August 2015 – Amtsgericht

Ich muss vor Gericht.

Als Zeugin.

Die Hausverwaltung hat dem crazy guy (siehe vorn) gekündigt.

Ich bin ein bisschen aufgeregt. Aber, das muss man sagen, auch sehr gut vorbereitet. Schließlich sehe ich seit frühster Kindheit Gerichtsserien. Zuerst das Bayrische Amtsgericht. Später dann Ally McBeel, Für alle Fälle Amy, Richterin Barbara Salesch, Boston Legal, The Good Wife, Suits, usw. Also wenn einer weiß, wies bei Gericht läuft, dann ich. Ich weiß sehr genau, was passieren kann, mit Zeugen wie mir.

Sie werden unter Druck gesetzt. Sie werden von der gegnerischen Seite bloßgestellt, in Widersprüche verwickelt, ihre Glaubwürdigkeit wird in Frage gestellt. Sie fallen durch geschickte Manipulation der gegnerischen Anwälte ihrem eigenen Narzissmus zum Opfer oder ihrer Naivität und werden somit nutzlos für den Anwalt. Sie brechen heulend im Zeugenstand zusammen oder schlagen schamvoll die Augen nieder, wenn sie am Ende am Anwalt vorbeigehen, dem sie doch eigentlich helfen wollten.

Aber nicht mit mir. Ich versichere mich vorsichtshalber nochmal mithilfe meines Mietvertrags, wo ich eigentlich wohne. Da bin ich mir nämlich nicht so sicher und ich möchte nicht, dass der Anwalt der Gegenseite höhnisch äußert, Entschuldigung, Herr Kollege, aber ihre Zeugin, die weiß ja noch nicht mal wo sie wohnt. Die Sache ist nämlich die: Da es in unserem Haus ein Hochparterre gibt, denke ich immer, ich wohne im fünften Stock. Stimmt aber nicht: Laut Vertrag wohne ich im vierten. Außerdem wohne ich rechts, würde ich sagen. Jedenfalls aus der Subjektive betrachtet,also wenn man den Treppenaufgang zur Wohnung hochgeht. Aber ist die subjektive die offizielle Perspektive? Oder ist die offizielle die, die man hat, wenn man vor dem Haus steht? Dann wohne ich nämlich links.

4.OG re ergibt die Recherche im Mietvertrag. Da kann mir also schon mal keiner was. Und seit wann wohne ich eigentlich hier? Oh Gott, auch das weiß ich nicht. 3 Jahre, 4 Jahre? Auch hier gibt der Vertrag Auskunft: 2011. 4 Jahre?! Ich muss endlich raus aus diesem Loch.

Ein zweites Problem scheint mir zu sein, dass ich nicht Buch geführt habe. Über die Schreierei vom crazy guy. Auf scharfe Nachfragen nach Dauer, Art, Häufigkeit und konkrete Daten der Schreierei kann ich keine adäquate Auskunft geben. Ab und zu mal, manchmal mehr, manchmal weniger, dann mal wieder ne Weile nicht – das sind keine soliden Antworten für ein Gericht. „Ich habe nicht Buch geführt“, höre ich mich trotzig auf die entsprechende Frage antworten, und Trotz kommt gar nicht gut an, vor Gericht. „So? Warum haben Sie denn nicht Buch geführt? Dann kanns ja nicht so schlimm gewesen sein“ Ein wiederkehrendes: Ich kann mich nicht erinnern, ich kann mich nicht erinnern, der Zeugin spielt der Gegenseite in die Hände und lässt die Zeugin, also mich, unzurechnungsfähig wirken. So langsam mach ich mir Sorgen.

Ich scrolle meine alten Mails durch. Da. Vor einem Jahr ist mir tatsächlich mal der Kragen geplatzt. Ich habe eine Mail an den Hausverwalter geschrieben, die Situation geschildert, die so aussah, dass der Schreier 24 Stunden durchgeschrien hatte, und ich (zuhause) arbeiten musste. Außerdem erkläre ich darin, dass die Stimmung im Haus gereizt ist, und dass es zwar verständlich, aber wenig hilfreich ist, dass ein anderer Nachbar jetzt immer über den Hof zurück schreit. Ich habe die Mail mit der Frage beendet, ob er schon mal was unternommen, zum Beispiel den psychosozialen Dienst angerufen hätte. Ach, Herzchen. Gekündigt ham Se ihm. Und das hier ist ne Beschwerde-Mail, mach dir nichts vor. Vielleicht haben sie mich deswegen eingeladen? Und ich muss jetzt den armen Psycho da unten denunzieren? Eine nie abgeschickte Mail an den P.soz.Dienst finde ich auch noch.

