August 2014 – mein Verrückter

hab ich schon mal von meinem Verrückten erzählt?

In Berlin wohnt ja bekanntlich in jedem Haus einer. In meinem auch. (Das liegt an der Armut in dieser Stadt. Und an der Unmöglichkeit aus der Armut rauszukommen. Das ist wie ein Knast. Deshalb macht die Armut verrückt. Ich bin auch schon mal fast verrückt geworden vor Armut.)

Mein Verrückter schreit.

Er schreit laut und durchdringend und so, als sei er vom Dämon besessen.

Als ich ihn das erste Mal gehört habe, vor ungefähr zwei Jahren, kurz nachdem ich eingezogen war, dachte ich, jemand guckt den Exorzist. So klingt das. Man versteht nicht, was er sagt, aber er sagt immer den einen gleichen Satz. Scheint also wichtig zu sein. Immer wieder und wieder den gleichen Satz in der gleichen Intonation. Man weiß nicht, ist es eine Botschaft, ist es ein Fluch, ist es ein Ritual, um den Teufel abzuwehren? Am Anfang hab ich mich furchtbar gegruselt. Das war bevor ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Danach wurde es besser. Aber bevor ich ihn gesehen hatte, dachte ich – denken alle, die ihn zum ersten Mal hinter seiner Tür wüten hören – er ist groß und kräftig, und wenn man an seiner Tür vorbei läuft und er kommt raus und hat ne Axt in der Hand, weil er denkt, man selbst ist der Dämon, dann siehts schlecht aus. Ich hab schon große kerlige Handwerker sich ihre Bohrmaschine zurecht legen sehen, wegen dem.

Bei Licht betrachtet ist er ein verstörter junger  Mann, abgemagert, ungepflegt, mit irrem Blick und weiteren Ticks (zum Beispiel dem, dass er sich an Straßenecken immer rückwärts eindreht wie so ein FBI-Agent). Es gibt so einen Rest in ihm, von dem jungen Mann, der er gewesen wäre. Das ist traurig. Da sieht man noch, was er mal war, was er noch sein könnte, wenn er nicht krank wäre. Ein sanfter, schüchterner, mit sich und der Welt hadernder Junge. Jemand, den man von früher kennen könnte, mit dem man vielleicht befreundet gewesen wäre. Den man dann aus den Augen verloren hätte, von dem man gehört hätte, was ihm widerfahren ist. Eine tragische Existenz. Und doch. Wenn er schreit, scheint er unberechenbar. Man weiß nicht,was er sieht, was in ihm ist, welche Kräfte da toben. Manchmal schreit er monatelang gar nicht. Dann schreit er wochenlang andauernd. Tag und Nacht. Um 4 Uhr morgens oder um 10 Uhr abends oder von 15 Uhr 20 bis 17 Uhr 30. Dann hat er einen Schub und so ziemlich jeder im Haus würde ihn gerne killen. Ich auch. Dann bollert er gegen seine Tür, und die Haustür, mit einer Wucht, dass man staunt, dass er sich nicht die Knöchel bricht. Es ist gruselig und ängstigend wenn er schreit. Und einschränkend. Er setzt in meinem Kopf was frei. Dsa gefällt mri nicht. Er setzt scih rein in meinen Kopf und macht mir Gedanken. Er dringt mit seinem Geschrei bis in meine Träume vor und ich denke, hoffentlich schreit er nicht, wenn ich nachts nach Hause komme, wenn ich an seiner tür vorbei muss, wenn ich arabeiten muss. ich weiß, dass ich ein bisschen bin wie er, ein kleines bisschen. ich kenne diese Verrückt-Hirn-Schranke in meinem Kopf. ich bin selber manchmal unbalanced. Und er steckt mich an, er zieht mich zu sich hin, in seinen Teufelskreis. „Mein Verrückter schreit wieder“, sage ich manchmal. WEnn man ihn öfter sagt, klingt auch dieser Satz gruselig. Ich nehme es sportlich. Ich bin stärker als er. Ich bin auf der sicheren Seite.

Mein Vermieter sagt, er hat ihm gekündigt, Aber „ein Verfahren ist anhängig“. Ich stelle mir vor, ich wäre seine Psychiaterin, seine Anwältin. Sie müssen da nicht raus, Herr B. Sie haben ein Recht auf ihr selbständiges Leben. Machen sie sich keine Sorgen, wir gewinnen den Prozess.

Seit kurzem schreit ein Nachbar von der anderen Seite zurück. Anfangen hat er mit Halts Maul, du Assi. Dann hat er ihn bei seinem vollen Namen genannt, Vorname und Nachname plus Halts Maul und Mach dein Fenster zu. So ging es hin und her über den Hof. Dämon versus gesunder Menschenstammtisch. En Verrückter schreit den anderen Verrückten an. Meine Nachbarin hat irgendwann mal zuraück geschrien: Der ist krank, Mann. Da hat der mit dem gesunden Menschenstammtisch geschrien: Wieso gehstn du nicht zum Arzt, voller Name?

Ist nicht so, dass ich nicht ausziehen würde. Aber Wohnungen für Einpersonenhaushalte sind schwer zu finden und sie sind alle 200 Euro teurer als ich es mir leisten kann.

Seit kurzem hat er den Satz gewechselt. Als es das erste Mal passiert ist, war ich schockiert. In meinem Kopf hab ich nach dem alten Satz gesucht, nach dem Endes des Satzes, denn der neue ist kurz, ganz kurz, vielleicht nur ein Wort, nur noch ein abgehacktes Bruchstück aus dem alten Satz. Das macht mich wahnsinnig. Der Sound stimmt nicht. Da fehlt was. Und ich kann mich nicht mehr an den alten Satz erinnern, obwohl ich ihn zwei Jahre lang so oft gehört habe. Was bedeutet es, dass er jetzt einen anderen benutzt? Braucht er Abwechslung? Hat er den Dämon besiegt und jetzt ist ein anderer dran wie in einem zwei Jahre währenden computerspiel, das nächste Level? Ist er auf dem Weg der Besserung? Ist er auf dem Weg in ein großes Schweigen? In eine Implosion nach innen, statt nach außen?

Manchmal, wenn ich ihm begegne, im Hof oder im Hausflur, grüße ich ihn. Hallo, sage ich. Klar und deutlich. Hallo, sagt er. als wenn nichts wäre.

Wie gesagt, in jedem Haus in Berlin wohnt ein Verrückter. Vielleicht bin’s ja ich.