Juni 2016 – grüßen

Es gibt ja so Leute, die hat man irgendwann mal gegrüßt und dann grüßt man sie irgendwann nicht mehr. Das ist sehr unangenehm. Geht das nicht irgendwie anders? Und wer hat überhaupt damit angefangen. Bzw. aufgehört? Man selber? Oder der andere? Eigentlich immer der andere. Immer hat der andere angefangen. Nicht zu grüßen. Wir haben uns gegrüßt, dann hat er mich nicht mehr gegrüßt. Ich kenne niemanden, der sagt, ich hab aufgehört, den zu grüßen. Ich kenne nur Leute, die sagen, der grüßt mich nicht mehr. (Oder, gerne Frauen: Die grüßt mich nie, also grüß ich sie auch nicht.)

Und dann sitzt man plötzlich nebeneinander im Cafe oder begegnet sich auf der Straße und läuft auf einem engen Gehweg aneinander vorbei und es ist komisch. Awkward, wie der Ami sagt. So awkward. Oder jemand anderes, den man gerade am Nachbartisch getroffen, und der noch zu denen gehört, die man grüßt, sagt zu dem am übernächsten Nachbartisch, den man nicht mehr grüßt : Ihr kennt euch doch auch, oder? Die allerunangenehmste Variante. Die peinliche Direkt-Ansprech- Bloßstellungsvariante, von freundlichen unbedarften Zeitgeistern durchgeführt, die denken, alle ham sich lieb. Dann muss man sagen, jaja, richtig, von da und da, ne? Das wird einem eine Lehre sein, das nächste Mal wird man sich wieder grüßen. Oder auch nicht. Mal sehen, ob er mich dann grüßt.

Aber was ist das auch für ein komischer Moment, das Grüßen. Wie kommen einseitiges und einträchtiges Grüßen zustande? Wer entscheidet wie in Sekundenbruchteilen des Anschauens, Registrierens und Prozessierens, ob man und wie man grüßt? Hallo. Hi., nacheinander, überlappend, gleichzeitig. Lässt sich das nicht algorithmisch lösen? Eine Sheldon Cooper Autisten App, eine would appreciate App, die das für einen übernimmt, das Grüßen.

Es gibt Leute, die grüßt man jahrelang immer nur und wechselt nie ein Wort. Dann kann mans ja irgendwann auch echt mal lassen, das Grüßen, oder? Aber wer weiß schon, ob man sich nicht doch mal wieder begegnet, in irgendeinem Kontext in dem es wichtig gewesen wäre, die Person zu grüßen. Du willst den Job? Hättste mal besser gegrüßt.

Dann gibt es Leute, die erkennt man tatsächlich nicht mehr oder man ist, wie ich, damit beschäftigt mit den Zähnen zu knirschen und beim Laufen ein Problem zu zermalmen, das im Kopf rumkullert wie ein Stein, und man ist für einen Moment zu langsam bzw. zu schnell vorbei am Anderen. Oder man ist einen Moment nicht sicher, ob es die Person ist, die man immer gegrüßt hat? Denn man wird ja auch alt, vergesslich und wunderlich. Und man hat so langsam auch echt schon viele Gesichter gesehen, und manche von denen sind sich ähnlich oder überlagern sich, Frisuren, Figuren verunsichern einen, weil sie sich verändern sich oder man kann den Gesichtern keine Namen mehr zuordnen und man grüßt lieber nicht, denn wenn die Person stehen bleibt, dann muss man umschiffen, dass man ihren Namen nicht weiß oder keinen Schimmer mehr hat, aus welchem Zusammenhang man sie kennt. Und manchmal ist man einfach zu faul zum Grüßen, zum Nettsein, zum Lächeln, auch wenn‘s nur kurz ist. Eine Sache, die man einsparen kann, ach du, egal, rasch vorbei, danke.

Eine seltene, aber sicher die sozial alptraumartigste Version des Nicht-Grüßens ist natürlich die des Nicht-Grüßens, weil man sauer aufeinander ist. Weil man nichts mehr miteinander zu tun haben will. Da gehen Menschen grußlos aneinander vorbei, die Sex miteinander hatten. Die ihre Genitalien betrachtet und ineinander gesteckt haben. Die sich weitaus mehr zu sagen hatten, als Hi. Die beste Freunde waren! Sich ihre Liebe gestanden haben! Ihre Familien, Freunde, Haustiere, Wohnungen geteilt haben! Und jetzt: kein Wort.  Grußlos gehen sie vorüber. Wenn man sich vorstellt, dass man da einfach so zwischen durchläuft, dass da einer die Straßenseite wechselt, nicht einfach weil er zu Rossmann will, sondern weil er der Person, die gerade an dir vorbeiläuft, nicht begegnen will. Was für eine Energie, was für eine Geschichte. Von der man nichts mitkriegt.

Je länger man in einer Stadt wohnt, umso häufiger und weitverzweigter wird natürlich die Grüß-Problematik. Das Netz wird dichter, zieht sich langsam zu. Man muss aufpassen wie ein Luchs. Wie mag das alles erst Menschen gehen, die viele Leute kennen? Ich kenne ja praktisch niemanden.

Trotzdem überlege ich, wegzuziehen.

Irgendwo ganz neu anfangen, mit dem Grüßen.