Das Amtsgericht an der Littenstraße entpuppt sich zu meiner Überraschug als Riesengebäude mit ehrwürdiger Innenhalle, Böden, die jedem Schritt eine erhabene Wichtigkeit verleihen, und jedes Gespräch zu einem Murmelton herunterdimmen. Außerdem gibts ellenlange Gänge zum Verlaufen. Ich komme gerade noch pünktlich und trete ein. (Steht auf dem Schild an der Tür, dass man das soll).

Es geht um eine Dachrinne. Du liebe Zeit. Da studiert man Jura und dann wälzt man Maschendrahtzaunstreitigkeitsakten zu Dachrinnen. Da hätte ich ja keinen Bock drauf. Trotzdem gefällt mir das alles ganz gut. Die Bänke. Die Robe. Die noch recht junge Richterin mit ihrer strengen Attitüde. Schwarze lange Haare nach hinten. Hager im Gesicht. Vor nicht allzu langer Zeit bestimmt noch eine saugute, ehrgeizige Studentin. Jetzt proud to be a judge. Die Abstraktion. Der Fall. Die Wahrheit. Hier werden die Dinge auf eine andere Ebene gehoben. Man nimmt den Dampf raus. Den emotionalen. Man bezieht sich auf Regeln, auf andere Urteile, auf Kommentare. Am Ende vergleicht man sich meistens. Man strebt eine Einigung vor Gericht an. Auch ein bisschen gesunder Menschenverstand spielt eine Rolle. Aber nach Möglichkeit nicht.

Dann sind wir dran. Zu meiner Überraschung ist auch mein Hausverwalter als Zeuge geladen. Aber klar, er ist ja nicht der Vermieter. Er hat nur die ganzen Beschwerdemails, -anrufe, -whatsapp-Nachrichten und sms bekommen, mit den Schimpfereien, Hetzereien, Mahnungen, Drohungen der Nachbarn.

Die Richterin klärt uns Zeugen auf. Wir müssen die Wahrheit sagen. Ich nicke verständig. Dann schickt sie uns raus, zuerst will sie sich mit den beiden Anwälten besprechen.

Auf der Holzbank (es ist immer eine Holzbank) erzählt mir der Hausverwalter genervt, dass der crazy guy neulich das Fenster im seiner Wohnung eingeschlagen hat, deshalb muss er jetzt nachher auch noch zur Polizei. Ich erschrecke. Hat er sich weh getan? Der HVW zuckt mit den Achseln, scheint die Frage eher irritierend zu finden. Ich denke, vielleicht ist er ja doch gefährlich, der Schreihals. Haben Sie schon mal mit ihm geredet?, frag er mich. Nein, sag ich. Und habe ein schlechtes Gewissen. Guten Tag gesagt hab ich, und er hat immer zurück Guten Tag gesagt. Aber ich hab nie mit ihm geredet. Warum schreist du eigentlich immer so?, hätte ich sagen können. Aber ich fand das nicht angebracht. Was soll er sagen? Weil ich ne Meise hab. Muss ich jemanden dazu zwingen, das zu sagen? Oder ist das nur ein bürgerlicher verkrampfter Scheiß und ein bisschen mehr impulsive Direktheit hätte der Sache gut getan?

Wir werden wieder reingerufen. Es geht los. Ich bin bereit, auszusagen. Ich finde jetzt, in diesem Moment, es steht in keinem Verhältnis, dass 30 Leute leiden, weil einer leidet. ich werde alles erzählen, was ich weiß, meine Eindrücke schildern, offen und ehrlich. Sagen, dass es mir unangenehm ist, gegen so einen armen Tropf auszusagen, aber dass ich es für richtig halte, wenn die Situation geändert wird. Das alles werde ich sagen, in ruhigem Ton, mit kompetenter Stimme.

Die Anwältin bedankt sich bei mir fürs Kommen und erklärt, dass meine Dienste nicht mehr notwendig sind.

Später, auf dem Gang, sprech ich den Anwalt vom crazy guy an. Er ist eine gerichtliche, vom gesetzlichen Betreuer bestellte Vertretung, erklärt er mir. Er hat also einen Betreuer, der Schreihals. Der hat aber einen schlechten Job gemacht bis jetzt. Noch nie habe ich jemanden bei ihm gesehen, nur den Pizza-Jungen oder den Drogendealer. Was passiert jetzt mit ihm? will ich wissen. Er wird geräumt und dann kommt er ins betreute Wohnen. Das ist gut, sage ich. Das ist doch gut. Ich bin erleichtert. Er braucht doch jemanden, der sich um ihn kümmert. Damit er isst und sich wäscht. Er ist nicht mehr allein und man zwingt ihn ein bisschen zu seinem Glück. change can be good. Right?

Alles Gute, crazy guy.