November 2025 –  Verlorene Tochter

Ah, die verlorene Tochter, scherzt mein Vater, als ich ihn zum Geburtstag anrufe. Die Umkehrung ist so unverschämt, das Missverständnis so groß, dass es mir wie immer die Sprache verschlägt. 

Im Verlauf des Gesprächs erzähle ich ihm beiläufig, dass ich ihm zweimal eine Mail geschrieben habe, frage, ob ihn die erreicht haben. Nein, das vergisst er immer, dass er das überhaupt hat, das Mail. Aber dann kann er da ja mal wieder reinschauen, meint er. 

Im Hintergrund spricht seine Frau, die er immer mithören lässt, bestätigend mit. Ja, du hast Mail, ja, da guckst du manchmal lange nicht rein, genau, da kannst du ja jetzt mal wieder reingucken.

Ein paar Tage später schreibt er mir tatsächlich zurück. Meine Frage war persönlich, sie bezieht sich auf meine Geburt, die ersten sechs Wochen als Säugling und seine Erinnerungen daran.

Er schreibt mir genau das, was er, in den seltenen Momenten, in denen ich danach gefragt hat, schon immer dazu gesagt hat, was ich also schon immer darüber weiß, und was er nun, so scheint es mir, rasch, im Modus des Erledigens, ohne eine Nuance zu verändern,  wiederholt wie einen erlernten Text. Auch diesmal nichts Neues, nichts Anderes. Nichts Persönliches. Doch genau danach habe ich, meinen Mut zusammen nehmend, in diesen seinen späten Jahren noch einmal zu forschen versucht.

Er reicht mich weiter an seine Frau, weil die, wies der Zufall will, den Namen der Klinik kennt, in der ich geboren wurde. Auch das war eine meiner Fragen. Ich versuche, das Gespräch mit ihr knapp zu halten, doch es kommt, wie es immer kommt, am Ende schildere ich ihr auf ihren Vorschlag hin, die damalige Situation und meine Fragen. Denn, so sagt sie, sie könne ja nochmal mit ihm sprechen, vielleicht bekomme sie ja noch etwas aus ihm heraus. 

Er ist zu diesem Zeitpunkt längst wieder in seinem Zimmer verschwunden. Seine Empfehlung, bevor er das Telefon an seine Frau weitergereicht hat, war, einfach ihr eine Nachricht zu schreiben. Eine Empfehlung, die sie jetzt am Ende unseres Gesprächs noch einmal wiederholt: Ich solle doch einfach ihr texten, dass ich ihm eine Mail schicke, bevor ich ihm eine Mail schicke. Denn sie sei ja immer erreichbar.