uns, und schaut irgendwie lieblich darunter hervor. Sie spricht mit mir, lächelt, fragt, was ich habe, reagiert empathisch und erzählt mir klagend, dass sich niemand kümmert und sie mit niemandem sprechen konnte, nicht mit ihrem Mann, nicht mit der Schwiegertochter. Ich weiß, dass das nicht stimmt, weiß es sehr genau, denn sie hat mit allen gesprochen, ich habe alles gehört, immer wieder, jedes Wort, das sie gewechselt hat, mit dem Pfleger, der ihre Schmerzmedikation überprüft hat, der Pflegerin, dem Mann am Telefon, der Schwiegertochter, nur mit ihrer Schwester nicht, vielleicht war das, bevor sie neben mich geschoben wurde oder die Schwester lebt nicht mehr. Sie alle waren nur genervt von ihr.

Eine Ärztin steckt den Kopf zur Tür raus, ruft in den Gang, kann mir mal jemand den Papa aus dem Wartezimmer holen, die Mama kollabiert mir hier gerade. Sie behandelt ein kleines Mädchen, ich sehe es durch die Tür auf dem Untersuchungstisch, irgendwas mit Bruch oder Schnitt. Der junge Vater kommt, die Mutter wird kreidebleich aus dem Zimmer geführt, ich kann sie so gut verstehen.

Ich bin maximal erschöpft. Ich bin nicht mal müde, ich bin was anderes, ich weiß nicht was, drüber, durch, ich komme nicht zur Ruhe, weil alles zu laut und zu deutlich ist und ich keine Filter habe, überhaupt keine Filter, ich bin bei allen: dem sein Bestes gebenden junge Pfleger, der in ein paar Jahren verschlissen sein wird, dem jungen Assistenzarzt, vermutlich irgendwas mit Migration in zweiter Generation mitten im AfD-Osten, der bestimmt nicht geschlafen, seit Stunden nichts gegessen hat und hier Dinge macht, die er eigentlich noch gar nicht richtig kann und die ihm auch niemand solide beibringen wird, bei der alten demenzkranken Frau, deren Mann eine gruselige Gleichgültigkeit in der Stimme hat, dem Prostata-Mann, der aus dem Schwanz blutet und still und zurückgezogen seine Schmerzen erträgt, der jungen Mutter, die angesichts ihres leidenden Kindes fast das Bewusstsein verliert, ich komme nicht zur Ruhe, weil ich sie alle höre und verstehe und erkenne und mir das System entgegen kommt, in dem alle nur versuchen durchzukommen, ohne allzu grobe Fehler zu machen oder geduldig zu warten, bis es besser wird, bis sich jemand kümmert, vor allem aber,

weil es kein verdammtes Medikament gibt,

das es schafft, die Schmerzen, die Angst, das Mitleid, das Chaos, die Überforderung der Ärzte und Pfleger und Patienten irgendwie von mir wegzuhalten.

 

Nach dem Röntgen beschließt der junge Assistenzarzt, meinen Handgelenksbruch zu strecken. Dazu muss der Arm, erklärt er mir, in eine Streckapparatur. Die Finger werden bei nach oben ausgestreckter Hand einzeln in Schraubzwingen gesteckt und fixiert, der Arm hängt locker im 90-Grad-Winkel nach unten. Dann werden Gewichte auf den Oberarm gelegt. So soll das Gewebe, also Blutbahn, Nerven, Sehnen, die vom Bruch möglicherweise gequetscht worden sind, entlastet werden. Ich gehe davon aus, dass ich bei der Prozedur schreckliche Schmerzen haben werde. Der Arzt betäubt meine Hand mit ein paar Nadelstichen, und ich merke gar nichts, absolut gar nichts, alles geht sehr gut. Ich bin sehr erleichtert. Der Arzt kommt mir zurecht stolz vor.

