Auf der langen Autobrücke, die neben der Zuckerfabrik über eine breite Schienentrasse führt, gibt es einen Mahnort. Ich werde darauf aufmerksam, weil ich zwischen den ganzen touristischen Flyern rund ums Bauhaus, die Wörlitzer Gärten und das Junkers Technikmuseum in der Touristeninformation einen finde, der von der Machart her ein wenig amateurhafter wirkt.
Die Geschichte geht so: In flüssiger Form wurde Zyklon ursprünglich als Schädlingsbekämpfungsmittel verwendet. Mit dem später entwickelten Blausäuregas Zyklon B, das in nur geringen Dosen zur Lähmung der Atmung führt, wurden in den Konzentrationslagern von 1941 bis 1945 eine Million Menschen fabrikmäßig ermordet. Die Dessauer Werke für Zucker und Chemische Industrie waren Hauptproduktionsort von Zyklon B, von hier wurde es via Schiene in die Vernichtungslager transportiert.
1996 (zu meiner Überraschung nicht zu DDR-Zeiten, sondern erst nach der Wende, in einer Zeit von Pogromen und wachsendem Rechtsradikalismus, wieso denke ich immer, die DDR war so aufgeklärt mit dem NS, ist das alles falsch …?) hat sich eine Gruppe von Dessauerinnen und Dessauern zusammengetan, um sich mit dem Thema zu beschäftigen.
Ihre historische Forschung haben sie 1999 dem Stadtrat vorgestellt und 2000 ein Projekt für einen Informations- und Mahnort vorgeschlagen. Viele Ausschussmitglieder haben das Projekt abgelehnt, so ist es im Flyer zu lesen, woraufhin sich andere Unterstützergruppen und Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft hinter das Projekt gestellt haben.
Im Rahmen eines Design-Wettbewerbs wurden Vorschläge zur Umsetzung erarbeitet und der jetzt installierte ausgewählt. Nach weiteren vier Jahren Finanzierungssuche wurde das Projekt 2007 vor allem mit Spendengeldern realisiert.
Soweit der Flyer. Aus dem man gerade mal erahnen kann, welche Diskussionen in den 11 Jahren bis zur Realisierung von einer kleinen Gruppe engagierter Menschen ausgehalten, aufgefangen und durchgehalten werden musste. Auf offene Ohren und Unterstützung seitens der Stadt scheinen sie jedenfalls nicht gestoßen zu sein.
Ich fahre auf die Brücke, um mir den Mahnort anzuschauen. Die Brücke ist lang, steil und von Autos dominiert. Ab und an radelt mal jemand auf dem Radweg vorbei.
Ich finde keinen Hinweis auf den Ort, suche mal wieder nach Schildern, schaue nach unten Richtung Schienen, dann auf das alte Gebäude, die Zuckerfabrik – da vielleicht? Dann verstehe ich, dass ich erstens auf der falschen Seite der Brücke bin. Und zweitens, dass das Mahnmal in das Geländer der Brücke eingearbeitet ist.
Mehrere Tuben aus Metall, etwa 40 Zentimeter lang, sind auf den Holm des Metallgeländers aufgezogen, so dass sie drehbar sind. Darin eingraviert sind Informationen zur Geschichte von Zyklon B. Um sie zu lesen, müssen die Tuben gedreht werden. Als ich den ersten Tubus drehe, höre ich ein Geräusch, ein leises, Rauschen, das das Lesen begleitet. Es klingt wie Sand, der sich im Innenraum des Tubus mit dreht. Zyklon B wurde als körnerförmiges Material in Dosen verpackt.
Selten habe ich so ein fein durchdachtes Konzept gesehen.
Ich rege mich sofort darüber auf, wie ignorant man damit in dieser Stadt umgeht. Kein Hinweis, keine Erwähnung, damit auch ja niemand was davon mitbekommt und nur die völlig Verrückten auf die Brücke fahren und aktiv danach suchen, nur weil ein paar engagierte Menschen bereit sind, sich seit Jahrzehnten an der institutionalisierten Ablehnung abzuarbeiten und wahrscheinlich auch noch auf eigene Kosten Flyer drucken und in der Touri-Info vorbeibringen. Ich hab sofort den Impuls denen zu schreiben und mich zu bedanken.