Dezember 2016 – Lila Koffer

Manchmal denkt man ja, man will gar nicht leben. Bis man dann in den Schönhauser Allee Arkaden steht und nach einem Buch sucht, das man verschenken kann, und dreimal im Abstand von fünf Minuten eine Durchsage hört, dass der Besitzer des lilafarbenen Koffers, der vor dem Netto steht, sich umgehend bei der Konzertkasse melden soll, man kurz einen kleinen Joke mit der Verkäuferin darüber macht, die einem nett auf die Sprünge geholfen hat, bei der Buchsuche, dann an die Kasse schlendert, endlich, nach drei Tagen blöd rumüberlegen! (Kindergeburtstag), ein Buch in der Hand, um dann eine Durchsage zu hören, die da lautet:

Aufgrund einer Betriebsstörung wird das Shopping Center geschlossen, begeben Sie sich bitte sofort zum Ausgang, es besteht kein Grund zur Beunruhigung, ich wiederhole: Es besteht kein Grund zur Beunruhigung.

Die Kassiererin vor mir lässt umgehend alles stehen und liegen, die eine sagt zur anderen: Nenn mich Kassandra,(hat sie‘s heute Morgen schon geahnt, dass der Tag böse enden wird, oder erst gerade, als die erste Koffer-Meldung kam), alle streben gen Ausgang, auch ich gehe los, lege das Buch irgendwohin, auf andere Bücher, verlasse wie alle den Laden, wie viel Leute hier plötzlich sind!, gehe die Rolltreppe runter, und denke, in einer Hitzewelle aus Angst, die mir plötzlich durch den Körper fährt, Ich will nicht sterben. Ich will raus hier, ich will nicht in die Luft fliegen, von Splittern übersät in meiner eigenen Blutlache gefunden werden, abgetrennte Gliedmaßen und schreiende Menschen das letzte was sich auf meiner Retina abbildet, ich fixiere von der Rolltreppe aus den Ausgang, da will ich hin, ich bemühe mich, nicht schneller zu werden, zu rennen, Auslöser einer allgemeinen Panik zu werden, höre schon die Polizeisirenen, erreiche den Ausgang, bin draußen!, noch mehr Sirenen, überquere die Straße, bringe Strecke zwischen mich und die lila Bombe, das in die Luft fliegende Einkaufszentrum, die Sirenen werden mehr und entfernen sich gleichzeitig, weil ich mich entferne, während ein Wagen sich nähert, das weiß ich, in dem ein Entschärfungskommando sitzt, drei Männer, denke ich, in Spezialkleidung, die da jetzt reingehen und irgendwas machen, von dem ich keine Ahnung habe, um rauszufinden, ob in dem lila Koffer nun was drin ist, was morgen in der Zeitung steht oder nicht, während ich, schon wieder zurück in meinem Alltag, denke: Scheiße, jetzt hab ich immer noch kein Buch.

Aber für einen Moment, für einen kurzen, wollte ich leben. Ich wollte ein Buch kaufen, durch die Straßen nach Hause schlendern, vielleicht noch irgendwo einen Kaffee trinken.

Das mach ich dann auch.