Die nächste Haltestelle ist das CT, auf dem überprüft wird, ob die Streckung soweit erfolgreich war. Wenn nicht, muss das Handgelenk noch heute Nacht operiert werden. Wenn doch, dann muss ich mir einen OP-Termin besorgen. In Berlin. Und zwar gleich am nächsten Tag, sagt der Arzt, denn allzu lang sollte man mit der OP in diesem Fall nicht warten. Da ich nicht weiß – der Arzt verschwindet über Stunden im OP, kann also nicht aufs CT gucken – ob ich heute noch operiert werde oder eben nicht, und sich alles quälend lange hinzieht, telefoniere ich mit U., der im Wartezimmer und in Cafés herumsitzt. Er soll besser mal nach Hause fahren.

Ziemlich genau um 22:00 Uhr, nach 8 Stunden Rettungsstelle, kommt die Entwarnung. Die Streckung hat gebracht, was sie bringen soll, ich muss nicht hierbleiben und notoperiert werden, sondern ich muss raus. Ich dachte, sage ich, ich kann für eine Nacht hierbleiben. Der Arzt schüttelt den Kopf, sie sind kein Notfall mehr, und stationär würde ich auch nicht empfehlen, wir haben Corona.

Für einen Moment bin ich total überfordert, denn der letzte Zug nach Berlin ist praktisch gerade eben gefahren, beziehungsweise es gibt noch einen späteren, der eine Dreiviertelstunde Aufenthalt in Fürstenwalde hat. Auf dem Gleis in Fürstenwalde, bei Dunkelheit, Kälte, den Arm in Gips, den Medikamentencocktail noch nicht verdaut? Und wie komme ich überhaupt von hier zum Bahnhof? Vor der Klinik gibt es keine Taxis, sagt man mir.

Ich rufe U an, und bitte ihn, in dem Hotel, in dem wir waren zu fragen, ob sie noch ein Zimmer frei haben. Eins ist noch frei! Ich muss den Schlüssel allerdings aus einem Safe holen, an der Rezeption ist niemand mehr.

Ich beschließe, ins Hotel zu laufen, 27 Minuten. Richtig wohl ist mir bei dem Gedanken nicht. Ich trete vor die Klinik, beziehungsweise man schickt mich zum Hinterausgang hinaus, froh, dass wieder jemand weg ist, der einem ab sofort egal sein kann. Es ist kalt, nass und dunkel. Google Maps schickt mich in Richtung eines unwirklichen stockdunklen Weges. Ich laufe ein paar Meter, der Weg endet vor einem Gitter. Ich bin so durch, zittrig, wirke auf mich selbst verwirrt. So geht das nicht.

Ich gehe zurück in die Klinik und bitte eine Frau am Empfang, mir bei der Organisation eines Taxis zum Hotel zu helfen. Ich bekomme eine Liste mit Taxiunternehmen, telefoniere sie durch, niemand geht dran. Ich gehe zurück zum Tresen. Der Assistenzarzt isst im Hintergrund irgendein Fast Food. Mir muss jetzt mal jemand helfen, höre ich mich in Richtung der beiden Frauen am Empfang sagen.  Eine erbarmt sich, greift zum Telefonhörer und ruft jemanden von der Taxi-Liste an, den sie offensichtlich kennt. Schwatzt.

Ich warte eine halbe Stunde, den Gipsarm im Schoß, im Wartezimmer. Eine Frau kommt herein, sie hat beide Handgelenke im Gips. Nein!, sage ich, unser absurder Anblick erheitert die Wartenden, auch mich und sie, wenn auch deutlich weniger, so sehr sind wir noch damit beschäftigt zu realisieren, was das jeweils für die nächsten sechs bis acht Wochen im Alltag bedeuten wird. Eine andere Wartende weist sie grob darauf hin: Da könnse sich jetzt aber nicht mal mehr alleine den Arsch abwischen.

Ich suche das Weite und setze mich in den Gang auf einen der Stühle.

Der Taxifahrer kommt zur Tür herein. In seinem Gesicht prangt – ungelogen – ein Hitlerbart.

