An einem eintägigen Speed-Writing Kurs teilgenommen:
Um 9 Uhr bekam man fünf, sechs Fotos, zwei Musik-Clips zur Anregung. Bis 12 Uhr 30 war Zeit für den ersten Entwurf. Um 14 Uhr gab es Feedback der Dozentin. Bis 17 Uhr war Zeit zur Überarbeitung. Fertig, die Speed-Story.
Um 9 Uhr hab ich mir das Material angeschaut. Dann hab ich gefrühstückt und weiter das Material angeschaut, im Hirn hats geschoben und gebrutzelt. Dann hab ich angefangen zu schreiben. Bis 12 Uhr 30 war ich einmal durch. Hammer! Erstaunliches Gefühl. Dann Feedback – danke, sehr brauchbar! Einarbeitung, Verunsicherung, Umarbeitung – Schluss jetzt, mehr geht nicht.
Das Ergebnis: Meine erste Kurzgeschichte. Ich weiß nicht, ob ich und wie ich irgendjemand erklären kann, was das für mich bedeutet! Die Prosa-Angst ist überwunden!
Check it out:
Italien
„Susanna sitzt im Auto“, dachte Susanna. Sie hatte sich angewöhnt, ihre eigenen Zustände zu beschreiben wie kleine Nachrichten, die man über jemanden verbreitet. Kleine Sensationen. „Susanna kauft ein!“ „Susanna föhnt sich die Haare!“ War ihr Leben so langweilig, dass sie es für sich selbst interessant machen musste?, fragte sie sich. Lag es daran, dass sie wie alle begonnen hatte, die Welt in Form von Kurznachrichten wahrzunehmen? Oder lag es daran, dass es ihr das Gefühl gab, über sie werde gesprochen wie über ein Kind: „Susanna hat heute zum ersten Mal gelacht“. „Susanna läuft jetzt“.
Sie hätte mit dem Zug fahren können. Sie hätte den Flieger nehmen können. Kurz hatte sie sogar überlegt, die ganze Sache mit dem Rad anzugehen, sich Etappe für Etappe zu nähern, den Fokus auf den Weg zu legen, statt auf die Zeit vor Ort. Sie wäre mit einem angenehm erprobten Körper angekommen, gewappnet und voller Energie. Sie hatte sich fürs Auto entschieden.
Sie drückte unbestimmt auf den Knöpfen des High-Tech-Radios herum, das in den Mietwagen eingebaut war, bis es ansprang, und italienische Musik zu hören war. Sie musste lachen und an ihren Vater denken, von dem sie als Kind aus ihrer Rücksitz-Perspektive über Stunden nur die rechte Körperhälfte gesehen hatte, vor allem seinen kräftigen Unterarm am Steuer des VW Käfers. Auf ihre Fragerei, sind wir schon in Italien? Sind wir schon in Italien?, hatte er immer „den Radiotest“ mit ihr gemacht: Wenn italienische Musik kommt – dann sind wir in Italien! Er drehte am Knopf des Radios und schaltete gleich wieder aus, wenn etwas anderes zu hören war. Kam aber italienische Musik, schrien sie beide wie aus einem Mund: Itaalien!!! als sei das Schönste passiert, was passieren konnte. Dabei wandte er sich zu ihr um, löste für einen Moment seinen Arm vom Steuer, streckte ihn nach ihr aus und sie sah in seine lachenden, dunklen Augen. Meistens waren sie da erst in der Schweiz, aber bis zur Grenze wollte er sie und sich nicht warten lassen. Zumal sie da meistens schon schlief.
Susanna sah im Rückspiegel ein Auto auf sich zuschießen und wechselte rasch von der linken auf die rechte Spur, für einen Moment spürte sie die Panik in sich aufflackern, die sie bisher gut im Griff gehabt hatte. Seit dem Unfall ihres Vaters hatte sie sich nicht mehr an das Steuer eines Autos gesetzt. Das war jetzt drei Wochen her.
Sie setzte sich mit Kaffee, einer kleinen Flasche Wasser und einer Tüte voller Leckereien, die sie in einer Bäckerei gekauft hatte, an den kleinen Strand. Sie hatte den See, zu dem der Strand gehörte, vom Autofenster aus gesehen und gerade noch rechtzeitig die Abfahrt genommen.
Ein Kind spielte selbstvergessen im Sand und sprach vor sich hin. Seine Mutter las, wie Susanna auf dem Boden sitzend, die nackten Füße vor sich in den Sand gestellt, Zeitung. Die beiden lächelten sich kurz zu. Die Frau trug eine Sonnenbrille.
