Januar 2017 – Kinder und Erziehung

L. und ich reden über Kindererziehung. Sie hat einen kleinen Sohn, also beschäftigt sie das. Und mich beschäftigt sowieso alles.

Sie berichtet, dass man Kinder heute nicht mehr erzieht. Dahin geht der Trend. Man gibt Kindern nichts vor, sie finden ihren Weg alleine. Kürzlich zum Beispiel saß sie mit ihrem Sohn am Tisch und hat mit ihm gemalt. Das war schön, sie beide so parallel. Sie hat irgendwelche Sachen gemalt, er hat so vor sich hin gekrakelt. Sie würde ihm da nie reinpfuschen, sie lässt ihn machen.

Dann kam L.s Mutter zu Besuch und hat sich dazu gesetzt. Guck mal, hat sie zu ihrem Enkelkind gesagt, so hält man den Stift. Das Kind hat den Stift so gehalten, wie die Oma es ihm beigebracht hat, und war danach total begeistert, dass es heute gelernt hat, wie man einen Stift hält.

L. war verunsichert.

Ich erzähle L., dass mir solche Geschichten körperliche Schmerzen bereiten. Wenn ich sowas höre, könnte ich mich krümmen, vor Wut und Hilflosigkeit. Ich will sofort alle Kinder retten. Und zwar vor ihren bescheuerten, ignoranten, indifferenten Eltern, die ihren Kindern das Wichtigste, was man braucht, nämlich WELTZUGÄNGE, nicht mit auf den Weg geben, weil sie es für brutal und die zarte Kinderseele schädigend halten, ihnen was „vorzugeben“.

Eine andere Freundin erzählt mir von ihrer Nichte, sieben Jahre alt, ein Schulkind also, die den Stift immer in der Faust hält, Stiftspitze geradeaus nach unten. Weder Papa noch Mama noch Lehrer noch sonst jemand hat es je gewagt, dem Mädchen den Stift aus der Hand zu nehmen und zu sagen: Nee, so macht man das nicht. Das macht man so, versuch’s mal. Nein, eine solche Form von Aggression hat dieser hochsensiblen, zart suchenden Kinderseele noch niemand antun wollen, keiner wollte das Kind mit dieser Art von verbaler und performativer Gewalt auf ewig all seiner Kreativität berauben und es damit an seiner ganz eigenständigen Eroberung der Welt und des Selbst hindern. Das Kind malt wie ein Affe, Leute! Und das ist nichts Gutes! Auch wenn Affen schützenswerte Tiere sind, deren Hirne wir nicht auslöffeln sollten! Und wenn es eines Tages kapiert, dass es malt, wie ein Affe, dann seid ihr am Ende doch die Bösen und das Kind beklagt sich beim Therapeuten über euch! Wä, wä, meine Eltern haben mir nicht mal beigebracht, wie man den Stift hält. Wollt ihr das? Hm? Kinder haben heißt, ab und zu richtig scheiße sein und sich öfter mal so richtig scheiße finden zu lassen. Wer dafür nicht das Rückgrat hat, kann gleich zuhause bleiben. Und: Jedes einigermaßen wache, intelligente Kind will doch nichts anderes als raus aus der Ohnmacht, und verstehen, wie die Welt funktioniert und hofft dringend auf jemanden, der ihm zeigt, wie man alles machen muss, was man hier so machen muss. Und dabei will es ganz sicher nicht aussehen wie ein Vollhonk! Und von wegen Hierarchie: Wer ist in diesem Szenario der Mächtige, wer der Untergebene? Wer macht hier was er will?

Wiederum eine andere Freundin. Ich bin bei ihr im Büro auf ein Glas Champagner eingeladen, wir haben was zu feiern, es hat Wochen gedauert, den Termin zu finden, ihr Kalender ist mit Arbeit und zwei Kindern logischerweise einfach super voll. Nach 20 Minuten steht sie auf und sagt, sie muss gehen. Ihre Tochter braucht zurzeit 45 Minuten bis sie sie aus der Kita rausgelöst hat. Excuse me? Ich steh da, mit meinem angenippten Champagner und denke, ey, also das würde ich mir nicht gefallen lassen. Diese miesen kleinen  Biester. Sie malen mit der Faust und versklaven ihre Eltern. Und deren Freunde! Also wer ist hier brutal?

L. erzählt weiter. Eine Bekannte von ihr, ebenfalls Mutter eines kleinen Jungen, kam zu Besuch. Sie war unruhig, weil das Kind im Rahmen einer Bewerbung für einen Kindergarten, in den sie es schicken möchte, einen Aufnahmetest machen muss. Dafür muss er unter anderem in der Lage sein, einen Kopffüßler malen. Ob L.s Kind sowas schon mache, hat die Bekannte im Flüsterton gefragt. L. hat, nun ebenfalls beunruhigt, den Kopf geschüttelt. Die Bekannte erzählt, verschämt lachend, denn sie weiß, dass sowas eigentlich GAR NICHT geht, dass sie ihn in letzter Zeit immer mal beim Malen fragt, ob er denn auch einen Mensch malen könne. Das tut er dann auch bereitwillig. Sehr schön!, jubelt sie ihm dann zu. Und hat das Männchen denn auch Arme? Und Beine? Und Hände? Und Ohren? Irgendwann reicht‘s ihm dann und er hört auf zu malen.

Seine Männchen, gesteht sie, haben eckige Köpfe. Sie denkt, das liegt daran, dass er immer Lego-Männchen-Filme guckt. Was für ein kluges Kind, denke ich. Wahrscheinlich hat sie nicht Mensch gesagt, sondern Männchen, kannst du auch ein Männchen malen? Weil sie denkt, ein Kopffüßler ist ein Männchen, dabei ist es doch ein Mensch, gemalt von einem Dreijährigen. Missverständnisse zwischen Kindern und Erwachsenen. Lego-Menschchen. Lego-Männschen. Quadratschädel in Gelb.

Ja, so ist das. Ganz frei und ohne Druck sollen sie sein, die Kinder, ganz individuell sollen sie sich entfalten. Gleichzeitig sollen sie Aufnahmeprüfungen in der Kita bestehen, in der man mit drei schon Chinesisch lernt. Im Prinzip ist das Leben der Kinder immer ein Abbild des Lebens der Erwachsenen.

Deshalb sind die Kinder in Neukölln auch so anders.