Er fährt mich freundlich, die Anfahrt aus Fürstenwalde auf den Fahrpreis dazu addierend, ins Hotel und spricht irgendwann von Adolfs Zeiten in Bezug auf irgendein Gebäude, an dem wir vorbeifahren. Alles klar.

Ich bekomme den Safe mit dem Schlüssel nicht auf. Der Code funktioniert nicht. Mein Herz klopft, mein Arm pocht. Ich unterdrücke meine Panik, niemand ist mehr auf der Straße, ich bin hier mitten in einem Wohngebiet, ich laufe zurück auf den Parkplatz. Dort stehen glücklicherweise zwei Personen. Glücklicherweise ist es jemand vom Hotel und weiß den Code.

Den Schlüssel in der Hand, steige ich die zwei Treppen hoch bis zu meinem kleinen Zimmer. Ich lege mich und den Arm irgendwie und so wie ich bin ins Bett, stehe nochmal auf und hole alles an Decken, Handtüchern, was ich finde und lege sie auf mich drauf und um mich herum. Ich zittere. Ich habe zuletzt heute morgen was gegessen, fällt mir auf.

Teil 3

Am nächsten Morgen stehe ich um 5 auf und fahre von Bad Saarow aus direkt die ganze Strecke durch bis in die Unfallklinik Berlin Marzahn, um mir einen OP-Termin zu besorgen. Mit meinem Gipsarm links und einer Riesenplastiktüte mit dem Aufdruck Rettungsstelle rechts, betrete ich die Rettungsstelle.

Bei der Anmeldung schildere ich die Situation und dass man mir gesagt habe, ich solle mich umgehend um einen OP-Termin kümmern. Die Frau an der Rezeption lässt sich den Zettel geben, den man mir in Bad Saarow mitgegeben hat. Genau genommen den Befund. Dann fragt sie nach den Bildern. Die habe ich nicht bekommen, sage ich. Wir brauchen die Bilder, sagt sie. Ja, sage ich, klar, könnten Sie da nicht anrufen, damit die die schicken? Das geht nicht, sagt sie, Sie müssen da anrufen. Okay, sage ich. Und wohin sollen die die dann schicken? Gibt es eine Mail-Adresse? Nein, sagt sie, die müssen das mit einem Kurier schicken. Manche schicken einen QR-Code. … Okay, sage ich, ich ruf dort an.

Ich gehe zurück ins Wartezimmer und rufe in der Rettungsstelle Bad Saarow an. Man gibt mir die Nummer der Radiologie. Dort geht niemand dran. Ich rufe, unruhig im Wartezimmer auf und ab laufend 20mal dort an. Die Nummer muss falsch sein, oder liegt es an der schlechten Verbindung hier und ich komme einfach nicht durch?

Irgendwann werde ich zu einem Bett geleitet. Um mich herum Vorhänge, die beiseite oder wieder zugezogen werden, schon wieder jede Menge Geschichten, Prozeduren links und rechts, diesmal eine schwerhörige demente alte Frau, die nicht versteht, was los ist, die Pflegerinnen haben es schwer, sie umzuziehen, ein alter Mann von dem ich mir nicht sicher bin, ob er noch lebt, so weg ist er.

Abrupt wird mein Vorhang zur Seite geschoben, eine Ärztin steht vor mir und meinem Arm. Wo sind die Bilder? fragt sie ohne weitere Einleitung, ohne Bilder kann ich Ihnen keinen OP-Termin geben. Ich frage, ob sie mich nicht zumindest schon mal ins System aufnehmen könnte für einen OP-Termin, Sie habe doch den Befund, und dann vielleicht in Bad Saarow anrufen könnte bei ihrem Kollegen (oder in der Radiologie, die Nummer hab ich rausgefunden, sage ich)

– um ihn zu bitten, die Bilder zu schicken. Ja, wie denn, pfeift sie mich an, mit der Pferdekutsche?

