Juli 2016 – Lorna oder: Beinbruch

In Orange is the New Black (OITNB) gibt  es eine wunderschöne Szene über die Liebe.

Lorna bekommt Besuch von Vince, ihrem Ehemann, den sie über eine Knast-Brieffreundschaft kennen gelernt hat. Vince ist ein süßer, lieber Junge, Italo-Amerikaner wie sie. Die beiden haben im Gefängnis geheiratet. Lorna trug einen weißen Schleier aus Papier zu ihrer unförmigen Gefängniskleidung, und war so glücklich wie wir sie viele Folgen lang nicht gesehen hatten. Die beiden haben im Anschluss zum ersten und einzigen Mal miteinander geschlafen – dank einer Aufseherin, die weggesehen hat.

Nun sitzen Lorna und Vince einander gegenüber im Besucherraum, den alten, verschlissenen Holztisch zwischen sich, die no-touching!-policy im Nacken, die der Wachmann an der Tür bereit ist, umgehend heraus zu bellen, wenn jemand sich zu weit vorwagt. Und um die beiden herum trennen viele weitere Holztische andere khaki-farben gekleidete Insassinnen von ihren Besuchern. Wie soll man hier, an diesem Ort, in dieser Situation, seine Liebe leben?

Nun muss man über die zierliche Lorna (die wir nie ohne tiefrot geschminkte Lippen, sorgfältiges Make-up, und 40er Jahre Frisur sehen) wissen, dass ihr Glaube an die Liebe groß ist. Nie ist sie es müde geworden, ihren Mitinsassinnen in schillernden Farben von ihrer großen Liebe Christopher zu erzählen, vom romantischen Kennenlernen, vom Sex, den sie miteinander haben (praktisch eine spirituelle Erfahrung), von seinem Antrag, ihrer Verlobung, den Details der bevorstehenden Hochzeit, vom Haus, in dem sie leben, von den Kindern, die sie bekommen werden, von der unbedingten Treue, die sie sich geschworen haben, und die sie einander halten werden bis zum Tod (dass sie sich von ihrer Mitinsassin Nichols ab und an mal lecken lässt, zählt für die katholische Lorna nicht). Manchmal, so scheint es, kann sie beim Erzählen selbst kaum fassen, dass ihr Prinzessinnentraum wahr geworden ist.

Eines Tages kommt ans Licht, dass Lorna (unter anderem – ein bisschen Internetbetrug kommt auch noch hinzu) wegen Stalkings eines Mannes namens Christopher, mit dem sie ein einziges Date hatte, wegen Eindringens in seine Privaträume, wiederholten Brechens der von ihm erwirkten Restraining Order, und einem Mordversuch an ihm und seiner Freundin im Knast sitzt. Sie bricht zusammen.

Lorna also, das kann man sich nun vorstellen, ist gewillt, ihre neu gewonnene und mit anrührender Aufrichtigkeit begonnene Liebe zu Vince, hier, in dieser Situation, an diesem Tisch zu leben. Sie beginnt langsam und mit verführerischer Stimme ihm über die Distanz des Tisches hinweg zu erzählen, dass sie ihn berührt, wie sie ihn berührt, wie er sie berührt, was das mit ihr macht, wie sie sich für ihn anfühlt, und was das in ihm auslöst, und wenn Lorna eine Sache gut kann, so gut kennen wir sie inzwischen, dann ist es, bild- und detailreich Liebe und Sexualität zu beschwören. Und so kommen die beiden schließlich, in Anwesenheit von Aufsehern und Besuchern – und der Einhaltung des Buchstabens des Gesetzes, sich nicht zu berühren, zum Orgasmus.

Natürlich ist diese Szene eine wundervolle Hommage an eine der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte: Sally beweist Harry in „When Harry Met Sally“ anschaulich, dass Frauen sehr wohl in der Lage sind, überzeugend einen Orgasmus vorzutäuschen. Auch diese beiden haben dabei einen Tisch zwischen sich – allerdings im Diner.

Vor allem aber ist diese Szene – wie Lornas Figur insgesamt – eine große Erzählung über die Liebe. Liebe ist Projektion, sagt man. Man könnte argumentieren, dass es das ist, was hier eindrücklich veranschaulicht wird. Aber stimmt das? Sollen wir annehmen, dass der Sex zwischen Vince und Lorna nicht wirklich stattgefunden hat, dass er eingebildet war, weil sie sich nicht berührt haben? Sollen wir annehmen, dass Lornas Liebe zu Christopher der überzogene Affekt einer Borderline-gestörten Persönlichkeit ist, und nicht wahrhaftig, groß und aufrichtig, und von einem Wissen geprägt, zu dem Christopher einfach keinen Zugang hat? Sollen wir es überzogen finden, dass Lornas Leben und Persönlichkeit, alles was sie ausmacht, zusammenbricht, als man ihren fantasmatischen Raum durchkreuzt, und ihr vor Augen führt, dass ihre Liebe zu Christopher nichts gewesen ist als eine brutale Lüge?

Die Liebe ist kein Beinbruch. Nein. Doch sie sitzt in unseren Körpern und Leben und folgt dort Gesetzen, die uns heilen, retten oder an denen wir zugrunde gehen können.