Susanna erinnerte sich, ihrer Mutter als Kind die Sonnenbrille oft vom Gesicht gezogen zu haben. Ihre Mutter trug ständig Sonnenbrillen, liebte Sonnenbrillen, hatte eine ganze Sammlung davon in verschiedenen Stilen, die ihr allesamt fantastisch standen.
Wenn Susanna, die genau wie ihr Vater ihre Mutter verzweifelt liebte, auf ihrem Schoß saß, hatte die Sonnenbrille immer einen Widerwillen in ihr ausgelöst. Wenn sie versuchte, sie ihr abzuziehen oder sie ihr spielerisch abzunehmen, wurde ihre Mutter ärgerlich. Sie stand auf, sodass Susanna von ihrem Schoß rutschte, setzte die Brille wieder auf, wandte ihr für einen Moment ihr schönes, verdunkeltes Gesicht zu, um sie dann stehen zu lassen und sich mit jemand anderem zu beschäftigen.
Der Sonnenbrillentick hatte erst aufgehört, als ihre Mutter Ilona kennen gelernt hatte.
Susanna nahm einen der beiden Rollkoffer aus dem Kofferraum des Autos und ging auf das kleine, weiß getünchte Haus zu, vor dem zwei Vespas parkten. Jeden Sommer hatte ihr Vater, während sie spielte oder las oder ihm half, an diesem Haus gebaut, auch dann noch, als ihre Mutter mit Ilona zusammen gekommen war, auch dann noch, als sie mit ihr nach Hamburg gezogen war und die beiden sich kaum noch sahen.
Sie wäre gerne noch einen Moment stehen geblieben und hätte sich Zeit gelassen, aber sie musste davon ausgehen, dass ihre Ankunft innen bereits bemerkt worden war. Also drückte sie auf die Klingel. Die Tür ging auf, und sie sah in das Gesicht ihrer Mutter. „Susanna“, sagte sie lächelnd, „ich freu mich so“. Sie ging auf sie zu, und umarmte sie.
Hinter ihrer Mutter stand Ilona im Türrahmen. Sie schaute ihr freundlich entgegen, und begrüßte sie mit Küsschen links rechts.
Wie geht es euch? fragte Susanna in der Küche und sah in die Gesichter der beiden Frauen, die älter geworden waren, so wie sie älter geworden war. Es geht uns gut, sagten sie, und nickten. Sie fragten, wonach ihr war, vielleicht nach einem Getränk, einem Snack, einer Dusche? Doch Susanna legte nur wortlos ihren Koffer auf die Seite, öffnete ihn, holte die Urne heraus, die sie mit Gaffertape zugeklebt hatte und stellte sie auf den Tisch.
Die beiden sahen sie erschrocken an.
Ilona ruderte das kleine Fischerboot, Susanna und ihre Mutter saßen sich schweigend gegenüber und sahen aufs Meer. Susanna hielt die Urne fest auf ihrem Schoß.
Warum bist du damals in das Haus gezogen, fragte Susanna und beugte sich ein wenig über den Rand des Bootes, um den Wellen zuzuschauen, die daran schlugen. Du wolltest doch früher nie mit uns nach Italien.
Deswegen, sagte ihre Mutter. Es klang wie eine Frage. Susanna sah sie an. Die Falten hatten ihren Gesichtsausdruck wärmer gemacht. Ihr dichtes Haar trug sie noch immer hochgesteckt, das helle Blond inzwischen von weiß durchzogen. Susanna dachte an das Foto von ihr als junger Frau, das ihr Vater von ihr gemacht haben musste, in dem Jahr, in dem sie sich bei ihrem Urlaub in Italien kennen gelernt hatten. Sie stand neben einer Vespa, die sie alleine hatte fahren wollen, darauf hatte sie bestanden. Nicht bei ihm hinten drauf. Ihr Vater hatte immer erzählt, wie sehr ihn das beeindruckt hatte.
Susanna bat Ilona anzuhalten. Sie küsste die Urne, öffnete sie, und verstreute die Asche ihres Vaters im Meer.
Als sie zurück waren, im Haus, und zusammen zu Abend aßen, eröffnete ihre Mutter ihr, dass sie und Ilona zurück nach Hamburg ziehen wollten. Was passiert mit dem Haus, fragte Susanna. Vielleicht möchtest du es ja haben, sagte ihre Mutter.
Susanna sah aus dem Fenster, das nun, da es schattiger geworden war, offen stand und das Licht herein ließ. Italien, dachte sie.
Und zum ersten Mal seit Wochen kam es ihr nicht in den Sinn, eine Nachricht daraus zu machen.
Berlin, den 19.12.2015