Ich bin erschöpft. Ich bin erstaunt darüber, wie erschöpft ich bin. Ich bin nicht mehr zupackend, pragmatisch, nach vorne gehend, geduldig, wie ich in solchen Situationen sein kann, wie ich mich in solchen Situationen schon erlebt habe. Ich habe plötzlich wahnsinnig schlechte Laune. Inzwischen bin ich auch hier schon seit 5 Stunden. Ich will einfach nur, dass es vorbei ist, dass es nicht passiert ist. Aber es geht weiter und es ist passiert.

Ich dachte, digital, sage ich.

Manche schicken uns einen QR-Code, sagt sie. (Es geht also digital – verkneife ich mir zu sagen). Aber mit Bad Saarow haben wir keine Kooperation. So ist das, sie ist bei Konzern A angestellt und der Kollege bei Konzern B und weil die Konzerne nicht kooperieren, kann ein Arzt nicht den anderen anrufen.

Ich wundere mich nur, sage ich, dass ich jetzt die Krankenhausorganisation übernehmen muss, soll ich mich jetzt um die Bilder kümmern? frage ich die Ärztin.

Ja klar, sagt sie. Es ist doch ihr Arm.

Dieser Satz bleibt mir hängen. Wow, denke ich, Maggie Thatcher. Wie ein Ballon schwebt Maggies Kopf mit Frisur plötzlich zwischen mir und der Ärztin. Aber vielleicht sind das auch die Medikamente.

Ich meine, wirklich, ist es mein Arm?

In den letzten Stunden war mein Arm nicht mein Arm. Er hat dem System gehört, das mit dem Arm gemacht hat, was es will, soll und muss. Es hat ihn nach vorgeschriebenen Algorithmen bearbeitet. Vom eingehenden Notruf, über den Rettungswagen, in der Klinik, bei der Abrechnung, die im Hintergrund angelaufen ist, hat der Arm im System Prozesse ausgelöst. Der Arm ist in die Statistik eingegangen, hat seine Daten hinterlegt, ist Teil von Gesundheitspolitik, Versicherung, medizinischer Ausbildung, Bettenbelegung, Krankenhausabläufen und Personalhierarchien geworden, und jetzt, wo ein Fehler aufgetreten ist, ein Glitch in der Matrix, weil sich eine Lücke im System aufgetan hat, die das System produziert hat, weil es ein kapitalistisches ist,

jetzt also, wo der Arm dem System nicht in den Kram passt,

ist es plötzlich mein Arm.

Dabei mache ich doch mit dem Arm eben in diesem Moment, in dem ich vor ihr stehe, den fürs Elitekrankenhaus Marzahn offenbar zu läppischen Befund aus Bad Saarow (distale Radiusfraktur, Punkt) in der Hand, genau das:

Ich kümmere mich, wie geheißen und unter Aufwendung all meiner Kräfte, darum, meinem Arm einen zeitnahen OP-Termin zu organisieren,

was von ihr aber gerade aktiv verhindert wird!

Warum nur, so ärgere ich mich über mich selbst, habe ich nicht besser mitgedacht, und dem scheiß Assistenzarzt – der im Übrigen auch an die Medikamente nicht gedacht hat, die hab ich mir Maggie-Thatcher-Style am Ende noch schnell selbst beim Pfleger besorgt – gesagt, er soll mir die Bilder mitgeben! Ich weiß doch, wies läuft! Aber was soll ich denn noch alles machen, an was soll ich denn noch alles denken? Und was machen eigentlich Menschen, die ohne deutsche Sprachkenntnisse oder mit Demenzerkrankung in der gleichen Situation sind?

Sie erbarmt sich, warum weiß ich nicht, vielleicht Angst vor schlechten Bewertungen im Internet, und führt mich zu einer Art Annahmestelle, wo ich nun, wie mir scheint problemlos, einen Termin zum Vorgespräch (!) für eine OP bekomme. Doch bis dahin müssen die Bilder da sein, schärft sie mir ein und sagt:

Da fahren sie einfach morgen nochmal hin und holen die. Bad Saarow soll doch ein hübsches Städtchen sein.